Titel
Wege zur Kulturgeschichte.


Herausgeber
Hardtwig, Wolfgang
Reihe
Geschichte und Gesellschaft 23 Heft 1
Erschienen
Göttingen 1997: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
162 S.
Preis
DM 30,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Philipp Sarasin, Historisches Seminar, Universität Basel

Sozialgeschichte in der Erweiterung, Kulturgeschichte heute, Herausforderungen durch Kulturgeschichte, Kulturgeschichte oder Historische Anthropologie, Wege zur Kulturgeschichte - man kann den Eindruck gewinnen, es tut sich was in der deutschsprachigen Geschichtswissenschaft. Die letztjaehrige Debatte von H-Soz-u-Kult ueber Kulturgeschichte hat dabei die Konfusion, die dieser Begriff ausloest, ueberraschend deutlich offengelegt. Die Einschaetzung von Juergen Kocka von 1987, dass "nichts sich in der Geschichte schwieriger praezis erfassen laesst als das luftige, vieldeutige Gebiet der Deutungen und Gebraeuche, Werte und Lebensweisen ('Kultur')", wird zwar heute nicht mehr so unbekuemmert zu Markte getragen (auch von Kocka nicht), aber es ist gegenwaertig nicht erkennbar, dass sie einer neuen Gewissheit ueber Gegenstand und Methode(n) der Kulturgeschichte gewichen waere. Ist Kultur wie das Feuilleton in der Zeitung ein willkommener Zusatz zu Inland, Ausland und Wirtschaft, oder ist unter ihrem Titel gleichsam "alles" rubriziert, wenn Menschen sprechen und handeln, weil sie dabei immer auf symbolische Systeme zurueckgreifen? Und was wuerde das bedeuten, wie waere das zu erforschen, und was wuerde das implizieren?

Aber dazu kommen weitere Schwierigkeiten, und das hier anzuzeigende, schon etwas aeltere Heft von GG versucht auf eine ganz bestimmte Weise, auf sie zu reagieren. Man koennte es vielleicht so formulieren: Die Debatte ueber Kulturgeschichte wurde der deutschsprachigen Geschichtswissenschaft in den letzten 10, 15 Jahren von aussen aufgedraengt, konkret von mehrheitlich poststrukturalistisch gewendeten diskursanalytischen, feministischen und anthropologischen Theorien, die bekanntlich - und in grober Verallgemeinerung - in den 60er und 70er Jahren in Frankreich ausgearbeitet und in den 80er und 90er Jahren in den USA rezipiert, ausgebaut sowie um vielfaeltige gender troubles erweitert wurden, um von dort her nun auch in Deutschland die soliden Gewissheiten einer an "Fakten" (R. Evans 1998) orientierten Geschichtswissenschaft zu unterspuelen beginnen. Diese ist in Argumentationsnot geraten, und sucht, wie gesagt und bekannt, nach Wegen und Erweiterungen, um aus ihr wieder herauszufinden. Dabei ist ein zuweilen extrem defensiver, von schierer Angst besetzter Hochsitz-Gestus des angeblichen Besserwissens nicht zu uebersehen, wie Peter Schoettler in seinem erhellenden Aufsatz zeigt ("Wer hat Angst vor dem 'linguistic turn'?"; ich komme darauf zurueck).

Diese Abwehrreflexe aergern, denn es gibt in dieser Situation vielleicht nur zwei valable Strategien - falls man sich nicht ueberhaupt einfach "ausklinken" moechte, um lokale/nationale Hegemonien zu bewahren: Entweder man uebernimmt die Sprache und die Forschungslogik der sei's poststrukturalistischen, sei's anthropologischen Kulturtheorie - oder man besinnt sich und sucht nach eigenen, das heisst deutschen Traditionen, an die sich anknuepfen liesse. Einen fulminanten Versuch in dieser Richtung legt Heinz Dieter Kittsteiner vor, der unter dem anspielungsreichen Titel "Was heisst und zu welchem Ende studiert man Kulturgeschichte?" gleich zu Beginn des Heftes auf Schillers fast gleichlautende Antrittsvorlesung von Mai 1789 zu sprechen kommt. Schiller sagt bekanntlich "Universalgeschichte" und meint damit aber nichts anderes als das, was heute Kulturgeschichte heissen koennte: "Eigentlich", so zitiert ihn Kittsteiner, "sollten Kirchengeschichte, Geschichte der Philosophie, Geschichte der Kunst, der Sitten und Geschichte des Handels mit der politischen in eins zusammengefasst werden, und dies erst kann Universalhistorie sein." Schiller so einzufuehren, ist programmatisch - weniger dafuer, wie Kulturgeschichte geschrieben werden koennte, sondern vor allem als Ausweis von moeglicher Tradition einer deutschen Kulturgeschichte. Kittsteiner zeigt dann allerdings, dass dieses aufklaererische Konzept von Kulturgeschichte im 19. Jahrhundert "zwischen [den] Extremen einer bloss politischen Ereignisgeschichte und einer hoch angesiedelten Geschichts- und Kulturphilosophie laviert" (S. 13) - um zwischen diesen Muehlsteinen als Konzept praktisch zerrieben zu werden. Die Ausnahmen bilden zum einen, auf dem obersten Niveau, Jacob Burckhardt, und zum andern eine ruehrige Publizistik am Rande des akademischen Feldes, die "liebevoll nachgezeichnete Kulturbilder" fuer eine breite Leserschaft produziert.

