U. Goerlitz: Humanismus und Geschichtsschreibung

Titel
Humanismus und Geschichtsschreibung am Mittelrhein. Das 'Chronicon urbis et ecclesiae Maguntinensis' des Hermannus Piscator OSB


Autor(en)
Goerlitz, Uta
Reihe
Frühe Neuzeit 47
Erschienen
Tübingen 1999: Max Niemeyer Verlag
Anzahl Seiten
XVI + 525 S.
Preis
€ 113,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Harald Müller, Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin

Nicht nur in der Phantasie Umberto Ecos kommt überraschenden Handschriftenfunden eine Schlüsselrolle zu, auch geschichtswissenschaftliche Dissertationen profitieren bisweilen von ihnen. So im Falle der vorliegenden Untersuchung von Uta Goerlitz über die Mainzer Chronik des Hermann Piscator. Zu Beginn der 1980er Jahre hatte Franz Staab in München eine weitere Handschrift des um 1520 entstandenen Werks ausfindig gemacht und damit nicht nur eine Neubewertung der Überlieferungssituation ermöglicht, sondern auch den Anstoß zu einer eingehenden Quellenanalyse gegeben. Die Entstehungszusammenhänge der Chronik weisen in das Mainz des Erzbischofs Albrecht von Brandenburg (1514-1545). Um den bekannten Mäzen scharten sich Humanisten von Rang, darunter zeitweise Ulrich von Hutten, aber auch Benediktinermönche wie Wolfgang Trefler aus St. Jakob in Mainz; enge Kontakte bestanden ferner zu den mittelrheinischen Klöstern, zu Johannes Trithemius in Sponheim oder Johannes Butzbach in Maria Laach. Angesichts dieses geistigen Umfelds drängt sich die Frage geradezu auf, ob Piscators Chronicon Spuren einer humanistischen Neukonzeption in der Historiografie aufweist. Die Verfasserin widmet sich daher in wohlüberlegter Weise der Arbeitstechnik des Chronisten, besonders den verarbeiteten Quellen und - wichtiger noch - der Spezifik der Quellenverwendung. Die Studie liefert damit auch einen Beitrag zur Erforschung des sogenannten 'Klosterhumanismus', der Rezeption humanistischer Gedanken in den durch strikte Lebensnormen geschützten Rückzugsbereichen organisierten christlichen Lebens an der Wende zur Neuzeit.

Die Chronik des Hermann Piscator, Mönch im Mainzer St. Jakobs-Kloster, ist die Frucht wissenschaftlicher Korrespondenz, in der Piscator und sein ungleich bekannterer Johannisberger Mitbruder Peter Slarpius (Schlarpf) oder Sorbillo über die Ursprünge der Mainzer Geschichte sinnierten. Ein Brief an Slarpius von 48 Quartseiten diesbezüglich bildet den Keim der ausgearbeiteten Chronik, die über die Mainzer Gründungsfragen allerdings weit ausgreift. Überliefert ist Piscators Werk in zwei umfangreicheren Handschriften des 16. Jahrhunderts, die jedoch bereits mit dem Jahr 1009 abbrechen. Hinzu gesellen sich einige kleinere Fragmente, unter denen eine heute in Würzburg aufbewahrte Handschrift besondere Aufmerksamkeit beanspruchen kann, scheint sie doch aus dem Original geschöpft zu sein und den Text in einer späteren Überarbeitung zu zeigen als die beiden ausführlicheren Fassungen. Der überlieferungsbedingt begrenzte Berichtszeitraum der Chronik verhindert einen Blick auf Piscators Wahrnehmung zeitgenössischer Ereignisse; umso mehr treten Fragen der Textstruktur und des Umgangs mit Quellen in den Vordergrund.

Der Benediktiner entwirft ein historisches Panorama in zwei Teilen. Dem Nachweis der Mainzer Frühgeschichte und der Altertümer der Stadt folgt eine regional aufgeweitete, chronologisch angeordnete Stadtgeschichte. Dabei sind drei interne Gliederungsprinzipien miteinander verwoben. Während der Chronist sich im ersten Teil zunächst der traditionellen Einteilung in sechs Weltalter bedient, strukturiert er den zweiten strikt nach Inkarnationsjahren, greift also das seit dem Florentiner Leonardo Bruni (+ 1444) als humanistisch geltende annalistische Schema auf. Der Lauf der Jahre ist zudem in Einheiten von je 100 zusammengefasst - ein kulturhistorisches Nebenergebnis der Studie, das eigens herausgestellt zu werden verdient. Denn bislang galt Matthias Flacius (Illyricus) als "Erfinder" der Epochengliederung nach Jahrhunderten, die namengebend für die 'Magdeburger Zenturien' war. Uta Goerlitz kann nun nicht nur nachweisen, dass Hermann Piscator bereits vor Flacius centenarii verwendete, sie macht plausibel, dass Flacius die Anregung sogar aus dem Mainzer Chronicon erhalten haben könnte. Denn die Münchener Abschrift des Textes dürfte 1553 in der Bibliothek des Pfalzgrafen Ottheinrich angefertigt worden sein, jener Büchersammlung, deren Bestände nachweislich auch Matthias Flacius benutzte.

Doch zurück zu Piscator und seinen Quellen. Er selbst verweist auf mehr als 100 Autoren, deren Werke er kompiliert habe; doch nicht immer sind seine Angaben verlässlich. Wenn er sich etwa auf Flavio Biondos Dekaden beruft, benutzt er eigentlich deren Überarbeitung aus der Feder Enea Silvio Piccolominis. Auch gibt er, wie die Untersuchung eindrucksvoll zeigt, bei weitem nicht alle konsultierten Autoritäten an. Mit Recht plädiert die Verfasserin dafür, es bei der Werkanalyse nicht mit einer Liste der verwendeten Quellen bewenden zu lassen. Dass ein Biondo, Ekkehard von Aura, Vinzenz von Beauvais, aber auch Tacitus, Florus, Strabon oder zeitgenössische Historiografen wie Johannes Trithemius (+ 1516) zu Rate gezogen wurden, ist sicherlich wichtig. Den ungleich aufschlussreicheren Blick in die Werkstatt eines frühneuzeitlichen Chronisten vermittelt aber die Frage, wie diese Texte verarbeitet wurden; dies bildet auch das Herzstück des vorliegenden Bandes.

Es zeigen sich Leitquellen wie Sigebert von Gembloux und der Mainzer Historiograf Johannes Hebelin von Heimbach (+ 1515), aus denen Piscator ausgiebig schöpft. Stets ergänzt er aber diese Kronzeugen aus der Lektüre anderer Autoren, korrigiert sie mitunter sogar. Das benutzte Material musste dazu einer kritischen Sichtung unterzogen werden, in welcher die zweckorientierte Textauswahl ebenso eine Rolle spielt wie Fragen der chronologischen und der sachlichen Zuverlässigkeit. Das Chronicon ist also im Wesentlichen Produkt bewusster Entscheidungen für und gegen parallele Textzeugnisse. Mit chirurgischer Präzision arbeitet Uta Goerlitz Piscators Vorgehensweise heraus. Der Benediktiner erweist sich dabei als scharfsichtiger Kompilator, der weder in der bloßen Textmontage verharrt noch sich bedingungslos der Panegyrik verschrieben hat. In beispielhafter Weise offenbart sich seine Grundhaltung im Umgang mit dem Werk seines berühmten Ordensbruders und Zeitgenossen Johannes Trithemius. Dessen Sponheimer Chronik bot ihm inhaltliche und formale Orientierung, denn Trithemius' Mischung aus Gesta abbatum, Chronik und Dokumentensammlung war auch für eine Mainzer Stadt- und Kirchengeschichte konzeptionell verwendbar. Doch Piscator folgte dem gelehrten Abt nicht blindlings. Die drastische Verlängerung der Mainzer Erzbischofsliste, die Trithemius in seiner 1516 verfassten Vita des Erzbischofs Maximinus präsentiert hatte, um den Glanz der Mainzer Kirche in vor-bonifatianischer Zeit aufzupolieren, kritisierte Piscator und ignorierte sie letztlich ebenso wie die bekannten historiographischen Hunibald- und Meginfrid-Fiktionen des Abtes zur vor- und frühfränkischen Geschichte. Er erweist sich damit als erstaunlich unabhängiger Geist, der zwar bekannten Schemata verpflichtet ist, zugleich jedoch manch Ungewöhnliches, Neues bietet.

Deutet sich damit eine historiografische Wende auch hinter den dicken, traditionsbewehrten Klostermauern an? Die Frage wird nicht explizit formuliert, doch sie drängt sich auf. Der im Titel postulierte Konnex von Humanismus und Geschichtsschreibung wird hier exemplarisch an einer im Kloster entstandenen Chronik geprüft, und die Autorin verweist mehrfach auf die Bedeutung der Kontakte zwischenmönchischen und zwischenklösterlichen Kontakte sowie auf den allgemein bildungsfördernden Einfluss der Bursfelder Kongregation, der neben dem Jakobskloster Piscators u.a. auch Butzbachs Maria Laach und Trithemius' Sponheim angehörten. Sie suggeriert damit, dass humanistische Prinzipien der Geschichtsschreibung auch im Mönchtum verankert waren, das immer noch in erheblicher Quantität für historiografische Werke verantwortlich zeichnete. Sprachlich dokumentiert sie diese Zuordnung mit der durchgängig verwendeten Bezeichnung des Hermann Piscator als 'Benediktinerhumanisten'. Sie schafft damit jedoch eine eigentümliche Ambivalenz, denn der engen begrifflichen Charakterisierung ihres Helden steht die betonte Ablehnung gegenüber, der Untersuchung einen definierten Humanismus-Begriff zugrunde zu legen. Die Verfasserin entscheidet sich für eine streng induktive Vorgehensweise, um "hinsichtlich der Ergebnisse nicht durch einen undifferenziert statisch vorgegebenen Humanismusbegriff von vornherein weitgehend festgelegt" zu sein (S. 23). Dies hat zweifellos seine methodische Berechtigung, führt andererseits aber zu Problemen bei der Bewertung der Ergebnisse. Nur bedingt ist dies der Autorin anzulasten. Ihr Zögern, sich für einen klar umrissenen Humanismus-Begriff zu entscheiden, resultiert in nicht unerheblichem Maße aus dem schlichten Fehlen eines solchen allgemein akzeptierten, verlässlich bestimmten Definitionsansatzes in der einschlägigen Forschung. Zwar hat sich weitgehend - und im Kern auch bei Goerlitz - die seit den 1960er Jahren von Paul Oskar Kristeller vorgetragene Auffassung durchgesetzt, die den Humanismus vorrangig an den in den Studia humanitatis vermittelten Kanon der Grammatik, Rhetorik, Poetik, Geschichte und Moralphilosophie bindet. Dies scheint aber gleichsam nur ein kleinster gemeinsamer Nenner zu sein, dessen Ausrichtung klarer in Richtung Sprachbeherrschung weist als auf ein umfassendes gestaltendes Prinzip, in dem sich ästhetische Motivation und kognitives Konzept verbinden.

Der Verzicht der Autorin auf eine (hilfsweise) Spezifizierung des von ihr verwendeten Humanismus-Begriffs führt dazu, dass am Ende auch dem Leser für eine Einordnung der Beobachtungen weitgehend der Maßstab fehlt. Piscators abwägende Verwendung der Quellen und die annalistische Gliederungsweise rücken sein Werk in die Nähe damals moderner Konzeptionen. Der als Charakteristikum humanistischer Historiografie erkannte Trend zur Innerweltlichkeit statt zur Heilsgeschichte lässt sich bei Piscator ebenfalls entdecken. Er bleibt dem universalgeschichtlichen Modell weitgehend treu, verbannt aber erstaunlicherweise das Papsttum als Zentralmacht aus seinem Blick. Traditionelle historiografische Schemata wie die Lehre von den vier Weltreichen geraten durch Betonung der Translatio imperii verstärkt in den Kontext aufblühenden nationalen Bewusstseins, das dem Humanismus nicht weniger wesenseigen ist. So überzeugt das Fazit, die vorliegende Chronik sei "ein wertvolles Zeugnis humanistischer und zugleich mittelrheinisch-benediktinischer Historiographie" (S. 395) auf der Höhe der Zeit - allein: es hängt ein wenig in der Luft.

Die mustergültige, bis in die Indizes hinein akribische Arbeit weckt zwei Wünsche. Zum einen, dass sich die Forschung anderen historiografischen Werken aus vergleichbarem Entstehungszusammenhang mit derselben Intensität annehmen möge, um Vergleichbarkeit herzustellen. Denn nur auf breiterer Basis sind auch Erkenntnisse zu über-individuellen Rezeptionsvorgängen zu gewinnen, lassen sich Hülsen wie 'Kloster-' oder gar 'Benediktinerhumanist' mit Inhalt füllen. Zum anderen muss die Humanismusforschung solche Untersuchungen begleitend in eine stärkere Konturierung ihres Forschungsgegenstands übersetzen, sie muss Charakteristika und Maßstäbe entwickeln, die es erlauben, Detailbeobachtungen einzuordnen in den Kosmos der Diffusion humanistischer Techniken und Gedanken in die Lebenswelten um 1500.

Redaktion
Veröffentlicht am
Beiträger
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension