Titel
Hoffnung und Untergang. Studien zur deutsch-jüdischen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts


Autor(en)
Barkai, Avraham
Reihe
Hamburger Beiträge zur Sozial- und Zeitgeschichte 36
Erschienen
Anzahl Seiten
290 S.
Preis
€ 22,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Monika Preuss, Hochschule fuer Juedische Studien

Avraham Barkai ist dem deutschsprachigen Publikum vor allem durch seine Dissertation zum Thema "Das Wirtschaftssystem des Nationalsozialismus. Der historische und ideologische Hintergrund" (1977, TB 1988) und seine Untersuchung "Vom Boykott zur 'Entjudung'. Der wirtschaftliche Existenzkampf der Juden im Dritten Reich 1933-1943" (1988) bekannt. Daß Barkais Interessen jedoch weit umfassender sind, belegt der hier zu besprechende Band. Elf Aufsätze, von denen zwei bisher unveröffentlicht waren, die anderen in den Jahren 1981 bis 1995 erschienen sind, dokumentieren das Spektrum seines wissenschaftlichen Schaffens. Zeitlich umfassen sie den Zeitraum vom frühen 19. Jahrhundert bis 1945, räumlich bewegen sie sich zwischen den USA über Mittel- und Osteuropa bis nach Israel. Das Spektrum der Fragestellungen umfaßt Wirtschafts-, Organisations- und Politikgeschichte.

Wozu aber eine Aufsatzsammlung könnte man fragen, da doch bis auf die bisher unveröffentlichten Aufsätze alle Beiträge in gut zugänglichen Zeitschriften und Büchern vorliegen? Die Sprachbarriere - die Mehrzahl der Aufsätze wurde ursprünglich in Englisch oder Hebräisch veröffentlicht - kann nur eingeschränkt als Antwort dienen. Aufsatzsammlungen haben die Aufgabe aus einzelnen Forschungsergebnissen eines Autoren ein neues Ganzes zu schaffen, das mehr als nur die Summe der Einzelbeiträge sein muß. Das Gelingen einer solchen Aufgabe mißt sich daran, ob es gelingt mittels Auswahl und Abfolge der Einzelbeiträge ein kohärentes Ganzes zu schaffen, das aus sich selbst heraus innere Bezüge und Zusammenhänge zu schaffen vermag.

"Hoffnung und Untergang" umschreibt Barkai die sowohl chronologisch wie thematisch zu begreifenden Pole, die das Schicksal der deutsch-jüdischen Minderheit im 19. und 20. Jahrhundert kennzeichnen. Die ersten drei Aufsätze beschäftigen sich mit den Chancen für eine Verbesserung der wirtschaftlichen und sozialen Lage, die die schrittweise verwirklichte rechtliche Gleichstellung der jüdischen Bevölkerung im 19. Jahrhundert boten. Aufgrund statistischer Analysen zeigt Barkai auf, in welchem Masse sich diese Verbesserungen der rechtlichen Stellung auch auf die wirtschaftliche und soziale Lage der deutschen Juden auswirkten. Dabei wurden in der Regel traditionell bereits vertraute Wirtschaftsbereiche bevorzugt, während erst durch die Emanzipation auch jüdischen Bewerbern zugänglich gemachte und damit also unbekannte Berufsfelder eher gemieden wurden. Wie groß die wirtschaftlichen und damit einhergehend die sozialen Veränderungen waren, die durch diesen Prozeß angestoßen wurden, zeigt sich besonders deutlich bei der jüdischen Unterschicht. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts fristete etwa ein Drittel der jüdischen Bevölkerung ein Dasein als bitterarme Hausierer oder Bettler. 1870 war diese ärmste Schicht fast vollständig verschwunden. Gleichzeitig hatten es über 60 % der jüdischen Haushaltungen in Deutschland geschafft, zu den mittleren und höheren Einkommensgruppen zu gehören.

In dem sich anschließenden Aufsatz "Auswanderung als Emanzipationsersatz? Deutsch-jüdische Gruppenidentität jenseits des Ozeans" wird die Perspektive, von der aus der wirtschaftliche Erfolg in Deutschland betrachtet wird, gewechselt. Durch seine Analyse sowohl der Motive als auch der sozialen Zusammensetzung jüdischer Auswanderer zeigt Barkai die daraus entstehenden Vorteile für diejenigen, die zurückblieben. Als Hauptmotiv der Auswanderer müssen die bis in die zweite Jahrhunderthälfte andauernden rechtlichen und wirtschaftlichen Beschränkungen angesehen werden. So setzte sich die Gruppe der jüdischen Auswanderer im Gegensatz zu der der christlichen in ihrer Mehrzahl nicht aus Familien, sondern aus jungen unverheirateten Männern zusammen, die sich von einem Leben in Amerika nicht nur wirtschaftlichen Aufstieg oder zumindest wirtschaftliches Auskommen versprachen, sondern in erster Linie ein Leben, das nicht durch Ausnahmegesetze eingeschränkt wurde. Für die Zurückbleibenden wiederum bedeutete diese Abwanderung eine Entlastung von potentiellen wirtschaftlichen Konkurrenten und die Chance dadurch die eigene wirtschaftliche Situation zu stabilisieren oder zu verbessern.