Eine schwierige Tradition. Wer hilft da weiter - etwa Max Weber? Kittsteiner verwirft diesen auch heute so beliebten Zug, weil die Kulturgeschichte sich dann den Weberschen "Praemissen unterordnen" muesste und sich nicht aus dem "bewaehrten Verbund von Wirtschafts- und Sozialgeschichte" loesen koenne. (S. 17f.) Er verweist statt dessen auf Roger Chartiers Ablehnung der "decoupage socio-professionnelle" (Chartier 1989, dt. 1994): Bleibt dieser statistisch gehaertete Raster der Sozialstruktur der "tyrannische" (Chartier) und unhinterfragbare Ausgangspunkt auch der Kulturgeschichte, waere letztere immer nur ein farbiges Ausmalen des schon auf andere Weise Rekonstruierten. Kulturgeschichte muss, wenn sie das nicht sein will, mit einer gewissen Eigenstaendigkeit und Eigenlogik ihres Gegenstandes rechnen, und sie muss empirische Forschungsverfahren entwickeln, diese Eigenlogik zu untersuchen. Kittsteiner betont daher Chartiers konkrete Vorschlaege fuer eine Geschichtschreibung des Herstellens, Verbreitens und Zirkulierens von "Sinn" und Bedeutungen, beispielsweise auf dem Wege der Buchgeschichte und einer an Foucault angelehnten - hier taeuscht sich Kittsteiner m.E. - Diskursanalyse.

Kittsteiner entwickelt nun ein Argument, das tatsaechlich wesentlich ist fuer die konzeptionelle Grundlegung der Kulturgeschichte, und er zeigt dabei einen - wie soll man sagen? - gangbaren deutschen Weg: Er erinnert daran, dass Weber, aber auch Simmel von Nietzsche die Vorstellung uebernommen haben, dass Geschichte keinen immanenten Sinn hat, und darum in Idealtypen und Strukturen gefasst werden muesse, um intelligibel zu sein; diese symbolischen Strukturen aber wenden sich dann als "stahlhartes Gehaeuse" gegen ihre Schoepfer und begrenzen die Freiheit des Ich: luftige kulturelle Konstrukte werden definierend. Simmel sieht in einem Aufsatz von 1911 darin eine spezifische Tragik, die die "Seele" in Widerspruch zur Zivilisation und ihren kulturellen Schoepfungen bringe. Das kennt man: Die Vorstellung, dass - nun im neueren Sprachgewand - "der Diskurs" "das Subjekt" verdraengt, entfremdet, ueberformt, beherrscht etc., und dass es eine Aufgabe von HistorikerInnen sei, dieses Subjekt und seine "Erfahrungen" angeblich jenseits aller Diskursivitaet wieder hervorzuholen, hat heute wieder Konjunktur.

