Cover
Titel
Tränen des Sozialismus. Wohnen in Leningrad zwischen Alltag und Utopie 1917-1937


Autor(en)
Obertreis, Julia
Reihe
Beiträge zur Geschichte Osteuropas 37
Erschienen
Köln 2004: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
XII, 456 S.
Preis
€ 49.90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Sandra Ewans, Berlin

„Die Ohnmacht der Macht war immer auch eine Ohnmacht gegen den Raum, den sie nie in den Griff bekommen hat“, erklärt der Historiker Karl Schlögel zum Untergang der Sowjetunion. 1 In ihrer vor kurzem erschienenen Dissertation macht Julia Obertreis für den Wohnraum ähnliche Beobachtungen: Partei und Staat bekamen selbst den Wohnraum nicht in den Griff.

Als wissenschaftlicher Gegenstand und Schlagwort erlebt Raum gegenwärtig eine Konjunktur, doch bleibt dieser Begriff meist vage. Einerseits ist der Begriff abstrakt, andererseits sehr konkret: Unter Raum können globale und lokale gesellschaftliche Raumordnungen und deren soziale, politische und kulturelle Entwicklung verstanden werden, aber auch ein Zimmer mit vier abgrenzenden Wänden, Boden und Decke. Und obwohl sich im Zusammenhang von Globalisierung und Vernetzung zunehmend geografische Dimensionen auflösen, in virtuelle Sphären übergehen und das Verständnis von Raum, Zeit und Ort verändern, ist es dennoch notwendig, konkrete Orte und Schauplätze zu untersuchen, so, wie Obertreis es in ihrer Arbeit tut.

In der Stalinismusforschung wurde der häusliche Wirkungsbereich bislang weitgehend vernachlässigt. Diesen Missstand will Obertreis mit ihrer Studie beheben. Sie untersucht die vielschichtigen und komplexen Wohnverhältnisse in Petrograd/Leningrad von der revolutionären Umverteilung der Wohnungen in den ersten Jahren nach der Oktoberrevolution bis in die politisch und ideologisch etablierten 1930er-Jahre.

Architektur und Wohnraum waren für das sowjetische Regime ein wichtiges Instrument, um gesellschaftliche Prozesse zu beeinflussen und zu lenken, denn das kommunale Zusammenleben sollte kollektivistische Verhaltensmuster hervorbringen und auf diese Weise die soziale Umwelt des „neuen Menschen” schaffen. Die Wohnungspolitik bestimmte daher auch die Interaktion zwischen dem Staat und seinen Subjekten und diente als Propagandainstrument. Diese politische Seite der Architektur ist bereits in Ansätzen in neueren architekturgeschichtlichen Untersuchungen dargestellt worden.2 Obertreis will darüber hinaus „Wohnpolitik, utopische Entwürfe für kollektives Wohnen, tatsächliche Wohnverhältnisse und häusliche Lebenswelten” (S. 4) erforschen; sie will eine „Kultur- und Alltagsgeschichte“ schreiben, „die das Politische ernst nimmt” (S. 19).

Ihre Untersuchung bewegt sich dabei auf drei Analyseebenen: der Wohnungspolitik des Regimes mit seinen lokalen und zentralen Instanzen, der propagierten Visionen der neuen kollektiven häuslichen Lebensweise und der tatsächlichen Lebens- und Wohnverhältnisse vor Ort. Das Herzstück ihrer Studie ist die Mikroanalyse einer Wohngenossenschaft, die ein Mietshaus im Zentrum von Leningrad verwaltete. Mit einer großen Vielfalt an unterschiedlichen Quellen, wie Gesetzestexten, behördlichen Schriftwechseln, Sitzungsprotokollen Oral-History-Interviews gelingt es ihr, einen einzigartigen Einblick in die Welt der Hausbewohner zu geben.

Im ersten Kapitel („Neues Wohnen“) wird die Umverteilung von Wohnraum und die Wohnpolitik der 1920er und 1930er-Jahre ausführlich dargestellt. Dabei sind für die Autorin gerade die Wohngenossenschaften (Schakty), die zu Beginn der 1920er-Jahre als Mittelinstanz zwischen dem Regime und den einzelnen Hausbewohnern entstanden und mit deren Einrichtung die Bewohner selbst die Verwaltung der Häuser übernahmen, von besonderer Bedeutung. Wiederholt wurde in offiziellen Kreisen diskutiert, wie viel Verantwortung und Selbstständigkeit den Wohngenossenschaften zugestanden werden konnte, denn diese ließen sich nur schwer kontrollieren.

Im Allgemeinen herrschte Misstrauen in den staatlichen und städtischen Behörden gegenüber den Wohngenossenschaften, und das nicht zu Unrecht: Es kam durchaus vor, dass Mitglieder von Hausverwaltungen Wohnraum an Wohlhabende oder Baumaterial, das eigentlich für hauseigene Reparaturen und Renovierungen bestimmt war, auf dem freien Markt verkauften. Dass diese Wohngenossenschaften bis 1937 existierten, bezeichnet die Autorin als ein „unbeachtetes Fortdauern der NEP im Wohnwesen” (S. 407).

