Simon-Dubnow-Institut Jahrbuch II 2003

Cover
Titel
Jahrbuch des Simon-Dubnow-Instituts II.


Herausgeber
Simon-Dubnow-Institut für jüdische Geschichte und Kultur; Universität Leipzig
Erschienen
Anzahl Seiten
599 S.
Preis
€ 68,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Stefan Troebst, Geisteswissenschaftliches Zentrum Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas (GWZO), Universität Leipzig

Zentrales Anliegen des Jahrbuchs des Leipziger Simon-Dubnow-Institut für jüdische Geschichte und Kultur ist, so Dan Diner 2002 im Editorial zum ersten Band, die “Auflösung jener eingeschliffenen Trennung von sogenannter ‚allgemeiner‘ Geschichte einerseits und ‚jüdischer‘ Geschichte andererseits”. Was im Band I am Beispiel jüdischer Selbstorganisationsformen, den Juden im Rumänien des 19. Jahrhunderts, im Polen der Zwischenkriegszeit und zahlreichen weiterer Fallbeispielen exemplifiziert wurde, wird im zweiten Band eindrucksvoll vor allem am sephardischen Judentum Südosteuropas sowie am jüdischen Odessa demonstriert. Der Themenblock “Zwischen Triest, Saloniki und Odessa – über balkanische und angrenzende Judenheiten” versammelt sechs Beiträge zur Vor-Holocaust-Epoche, in denen die Geschichte der Juden der südosteuropäischen Teilen der Habsburgermonarchie, des Zarenreiches und des Osmanischen Reiches behandelt werden. Der umfangreiche, von Guido Hausmann editorisch verantwortete Teil “Das jüdische Odessa” besteht aus elf Aufsätzen zu den jüdischen Anteilen an der Gesellschaftsgeschichte der 1794 gegründeten Schwarzmeermetropole. Autoren sind in allen Fällen einschlägig spezialisierte Experten, darunter Koryphäen wie Esther Benbassa und Steven J. Zipperstein, und nahezu sämtliche Beiträge sind aus den Quellen erarbeitet. Das Dinersche Postulat einer Verknüpfung von “jüdischer” mit “allgemeiner” Geschichte haben sie alle in nachgerade mustergültiger Form umgesetzt, wie überdies etliche Aufsätze komparative Ansätze beinhalten. Der Hinweis auf Matthias Stadelmanns musikpolitische Untersuchung “Von jüdischen Ganoven zu sowjetischen Helden – Odessas Wandlungen in den Liedern Leonid Utesovs” sowie auf Patricia Herlihys vergleichende Skizze “Port Jews of Odessa and Trieste – A Tale of Two Cities” soll dies pars pro toto belegen.

In einer neuen Jahrbuchrubrik “Jüdische Historiker” analysiert Michael G. Müller die Konzeption einer polnisch-jüdischen Geschichte des 1942 im Ghetto umgekommenen Historikers Majer Balaban, welche die Vision einer jüdischer Gesellschaft und Kultur in der polnischen beinhaltete, während der Teil “Aus der Forschung” diesmal drei Beiträge zur Rechtsstellung von Juden im Heiligen Römischen Reich enthält. Im Abschnitt “Diskussion” zeichnet John D. Klier die Debatten nach, welche die Veröffentlichung von Aleksandr Solženicyns zweibändiger russisch-jüdischer Chronik Dvesti let vmeste (1795-1995) (dt.: Zweihundert Jahre zusammen 1975-1995) seit 2001 in der russländischen Öffentlichkeit gezeitigt hat, und im “Dubnowiana”-Teil skizziert der Petersburger Historiker Viktor E. Kel’ner die Formierung der politischen Anschauungen Simon Dubnows um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert.

Die Rubrik “Literaturbericht” enthält diesmal einen Essay von Joachim Schlör, der mit “Das Haus des Albaners‘ – Ein Kaleidoskop der jüdischen Historie und Erinnerung Südosteuropas” überschrieben ist und durch eine von Reet Schmidt zusammengestellte sowie deutsche, englische und französische Titel erfassende “Auswahlbibliographie zur modernen Geschichte der Juden Südosteuropas (Publikationen der Jahre 1990-2002)” ergänzt wird. An dem umfangreichen Text von Schlör fällt eine seltsame Uninformiertheit bezüglich der gut eingeführten geschichtsregionalen Konzeption Südosteuropa auf, wie sie hierzulande Mathias Bernath begründet und Holm Sundhaussen ausgebaut sowie unlängst in einer fruchtbaren Debatte mit Maria Todorova verteidigt haben. Desgleichen nimmt die Außerachtlassung der umfangreichen Literatur zum sephardischen Balkan in den zahlreichen Sprachen dieser Geschichtsregion Wunder – zumal etwa die stark historisch ausgerichtete Zeitschrift von “Šalom”, der Organisation der Juden Bulgariens, nicht nur in einer spanischen, sondern bereits seit den 1960er-Jahren auch in einer englischen Parallelversion erscheint. Hier hat der 43-köpfige Redaktionsbeirat des Leipziger Jahrbuchs seine Funktion offensichtlich nicht erfüllt.

Die bei Erscheinen des ersten Jahrbuchbandes gestellt Frage, ob es dem Leipziger Simon-Dubnow-Institut nachhaltig gelingen wird, “Jahr für Jahr eine solche Fülle an hochrangigen und seinen programmatischen Ansprüchen genügenden Texten einzuwerben” 1, kann mit Blick auf den zweiten Band uneingeschränkt bejaht werden. Überdies belegt dieser erneut die gelungene Verbindung allgemeinhistorischer Fragestellungen mit denjenigen einer spezialisierten jüdischen Geschichte, ja mehr noch: Mittels ihres deutlichen Regionalbezugs zur Osthälfte Europas wirkt die Dinersche historiografische Konzeption als Transmissionsriemen, welcher die Teildisziplin der historischen Osteuropaforschung mit dem deutschland- und westeuropafixierten Mainstream der Geschichtsforschung interaktiv verbindet. Seiner ambitionierten Absicht, die Geschichte der Juden als “Paradigma einer europäischen Historie” zu etablieren 2, kommt Jahrbuchherausgeber Dan Diner Band für Band näher.

Anmerkungen:
1 Petersen, Heidemarie, Rezension von Simon-Dubnow-Institut (Hg.), Simon-Dubnow-Institut Jahrbuch I, München 2002, in: H-Soz-u-Kult, 14.08.2003, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2003-3-096>.
2 Diner, Dan, Geschichte der Juden – Paradigma einer europäischen Historie. in: Stourzh, Gerald (Hg.), Annäherungen an eine europäische Geschichtsschreibung, Wien 2002, S. 85-103.

Redaktion
Veröffentlicht am
Beiträger
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension