K.-H. Ziessow (Hg.): Frühe Neuzeit

Titel
Frühe Neuzeit. Festschrift für Ernst Hinrichs


Herausgeber
Ziessow, Karl-Heinz
Reihe
Studien zur Regionalgeschichte 17
Erschienen
Anzahl Seiten
480 S.
Preis
€ 34,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Heinz Noflatscher, Geschichte der Neuzeit, Universität Innsbruck

Ernst Hinrichs ist vor allem für seine Einführung in die Geschichte der Frühen Neuzeit und seine Forschungen zur Verfassungs- und Sozialgeschichte Frankreichs im 17. und 18. Jahrhundert, zur deutschen Aufklärung sowie im Zusammenhang mit der Absolutismusdebatte bekannt. Vermutlich weniger geläufig sind sein Engagement in der nordwestdeutschen Regionalgeschichte und Internationalen Schulbuchforschung, sowie seine Studien zur Literarisierung am Ende des Ancien Régime, die wiederum aus seinem Forschungsinteresse zu Frankreich entstanden sind. Nicht zuletzt in der Alphabetisierungsforschung hat Hinrichs Pionierarbeit geleistet.1 Diesen Forschungsfeldern ist auch die Festschrift mit ihren 19 Beiträgen gewidmet, deren Schwerpunkte die nordwestdeutsche „Regionalgeschichte“, „Alphabetisierung und Historische Demographie“, „Die europäischen Mächte“ sowie „Geschichte und ihre Vermittlung“ bilden. In der Einführung heben die Herausgeber nach etwas langen Ausführungen zur Frühen Neuzeit als Epoche die „europäische Perspektive und regionale Verankerung“ (S. 25) von Ernst Hinrichs hervor, der bis zu seiner Emeritierung 2003 vor allem an der Universität Oldenburg gewirkt hat. Heinrich Schmidt eröffnet die Reihe der Beiträge mit der souveränen Analyse eines Kopialbuches des Kirchspiels Zwischenahn und führt dicht beschreibend in die religiöse Lebenswelt einer ländlichen Lokalgesellschaft um 1500 ein. Auch diese Agrargemeinde erwies sich angesichts der ökonomischen Konjunktur am Vorabend der Reformation gegenüber ihren Schutzpatronen und „Heiligenleuten“ als großzügig. Wie vielerorts sonst drohte ebenso in der Zwischenahner Kirche den Besuchern ein „Jüngstes Gericht“ entgegen. Ob das höllenprangende Sujet nicht doch mehr klerikalem Bemühen als der Initiative der ja prosperierenden Bauern entsprang, wäre diskutierenswert.

Adelige Lebenswelten in Nordwestdeutschland untersucht der Beitrag von Christoph Reinders-Düselder. Der Autor stellt sie in den Kontext ständischer Freiheiten, damit verbundener Handlungsspielräume und konfessionspolitischer Orientierungen. Er vergleicht Attribute adeliger Existenz und deren pädagogische Praxis. Die Ausbildung eines Teils auch des ostfriesischen Adels im thüringischen Schnepfenthal unter Christian Gotthelf Salzmann überrascht.

Norbert Winnige analysiert umfassend Kreditsysteme vor allem am Beispiel der Territorialstädte Göttingen und Hannover sowie der Herrschaften Calenberg beziehungsweise Kurhannover von der Mitte des 17. bis in die Mitte des 18. Jahrhunderts. Der mikrohistorische Ansatz erlaubte es, nicht nur die unterschiedlichen Kreditformen, die Kontakte zwischen Schuldnern und Gläubigern, sondern auch die Kreditbeziehungen zum agrarischen Umfeld mit zu untersuchen. Den Kreditbedarf der landesfürstlichen Finanzen hatte zeitüblich der risikobereite Hoffaktor zu befriedigen.

Helmut Ottenjann hebt in seinem Beitrag zur ländlichen „Identitätskultur“ in der Weser-Ems-Region die „jahrzehntelange optimale Kooperation“ (S. 93) zwischen dem Museumsdorf Cloppenburg und Ernst Hinrichs hervor. Dessen Forschungsschwerpunkte (innerhalb seines regionalhistorischen Ansatzes) hätten sich mit den Interessen des Museums als kongenial erwiesen. Politisch motivierte Petitionen vor allem von Städten und Landgemeinden an den Großherzog und Landtag von Oldenburg im 1848/49er-Jahr untersucht Albrecht Eckhardt. Der vergleichsweise friedliche Verlauf der Revolution führte bereits im Februar 1849 zu einem fortschrittlich-liberalen Staatsgrundgesetz.

Reiner Prass vergleicht den besonderen Stellenwert des Lesens im Jansenismus und Pietismus. In Frankreich hatte der Jansenismus gegen das Verbot der Bibellektüre (vor allem für Frauen) zu kämpfen, das die Bulle „Unigenitus“ 1713 auferlegt hatte. Freilich wandte sich 1742 auch Preußen gegen die Abhaltung von Erbauungsstunden in Privathäusern. Insofern wäre für die europäische Alphabetisierung erneut gerade nach den retardierenden Kräften zu fragen.2 Aus dem genannten religiösen Lese-Engagement entwickelte sich in Frankreich ein „weitgehenderes, politisches Leseinteresse“ (S. 164).

Wie Norbert Winnige und Reiner Prass hat sich auch Andrea Hofmeister in einem Projekt der Volkswagen-Stiftung mit der Signierfähigkeit und Alphabetisierung vor allem im Königreich Westphalen (1807-13) befasst.3 Nicht zuletzt aufgrund ihrer intensiven Quellenkenntnis konnte Hofmeister einen Überblick zur Elementarbildung von Frauen in der Frühen Neuzeit gut wagen. Dazu wurden insbesondere Bildungsdiskurse, Alltagsanforderungen und Orte des Lernens untersucht. Es überrascht zunächst die Bildungsfeindlichkeit von maßgeblichen Aufklärern - von Rousseau bis Campe - gegenüber Frauen, was aber ebenso der ‚aufgeklärten’ Verfassungspraxis entsprach. Möglicherweise waren in der Frühen Neuzeit die geschlechterspezifischen Unterschiede im primären (nicht im sekundären) Analphabetismus doch etwas weniger gravierend.

Darauf weist auch der Beitrag von Peter Albrecht hin, der für eine besonders quellenbegünstigte Phase, die Zeit der französischen Okkupation im Jahr 1811 das niedere Schulwesen in der Stadt Braunschweig untersucht. Waren die Geschlechterverhältnisse der Schüler- beziehungsweise LehrerInnen in etwa gleich verteilt, so setzten bekanntlich in den Gymnasien die frauenspezifischen Barrieren ein. Jürgen Schlumbohm relativiert in seinem Aufsatz zu „Familienformen und demographischem Verhalten“ bisherige etwas „starre“ Forschungsthesen, wonach die Familienverfassung die Bevölkerungsweise bestimme und diese ein wichtiger Faktor für ökonomisches Wachstum sei. Er empfiehlt „flexible Strategien“ (S. 227), welche die Makro-Ebene mehr von der Mikro-Ebene her rekonstruieren.

Rudolf Vierhaus eröffnet den mehr europa- und machtpolitischen Schwerpunkt der Festschrift mit einem Beitrag zu Friedrich II. von Preußen, dessen Regierungspraxis er auf der Folie der Aufklärung relativiert. Ungeachtet beträchtlicher Distanz („rabiate staatsegoistische Politik“, „stets von seiner Seite begonnene Kriege“, S. 237f.) erscheint dem räumlich entfernten Leser der biografische Essay dennoch als tendenziell heroisierend, eine unausweichliche Wirkung des Genius loci im Friedrichdiskurs?

Dorothea Zöbl interessiert monarchisches Regieren im Spannungsfeld zwischen Architektur und Zentralverwaltung, zwischen 1650 und 1750 in Berlin und Potsdam. Der Beitrag beschreibt den Prozess der absoluten, räumlichen Distanzierung des Fürsten von seinen ausführenden Stellen hin zum „Volk“. Als deren schillernder Höhepunkt erscheint das periphere Sanssouci, als Beispiel einer offenen Residenz, wenn diese auch beinahe „unsichtbar“ (S. 266) der Landschaft eingefügt war.

Als nur zunächst kühn wirkt der biografische Vergleich Friedrichs I. von Preußen mit Christian Eberhard von Ostfriesland durch Sybille Brüggemann. Nicht nur der Machtbereich, auch die Ausbildungswege, der Beginn ihrer Herrschaft, die Beziehung zu den Ständen und so fort waren in der Tat beträchtlich verschieden. Aber bereits der Große Kurfürst hatte sich um den Erwerb Ostfrieslands mit entsprechenden Einflussnahmen auf die Stände bemüht. Die Problematik bestimmte die wechselseitigen Kontakte beziehungsweise Konflikte (unter dem Deckmantel der Standessolidarität) wesentlich.

Markus Dauß untersucht Konjunkturen der Statuen absolutistischer Fürsten im Paris und Berlin vor allem des 19. Jahrhunderts, er beginnt den Beitrag mit einer Performance von Gillys „Friedrich Monument“ zum „Abziehbild“ durch Andy Warhol. Bemerkenswert sind auch die unterschiedlichen Phasen besagten „Abziehens“ in Berlin und Paris. Der Aufsatz von Angela Taeger fragt nach Verbindungen zwischen Antoinette, Messalina, Brunhilde, Fredegunde und Katharina, somit auch nach dem alten Thema des weiblichen (oder männlichen) Parts – diesmal bezogen auf die peniblen Fragen der Revolution, ob es denn Zusammenhänge zwischen dem Verfall der Männlichkeit von Louis XVI und dem Integritätsverlust der Monarchie gebe.

Klaus Zernack schreibt über „Brennpunkte europäischen Geistes“, das Beziehungsgeflecht der Universitäten und Akademien im imperialrussischen Nordosteuropa der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Karl-Heinz Ziessow untersucht die erste maßgebliche Biografie zu Peter dem Großen aus der Hand Gerhard Anton von Halems von 1803, der sich dabei auf großzügige Kooperation Ludwig Schlözers stützen konnte.

Die beiden letzten Beiträge entsprechen dem geschichtsdidaktischen Interesse von Ernst Hinrichs, insbesondere seiner Zeit als Direktor des Georg-Eckert-Instituts für Internationale Schulbuchforschung in Braunschweig. Bernd Mütter stellt das Konzept ‚seiner’ Angewandten Geschichtswissenschaft vor, der Vermittlung von Historie durch Histourismus, durch Bildungsfahrten, insbesondere am Beispiel Ostwestfalens. Rolf Wernstedt, damals Niedersächsischer Kultusminister, skizziert didaktische und öffentliche Perspektiven der Regionalgeschichte.

Die Festschrift vermittelt nicht nur einen vertieften Einblick in das frühneuzeitliche Forschungsfeld des Gratulanten, sondern auch in die Geschichte Nordwestdeutschlands, die von Hinrichs stets paradigmatisch interpretiert worden ist.

Anmerkungen:
1 Zuletzt: Hinrichs, Ernst; Winnige, Norbert, Schulwesen, Alphabetisierung und Konfession in der Frühen Neuzeit. Thesen und empirische Befunde, in: Schilling, Heinz; Marie-Antoinette Gross (Hgg.), Im Spannungsfeld von Staat und Kirche. „Minderheiten“ und „Erziehung“ im deutsch-französischen Gesellschaftsvergleich 16.-18. Jahrhundert, Berlin 2003, S. 215-231. – Eine Projektpräsentation in: http://www.gwdg.de/~nwinnig/.
2 Noflatscher, Heinz, Kommunikation und Alphabetisierung in Österreich in der Frühen Neuzeit – eine Standortbestimmung, in: Jahrbuch für Kommunikationsgeschichte 5 (2003), S. 1-28.
3 Vgl. Anm. 1.

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