S. Vogel: Kulturtransfer in der fruehen Neuzeit

Titel
Kulturtransfer in der fruehen Neuzeit. Die Vorworte Lyoner Drucke des 16. Jahrhunderts


Autor(en)
Vogel, Sabine
Reihe
Spaetmittelalter und Reformation Neue Reihe 12
Erschienen
Tuebingen 1999: Mohr Siebeck
Anzahl Seiten
318 S.
Preis
€ 84,00
Ulrich Rosseaux, Lehrstuhl für Sächsische Landesgeschichte, Technische Universität Dresden

Was waere wohl geschehen, wenn sich Erasmus von Rotterdam (1467 - 1536) und Michel de Montaigne (1533 - 1592) als erwachsene Menschen zu einem Gespraech unter Gelehrten haetten treffen koennen? Worueber haetten sie sich unterhalten, wo haetten sie Gemeinsames, wo Trennendes festgestellt, und bei welchen Themen haetten sie einander vielleicht nicht verstanden? Mit Ueberlegungen ueber diese reizvolle - wenngleich kontrafaktische - Konstellation beginnt das hier in Rede stehende Werk aus der Feder von Sabine Vogel. Dabei handelt es sich um eine im Wintersemester 1996/97 an der Freien Universitaet Berlin angenommene Dissertation, die unter der Betreuung von Professor Dr. Ilja Mieck entstanden ist. Die Schaffenszeiten der beiden Protagonisten dieses imaginaeren Gespraechs markieren nicht allein chronologisch ungefaehr den Anfang und das Ende des Untersuchungszeitraums, vielmehr zeigen sich in den unterschiedlichen Auffassungen, die beiden hinsichtlich ihrer Gelehrsamkeit zu eigen waren, bereits die Umrisse dessen, was Sabine Vogel in ihrer Arbeit ueber den Kulturtransfer in der fruehen Neuzeit im Detail untersuchen will. Hier Erasmus, der gleichsam als Inkarnation des klassischen gelehrten Humanismus des ausgehenden 15. und fruehen 16. Jahrhunderts sein Leben der wissenschaftlichen Aufbereitung der antiken Denker gewidmet hatte, der die Lektuere aller antiken Klassiker zur Pflicht eines jeden erklaert hatte, der sich zu den Gelehrten rechnen wollte und der selbst stets in lateinischer Sprache publizierte, dort hingegen Montaigne, der sich bereits im Alter von 38 Jahren von seinen beruflichen Verpflichtungen als Jurist befreite, um sich voll und ganz der literarischen Taetigkeit in franzoesischer Sprache zu widmen, und der seine Buecher aus "Vergnuegen" und zum Zwecke eines "honorigen Zeitvertreibs" las. Auch wenn Montaignes Formulierungen eine gehoerige Portion ironischen Understatements nicht abzusprechen ist, sind die Differenzen zur Position des Erasmus offensichtlich. Sie stehen zudem exemplarisch fuer die Veraenderungen, die das Ideal humanistischer Gelehrsamkeit im Gefolge seiner Rezeption in Frankreich im Laufe des 16. Jahrhunderts erfahren hat, und die in der bisherigen Forschung vornehmlich als die Geschichte eines Verfalls aufgefasst worden sind.