Gegen diese ziemlich altbackene kulturkritische Haltung hat der deutsch-amerikanische Philosoph Ernst Cassirer in einem Aufsatz von 1942, auf den Kittsteiner sich nun bezieht, Stellung bezogen. "Cassirer wendet ein:" - so Kittsteiner -, "Simmel scheint als Skeptiker zu sprechen, in Wirklichkeit spricht er als Mystiker. Von diesem Punkt her baut er" - Cassirer - "seine Kritik auf. Ihr zentraler Einwand ist: Das 'Ich' ist gar keine bestimmbare Substanz ausserhalb seiner symbolischen Entaeusserungen in Sprache, Religion und Kunst." (S. 24f.) Dem Dilemma der Kulturgeschichte des 19. Jahrhunderts - entweder zur Geschichtsphilosophie zu werden oder aber in unzaehligen lieblichen Bildchen sich aufzuloesen, die immer nur vom ewig gleichen Ich erzaehlen - haelt Cassirer also die Analyse der symbolischen Formen entgegen. Damit wird der Primat des Ich und seiner Erfahrungen grundsaetzlich in Frage gestellt und die Perspektive einer "objektivistischen" Kulturgeschichte eroeffnet, die nicht beim Bewusstsein des Subjekts und seiner intentionalen Deutungen stehen bleiben muss, wie dies immer noch als Fortschritt gefeiert wird - wie wenn es die Einsichten der Psychoanalyse nie gegeben haette. Auch Chartier hat Angst vor dem eigenen Mut bekommen, das Schreckgespenst der sogenannten Postmoderne beschworen und von einer "Rueckkehr des Subjekts" gesprochen (Chartier 1989/1994 und 1994). Kittsteiner verweist in diesem Zusammenhang in einer Fussnote gar auf die dumme Kampfschrift von Ferry und Renaut, womit er seine eigenen Einsichten, die er von Cassirer her gewinnt, gleich wieder untergraebt.

Aber wie auch immer; Kittsteiner bleibt insgesamt sehr zurueckhaltend und behauptet nicht, dass sich nun mit Cassirer alle Probleme loesen liessen. Er vermeidet es auch tunlichst (schade eigentlich!), darauf hinzuweisen, dass Cassirer in den USA ein Rezeptionshintergrund fuer franzoesische diskursanalytische Konzepte bildete, die ja auch auf die Untersuchung der "formalen Bedingungen des Erscheinens des Sinns" (Foucault) zielen. "Es geht nur darum", so Kittsteiner, "darauf aufmerksam zu machen, dass hier ein lange vernachlaessigter Ansatz vorliegt..." (S. 27): Deutsche Traditionen.

An diesem Eroeffnungsaufsatz, den ich hier in einiger Ausfuehrlichkeit referiert habe, weil er Argumente enthaelt, die eine Diskussion wert sind, misst man unwillkuerlich den Rest des Heftes, das die oben skizzierten beiden Optionen auf der Suche nach Erweiterungen und Wegen getreulich spiegelt (dazu kommt noch Christoph Strupps informativer Aufsatz ueber "neue Ansaetze der Kulturgeschichtsschreibung in den Niederlanden", auf den ich hier nicht eingehe). Auf der einen Seite vertritt Peter Schoettler die Position, in einem analytischen Sinne von Diskursen zu reden - und zwar in Bezug auf Foucault und die franzoesische Tradition mit ihren amerikanischen Umschreibungen, und damit dezidiert nicht in Bezug auf Habermas. Das heisst, Diskurse empirisch, historisch und materialistisch zu denken, und nicht als "der Diskurs" normativ-idealistisch. Schoettlers Beitrag ist keine Explikation einer diskursanalytischen Kulturgeschichte, sondern geht der Frage nach, wieso solche Ansaetze in Deutschland eigentlich auf zuweilen erbitterten Widerstand stossen. Zudem schlaegt er vor, eine theoriegeleitete Analyse diskursiver Strukturen in der Tradition von Lucien Febvre ueber Roland Barthes bis Roger Chartier von einer eher traditionellen, nicht-systematischen Kulturgeschichte und Narrativik von Georg Steinhausen bis Hayden White zu unterscheiden (ohne die vielfaeltigen Beruehungspunkte zu negieren), um die Diskussion ueber Kulturgeschichte von falschen Verallgemeinerungen zu bewahren und in dem Sinne auch kuehler zu machen. Schoettler plaediert, statt auf einige philosophische Leuchtreklamen zu starren ("die Postmoderne"), fuer eine pragmatische Gelassenheit, um die schon vorliegenden Resultate einer historischen Sprachanalyse ernstnehmen und mit ihren Methoden experimentieren zu koennen.

Die meisten anderen Texte in diesem Sammelband interpretieren den Titel "Wege zur Kulturgeschichte" woertlich: Als Rueckbesinnung auf moegliche Vorlaeufer einer kulturhistorischen Praxis in Deutschland. Ulrich Raulff, der als ehemaliger Foucault-Uebersetzer und jetzt FAZ-Feuilleton-Chef diesen Weg in der Richtung von Frankreich nach Deutschland gegangen ist, zeigt, wie hart der Boden war, auf dem sich in Deutschland seit der Jahrhundertwende die Tradition einer aufgeklaerten Kulturgeschichte haette behaupten muessen, indem er vor allem die institutionelle Geschichte der sogenannten "Hamburger Schule" der Kulturgeschichte um die beiden Pole Aby Warburg und Ernst Cassirer darstellt. Die Schwierigkeiten waren konkret, wenn man sich vor Augen fuehrt, dass Aby Warburg noch 1928 eine "doppelte Verwurzelung" der Kulturwissenschaft in einer neuen Studentengeneration anstrebte, die "die Fackel deutsch-juedischer Geistigkeit" vorantragen solle (S. 43). Die Widerstaende gegen seine seit 1904 entwickelte und nach dem Ersten Weltkrieg realisierte Hamburger Institutsidee (als Verbindung seiner Bibliothek mit der jungen Universitaet) gruendeten mit anderen Worten tief - allein, haette es Alternativen gegeben? Auch in Basel, wo er gerne, wie er in einem Brief bekennt, "als bescheidener Testamentsvollstrecker Jacob Burckhardts" gewirkt haette und was das "Einzige [waere], was mich gefreut haette", war Warburg als Jude nicht willkommen. (S. 33)

Schiller, Cassirer, Warburg - und sonst? Anders als bei Kittsteiner und bei Raulff erweist sich die in diesem Heft angestrengte deutsche Wurzelsuche als nicht besonders ertragreich, bzw., die gemachten Vorschlaeg vermoegen nicht zu ueberzeugen - oder sind sie gar bloss antiquarisch gemeint? Wolfgang Hardtwig greift Hayden Whites Charakterisierung der Geschichtsschreibung Leopold von Rankes als "komoediantisch" auf, was Ranke daran gehindert habe, finale Fortschritts- oder Zerfallsgeschichten zu schreiben. Wohl habe Ranke bei seiner "Theorie der nationalen Identitaet" - und zu nichts anderem soll diese Geschichte dienen - "sich aus nicht weiter hinterfragbaren Gruenden fuer den Primat der Politik" und gegen die Kultur "entschied[en]". (S. 111) Aber die Darstellungsform der Ranke'schen Universalgeschichte ist nicht mehr wie in der Aufklaerung enzyklopaedisch, sondern kann, so Hardtwig, die divergierende Vielheit der Moderne nur noch mittels "aesthetischer, d.h. genauer: literarischer Verfahren" zusammenhalten (S. 112). Damit aesthetisiere sich zwar die Macht selbst, wie der Verfasser kritisch anmerkt, gleichwohl habe Ranke mit seinem aesthetischen, "komoediantischen" Sich-distanzieren vom "integral-aggressiven Nationalismus" "das Modell Europas als einer Einheit in der Vielheit" entworfen. (S. 114) Bietet dieser schoene Gedanke nun aber Hand zum Konzept einer Kulturgeschichte, etwa, indem sie sich zu literarischen, aesthetisierenden Erzaehlformen zurueckwendet, die in ihren Gemaelden zeigen kann, dass "jede Generation" und jede Nation "unmittelbar zu Gott" sind, was "in der Krise des Projekts der Moderne, die wir erleben, aktueller denn je" sei? (ebd.) Ranke als ein freundlicher "Postmoderner" avant la lettre, der die divergierenden Kraefte allein noch im aesthetischen Modus seiner Darstellungskunst zusammenbindet?

Stefan Fisch ("Auf dem Weg zur Aufklaerungshistorie") und Hans Schleier ("Deutsche Kulturhistoriker des 19. Jahrhunderts") bieten sehr informative, bis in die Fruehe Neuzeit zurueckreichende Rekonstruktionen von deutschsprachigen kulturhistorischen Stroemungen, ohne dabei aber die theoretischen Fragen einer Neuen Kulturgeschichte - und eine solche muesste es schon sein - zu diskutieren. Schleier bekennt denn auch am Schluss seines Aufsatzes, dass in seinen Augen "der Gesellschaftsbegriff und die Gesellschaftsgeschichte einen sinnvolleren Zugriff [als die Kulturgeschichte] darstellen", um "soziale Strukturen", aber auch "Beduerfnisse und Interessen" erklaeren zu koennen, die dann "ihrerseits zum Verstaendnis der materiellen und geistigen Hervorbringungen menschlicher Kultur [...] unverzichtbar sind". (S. 98) Womit dann die Diskussion schon wieder zuende waere.

Ein in mehrfacher Brechung merkwuerdigen Schlusspunkt dieses Heftes, dass mit Schillers aufklaerungsfrohen "Universalgeschichte" von 1789 beginnt, bildet der Aufsatz von Volker Pesch ueber Goldhagen ("Die kuenstlichen Wilden. Zu Daniel Goldhagens Methode und theoretischem Rahmen"). Der Autor zeigt ueberzeugend, dass Goldhagen sich zwar auf die "dichte Beschreibung" von Clifford Geertz bezieht, um die Motive und Handlungen der Taeter entziffern und darstellen zu koennen, dass er dabei aber den von Geertz als unzulaessig erklaerten verallgemeinernden Kausalitaetsbezug zwischen Einzelsituation und "Mentalitaet" herstellt. Diese Kritik ist zwar in sich schluessig, aber statt dass Pesch dann die explikatorische Kraft einer Untersuchungsmethode in Zweifel zieht, die zur Erforschen schriftloser Voelker und lokaler Begebenheiten entwickelt wurde, plaediert er gerade fuer den reinen Geertz und den ganz kleinen Fokus: "schon die Polizeibataillone, Todesmaersche und Arbeitslager sind zu grosse Entitaeten" (- Entitaeten: mit dem ganzen philosophischen Gewicht dieses Begriffs?). Und: Eine solche "dichte Beschreibung" "muss sich in den Holocaust hineinversetzen, das Handeln der Menschen nachvollziehen, muss versuchen, den Holocaust zu verstehen [im Original kursiv] - zweifellos die schwierigste, vielleicht sogar eine unmoegliche Anforderung."

Ja, zweifellos. Der Schluss des vorliegenden GG-Heftes ist mehr als irritierend. Denn dieses weist mit den Texten von Kittsteiner, Schoettler und Raulff auf methodische Ansaetze hin, wie heute in einer rationalen, aufklaererischen Weise auch die "symbolischen Formen", die Diskurse und die Bilder des exterminatorischen Antisemitismus analysiert werden koennten, die ja schliesslich weit ueber den ganz kleinen Rahmen lokaler Verhaeltnisse hinaus wirkungsvoll waren: Die "Regeln" des Holocaust entstehen nicht in der Einzelsituation und in lokalen symbolischen Welten. Der Holocaust laesst sich nicht wie ein Hahnenkampf schriftloser Dorfbewohner rekonstruieren, er ist kein symbolisches Handeln, und der Versuch, das Bewusstsein der Taeter zu "verstehen", bringt bekanntlich primaer dessen Banalitaet zum Vorschein. Und doch ist der Holocaust voller "Symbole", "Sinn" und "Bedeutungen", vom Wort Endloesung bis zur zynischen Real-Metapher der Gasdusche. Was also, wenn Kulturgeschichte analytisch werden soll: "dichte Beschreibung" oder Diskurse? Verstehen oder Signifikanten? Oder gar "Beduerfnisse und Interessen"? Vielleicht hilft es, sich doch noch an eine deutsche Tradition zu erinnern: an Viktor Klemperers Sprachanalyse. Dieser schreibt in LTI (1982), dass der Nationalsozialismus seine Wirksamkeit nicht auf der Ebene der meist duemmlichen "Einzelreden" entfaltete, d.h. durch nichts, "was man mit bewusstem Denken oder bewusstem Fuehlen in sich aufnehmen musste", sondern auf der Ebene der im einzelnen sinnlosen Signifikanten: "...durch die Einzelworte, die Redewendungen, die Satzformen, die er der Menge in millionenfachen Wiederholungen aufzwang und die mechanisch und unbewusst uebernommen wurden".

Zitierte Literatur:
E. Cassirer: Die 'Tragoedie der Kultur', in: Zur Logik der Kulturwissenschaften. 1971
R. Chartier: Le monde comme representation, in: Annales E.S.C., 1989, 6, dt. in Middell/Sammler (Hg.): Alles Gewordene hat Geschichte. 1994
R. Chartier: Zeit der Zweifel. Zum Verstaendnis gegenwaertiger Geschichtsschreibung, in: Conrad/Kessel (Hg.): Geschichte schreiben in der Postmoderne. 1994
R. Evans: Fakten und Fiktionen. Ueber die Grundlagen historischer Erkenntnis. 1998
L. Ferry, A. Renaut: Antihumanistisches Denken. Gegen die franzoesischen Meisterphilosophen. 1987
M. Foucault, Interview, in: Dits et ecrits, hg. von Defert/Ewald, Bd. 1. 1994, S. 601-620
Viktor Klemperer: LTI. Notizbuch eines Philologen. 1982 G. Simmel: Der Begriff und die Tragoedie der Kultur (1911), in: Philosophische Kultur. 1983
Hayden White: Metahistory. Die historische Einbildungskraft im 19. Jh. in Europa. Frankfurt 1991

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