Daß dieser Trend des wirtschaftlichen und sozialen Aufstiegs sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts nicht fortsetzte, zeigt Barkai im anschließenden Beitrag "Die Juden als sozioökonomische Minderheitsgruppe in der Weimarer Republik". Die verbreitete Ansicht, die jüdische Bevölkerung zeichne sich durch besondere Fähigkeiten in der Anpassung an sich ändernde gesellschaftliche Rahmenbedingungen aus, widerlegt Barkai wiederum durch statistische Untersuchungen. Er zeigt, daß die jüdische Bevölkerung sich seit Ende des 19. Jahrhundert nicht nur demographisch sondern auch wirtschaftlich in einem abnehmenden Trend befand. Die sich immer deutlicher abzeichnende Überalterung der jüdischen Bevölkerung (u.a. eine Folge der starken Auswanderung junger Männer nach Amerika) und der Geburtenrückgang ließen die Zahlen der jüdischen Bevölkerung sinken. Im wirtschaftlichen Bereich beobachtet Barkai für die Zeit der Weimarer Republik ebenfalls einen rückläufigen Trend, da die Mehrzahl der Erwerbstätigen weiterhin in traditionellen Erwerbszweigen verharrte. Nur ein kleiner Prozentsatz von Berufsanfängern suchte Anstellungen im produzierenden Gewerbe und in geringerem Masse in der Landwirtschaft. Durch die Einbeziehung des Antisemitismus, v.a. der antisemitisch motivierten Boykotte während der Weimarer Republik, bildet dieser Aufsatz den Hintergrund, vor dem der folgende Artikel zu sehen ist.

"Zwischen Deutschtum und Judentum. Richtungskämpfe im Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens, 1919-1933" leitet von den bisher der Wirtschafts- und Sozialgeschichte gewidmeten Beiträgen zum politischen Bereich über. Besonderes Interesse verdient dieser Aufsatz, da hier erste Ergebnisse des neuesten Forschungsprojektes von Barkai vorgelegt werden. Die Akten des Centralvereins galten als verschollen, die Geschichte des größten deutsch-jüdischen Vereins in der Weimarer Republik war mithin nur über Sekundärquellen rekonstruierbar. Erst durch die Öffnung des "Sonderarchivs" im Zentralen Staatsarchiv in Moskau zu Beginn der 90er Jahre wurde die Erhaltung auch des Archivs des Centralvereins bekannt. Das Interesse Barkais ist auf die innere Entwicklung des Centralvereins gerichtet. Die wiederaufgefundenen Akten erlauben nicht nur genauere Aussagen über das Verhältnis der einzelnen Gruppen innerhalb des Centralvereins, das Verhältnis von Gemeindefunktionären, Rabbinern und jüdischen "Parteien" (Liberale und Zionisten) zum Centralverein, gleichzeitig geben sie auch Auskunft über das jüdische Selbstbewußtsein, wie es vom Centralverein formuliert wurde. Die stolze Verbindung von Deutschtum und Judentum, die den Mitgliedern des Centralvereins und der überwiegenden Mehrheit der deutschen Juden selbstverständlich war, wurde 1933 durch die Machtübernahme der Nationalsozialisten erschüttert. Die Versuche des Centralvereins auch unter Bedingungen staatlicher Ausgrenzung und Erniedrigung jüdisches Selbstbewußtsein weiter aus den Quellen der "Vaterlandsliebe", des "Deutschtums" oder der "deutschen Gesinnung" (Zitate S. 139) speisen zu wollen, wirken in der Rückschau und in dem Wissen um die bevorstehende Katastrophe, der der größte Teil des europäischen Judentums zum Opfer fiel, besonders tragisch.