Demgegenueber versucht Sabine Vogel diese spezifisch franzoesische Rezeption des Humanismus mit Hilfe des Konzepts des Kulturtransfers zu erklaeren. Veraenderungen bei der Weitergabe kultureller Gueter werden nicht in den Kategorien eines Aufstiegs- und Niedergangsszenarios gedeutet sondern als "bewusster Ausdruck einer veraenderten Bedeutung, die dem Ueberlieferten beigemessen wird" (S. 6). Mit diesem Ansatz lehnt sich die Verfasserin erklaertermassen an die Konzeption der "transmission of culture" an, wie sie bspw. von Anthony Grafton entwickelt wurde. Als Grundlage ihrer Untersuchungen fungieren 340 Drucke, die im 16. Jahrhundert in Lyon verlegt wurden und heute in der dortigen Bibliotheque Municipale aufbewahrt werden. Die Wahl dieser Lyoner Drucke erscheint plausibel, denn im 16. Jahrhundert war die Stadt im Rhônetal nach Paris das wichtigste Druck- und Verlagszentrum Frankreichs. Hinzu kommt, dass Lyon mit seiner besonderen Lage an der Schnittstelle zwischen dem Mittelmeerraum und dem noerdlichen Europa auch in kultureller Hinsicht eine vermittelnde Position einnahm. Im Verlauf der Untersuchung wird dies vor allem an den Inhalten einiger juristischer Texte deutlich, in denen die Grenze zwischen dem Gewohnheitsrecht des noerdlichen Frankreich und dem roemischen Recht des suedlichen Frankreich - zu dem in diesem Fall auch noch Lyon zu zaehlen ist - ihre Spuren hinterlassen hat.

Den Hauptteil ihrer Untersuchung hat Sabine Vogel in der Art eines Rundgangs durch eine Bibliothek gestaltet, deren Buecherbestand gerade aus den 340 Lyoner Drucken des 16. Jahrhunderts gebildet wird. Im Kapitel II (S. 21-64) ueber den "Eruditus" - den gelehrten Leser - analysiert sie die Taetigkeiten und das Selbstverstaendnis der humanistischen Philologen, der Drucker, Verleger und, ganz wichtig, der Maezene. Mit besonderem Interesse widmet sich Sabine Vogel den Vorreden und Widmungen, mit denen die Verfasser oder Herausgeber ihre Werke versehen haben. Aus diesen haeufig unterschaetzten Texten gewinnt sie wichtige Informationen ueber das Selbstverstaendnis der publizierenden Humanisten. Auch ueber die Wege sowie die Art und Weise der Rezeption des humanistischen Gedankenguts verraten die oft als wenig inhaltsreiche Topoi (miss)verstandenen Einlassungen in diesen Dedikationen und Vorreden einiges mehr, als man gemeinhin angenommen hat. Fuer vergleichbare Studien sei dieser hier mit Erfolg und Gewinn praktizierte methodische Ansatz daher ausdruecklich empfohlen. Die feingesponnenen Faeden, welche die zahlenmaessig kleine Gelehrtenrepublik zusammenhielten, werden dabei ebenso deutlich wie die mitunter in subtilen Formulierungen zum Ausdruck gebrachten Unterschiede im Grad der Zugehoerigkeit der verschiedenen Gruppen, aus denen diese sich konstituierte. Die Verleger und die Maezene mussten sich im Regelfall mit einer randstaendigen Position begnuegen, wohingegen sich die philologisch arbeitenden Humanisten in ihren gegenseitigen Freundschafts- und Wertschaetzungsbekundungen als den eigentlichen Kern der humanistischen Welt verstanden und stilisierten.

Ergaenzt wird dieses Kapitel durch einen Abschnitt ueber den Buchhandel und die Buchproduktion in Lyon im 16. Jahrhundert. All dies wird ebenso detail- wie kenntnisreich dargeboten, auch deutet sich bereits in diesem ersten Kapitel des Hauptteils an, dass der eingangs vorgestellte methodische Ansatz der "transmission of culture" Fruechte tragen wird. Gleichwohl bleibt anzumerken, dass die Analyse des Beziehungsgeflechts zwischen den Gelehrten, den Druckern oder Verlegern und den Maezenen vermutlich auf staerkere Fundamente haette gestellt werden koennen, wenn ausser den Angaben aus den Vorworten und Widmungen auch Informationen aus anderen Quellen herangezogen worden waeren, die es gegebenenfalls erlaubt haetten, die sozialen, wirtschaftlichen oder intellektuellen Verbindungen zwischen den einzelnen Gliedern dieser humanistischen Gelehrtenrepublik mit schaerferen Konturen zu versehen. Hier macht sich zudem hinderlich bemerkbar, dass die Verfasserin die Konzepte zur Erforschung sozialer Strukturen, die mit den Begriffen Verflechtung und Netzwerk schlagwortartig gekennzeichnet werden, und die in der deutschsprachigen Geschichtswissenschaft besonders von Wolfgang Reinhard propagiert und angewendet wurden, nicht in ihr methodisches Instrumentarium aufgenommen hat.