Darüber hinaus macht Obertreis eine weitere Beobachtung: Obwohl sich die Aufgaben der Vorstände meist „auf die Verwaltung und Instandhaltung der Immobilie, nicht aber auf die ,Revolutionierung‘ der ,häuslichen Lebensweise‘“ (S. 186) konzentrierten, kamen in den Häusern dennoch kleine Foren zustande, auf denen die offizielle Politik rezipiert wurde.

Das zweite Kapitel („Neue Ordnung“) beschäftigt sich mit den Wechselwirkungen zwischen Wohnpolitik, Wohnverhältnissen und der Hausverwaltung einerseits und der Leningrader Gesellschaft andererseits. Von Wohnprivilegien als Instrument zur Formung der Gesellschaft und der daraus folgenden Herausbildung der gesellschaftlichen Stratifikation gelangt die Autorin zu einer weiteren signifikanten politischen Auswirkung der Wohnverhältnisse: mit den Ausquartierungen von 1929-30 begannen die Säuberungskampagnen im Wohnbereich. Obertreis stellt Verhaftungen, Verbannungen und Erschießungen in einen Zusammenhang mit Wohnraummangel.

Und sie geht in diesem Kapitel auf ein weiteres wenig erforschtes Phänomen der Sowjetunion ein: die Kommunalwohnung, die sie als zufällige Sozialisierungsinstanz bezeichnet. Obertreis hebt zwar hervor, dass die Kommunalwohnung weder ideologisch motiviert noch ein direktes Produkt der Wohnungsumverteilung war. Dennoch wird die Kommunalwohnung als Medium der Sozialisierung und soziokultureller Raum, in dem die Mehrheit der urbanen Sowjetbürger ihren eigentlichen Alltag erlebt hat, nur begrenzt thematisiert.

Im dritten Kapitel („Neues Haus“) folgt die bereits erwähnte Mikrostudie. Sie soll u.a. zeigen, inwieweit die „Mikro- mit der Makrogeschichte übereinstimmt“. Die Hausbewohner wurden in „alte“ bürgerliche Bewohner, in „neue“ proletarische Bewohner und in solche eingeteilt, die eigentlich zu den „alten“ Bewohnern gehörten, es jedoch geschafft hatten, sich in der neuen Welt zurechtzufinden. Es wird nicht nur deutlich, dass es keine einheitliche Rezeption der „neuen Lebensweise” gab, sondern auch, dass im Vergleich zur „alten Hausgemeinschaft”, die die Belange der Bewohner respektierte und sie vor dem Staat und dessen Politik schützte, die neue politisierte und ideologisierte „Hausöffentlichkeit” von den Bewohnern selbst in die Kommunalwohnungen gebracht wurde: „Die neue „Hausöffentlichkeit“ entstand nicht durch die Teilnahme an von oben verordneten, kulturpolitischen Kampagnen, sondern durch die Übernahme von Diskurs-Fragmenten und den Bezug auf die offizielle Politik dort, wo ihre Ziele mit den materiellen Interessen der Menschen übereinstimmten.” (S. 337)

Im vierten und letzten Kapitel („Neuer Mensch“), schildert Obertreis das Scheitern der Hauskommune, der utopischen Verkörperung sozialistischen Wohnens. Aufgrund der wirtschaftlichen Krise und des Mangels an Ressourcen für den Bau neu entwickelter Wohnmodelle wurden wohnungspolitische Prioritäten, wie beispielsweise die Hauskommune, in den Hintergrund gedrängt und die Provisorien wie die Kommunalwohnung zum Dauerzustand gemacht.

Obertreis grundlegende These lautet, dass in der Sowjetunion Anspruch und Wirklichkeit der propagierten „neuen sozialistischen Lebensweise“ im häuslichen Bereich generell nicht übereinstimmten. In den 1920er und 1930er-Jahren entstand eine Eigendynamik unter den im Wohnraum agierenden Subjekten, die vom Staat nicht zu steuern war. In ihrer Betrachtung des sowjetischen Alltags bleibt Obertreis jedoch an der Zimmertür stehen und dringt nur bedingt in den privaten Raum der Bewohner ein. Dennoch leistet sie mit ihrer Studie nicht nur einen überaus wertvollen Beitrag zur kulturhistorischen Stalinismusforschung, sondern auch zum Thema „Wohnraum und Subjektivität“.

Anmerkungen:

1 Schlögel, Karl, Im Raume lesen wir die Zeit. Über Zivilisationsgeschichte und Geopolitik, München 2003.
2 Bodenschatz, Harald; Post, Christiane (Hgg.), Städtebau im Schatten Stalins. Die internationale Suche nach der sozialistischen Stadt in der Sowjetunion 1929-1935, Berlin 2003.

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