Ebenfalls aus innerjüdischer Perspektive ist der Aufsatz "Von Berlin nach Theresienstadt. Zur politischen Biographie von Leo Baeck 1933-1945" gesehen. Während der Beitrag über den Centralverein sich dem repräsentativsten jüdischen Verein der Weimarer Republik widmet, stellt die Untersuchung zum Wirken Leo Baecks während der nationalsozialistischen Diktatur eine Einzelperson in den Mittelpunkt. Baeck ist jedoch nicht ein beliebig gewähltes Beispiel, sondern er ist das individuelle Gegenstück zum Centralverein. Wie der Centralverein in der Weimarer Republik das deutsche Judentum repräsentierte, so wurde Baeck (selbst Vorstandsmitglied im CV) zur Integrationsfigur des deutschen Judentums in seinem Untergang. Barkai stellt die Arbeit Baecks in der Reichsvertretung (später Reichsvereinigung) und sein Wirken in Theresienstadt differenziert dar und geht dabei vor allem auf die durch Hannah Arendt in den 60er Jahren angestoßene Diskussion ein, die Reichsvereinigung im ganzen aber auch Baeck im besonderen habe nicht nur mit den nationalsozialistischen Behörden kooperiert sondern vielmehr kollaboriert, ein. Barkai bezieht in dieser Auseinandersetzung eine Position, in der der Einbeziehung der Zeitumstände, das Nachdenken über Handlungsalternativen und das Erkennen der Motivation des Einzelnen ins Zentrum gerückt werden. So kommt Barkai in seiner Einschätzung des Wirkens Leo Baecks zu der Überzeugung, daß die speziell auch gegen ihn erhobenen Vorwürfe ungerechtfertigt sind.

Die Frage der Zusammenarbeit von jüdischen mit staatlichen Stellen wird auch im folgenden Beitrag "Das deutsche Interesse am Haavara-Transfer 1933-1939" thematisiert. Das 1933 zwischen Vertretern der Jewish Agency for Palestine und der Zionistischen Vereinigung für Deutschland mit dem Reichswirtschaftsministerium geschlossene Abkommen ermöglichte Auswanderern den Transfer (hebr. Ha-avara) ihres Vermögens in Auslandswährungen nach Palästina. Im Ausland wurde dieses Abkommen, nicht zuletzt auch von jüdischen Organisationen, heftig kritisiert, da es die Wirksamkeit eines geplanten Handelsboykotts gegen Deutschland schwächte. Barkai interessiert sich aber besonders für die Haltung einzelner Ressorts des Staatsapparates zum Ha-avara-Abkommen. Obwohl seit 1937 kein eigentliches Interesse des deutschen Staates an diesem Abkommen zu erkennen ist und Auswanderern nach anderen Ländern nicht mehr erlaubt war ihr Vermögen mitzunehmen, wurde auf Anweisung Hitlers an dem Abkommen festgehalten.

Die folgenden beiden Beiträge "Deutschsprachige Juden in osteuropäischen Ghettos" und "'Zwischen Ost und West'. Deutsche Juden im Ghetto Lodz" haben das Schicksal derjenigen, die sich nicht aus Deutschland retten konnten, zum Thema. Auch hier interessiert Barkai sich für eine innerjüdische Perspektive, nämlich dem Zusammentreffen von west- und osteuropäischen Juden. Daß das erzwungene Zusammenleben unter unmenschlichen Bedingungen nicht ausschließlich, wie es aufgrund des gespannten Verhältnisses der beiden Gruppen vor 1933 nahe liegen könnte, von gegenseitiger Ablehnung gekennzeichnet war sondern differenzierter gesehen werden muß, legt Barkai in seinen gründlichen Untersuchungen überzeugend dar.

Der letzte Beitrag "Regierungsmechanismen im Dritten Reich und die 'Genesis der Endlösung'", 1985 erschienen, reflektiert die Kontroverse zwischen Vertretern des funktionalistischen und des intentionalistischen Erklärungsmodells der "Genesis der Endlösung" und ihre jeweilige Sicht der Rolle Hitlers. Barkai betont, wir erinnern uns an den Artikel zur Ha-avara, die letzte Entscheidung strittiger Fragen in der Politik gegenüber der jüdischen Bevölkerung durch Hitler selbst. Auch streicht er die Bedeutung des Antisemitismus als eine der wesentlichen Konstanten im ideologischen System des Nationalsozialismus hervor.

Die eingangs gestellte Frage nach dem Gelingen eines Sammelbandes läßt sich für den hier besprochenen Band eindeutig beantworten: Die Auswahl ist ebenso wohlüberlegt getroffen wie angeordnet worden. Wie selbstverständlich führt Barkai uns durch die anscheinend so weit auseinanderliegenden Themen, so daß man beinahe zu der Überzeugung gelangen könnte, die Aufsätze seien bereits bei ihrer Entstehung als Teil eines noch zu entstehenden Ganzen konzipiert gewesen.

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