Das folgende Kapitel (S. 65-127) hat Sabine Vogel dem humanistischen Ideal der Gelehrsamkeit gewidmet. Nach einer eher knapp gehaltenen Darstellung des Lesestoffs fuer gelehrte Leser - der sich auch in der von ihr untersuchten Lyoner Buchproduktion inhaltlich in den vorgezeichneten Bahnen der humanistischen Wissenschaften bewegte - folgt ein instruktiver Abschnitt ueber einen Lesertypus, der gewoehnlich selten in den Blick genommen wird: den "unfreiwilligen Leser", der auf die antiken Klassiker in Form eines Schulbuches stiess oder vielmehr gestossen wurde. Parallel zum Ausbau des staedtischen Lateinschulwesens in Frankreich - der "colleges" - seit etwa 1520 stieg der Bedarf an Buechern, die geeignet waren, den Schuelern die humanistischen Studien nahezubringen. Zur Bluetezeit dieser "colleges" um etwa 1540 machte der Verlag und der Vertrieb von Schulbuechern die Masse des Geschaefts der wichtigen Lyoner Verleger aus. Da der Besuch einer solchen Bildungseinrichtung in der Mehrzahl der Faelle nicht eine freischwebende und vom Maezenatentum abhaengige humanistische Gelehrtenexistenz zum Ziel hatte, sondern ueblicherweise in eine Laufbahn in einer staedtischen oder koeniglichen Verwaltungsinstitution muendete, wurden die "colleges" zum Motor eines mehr funktionalen Bildungsverstaendnisses, das mit den urspruenglichen humanistischen Wissenschaftsidealen nicht mehr in Einklang stand. Aehnlich verhielt es sich mit den Kompendien und Kompilationen, die nach 1530 in zunehmendem Ausmass hergestellt wurden. Auch in diesen Werken wurde der bis dahin erarbeitete Fundus humanistischer Literatur aufbereitet, gegliedert, geordnet und somit einem Publikum zugaenglich gemacht, das der muehsameren Lektuere der Klassiker weniger Genuss abgewinnen mochte.

In den beiden folgenden Kapiteln werden unter den Ueberschriften (und Oberbegriffen) "virtus - Tugend" (S. 128-183) und "eloquentia - Beredsamkeit" (S. 184-229) zwei weitere zentrale Bestandteile des humanistischen Bildungsideals eroertert. Von besonderem Interesse erscheinen hier die Ausfuehrungen der Verfasserin ueber das aus mehreren Gruenden komplizierte Feld der religioesen Literatur. Kompliziert zum einen deshalb, weil es stets kirchliche Vorbehalte gegen einen allzu philologischen Umgang mit der Bibel und anderen sakramentalen Texten gegeben hatte. Waehrend allerdings in den Vorreden der entsprechenden Lyoner Drucke aus den 1520er Jahren noch die Vereinbarkeit von Glauben und Wissenschaft im humanistischen Sinne hervorgehoben wurde, kamen nach 1530 verstaerkt Buecher auf den Markt, deren Verfasser bzw. Herausgeber den unbedingten Vorrang der Theologie postulierten. Zum anderen machten sich im weiteren Verlauf des 16. Jahrhunderts die religioesen Auseinandersetzungen in Frankreich auch auf dem Lyoner Buechermarkt bemerkbar. Um 1560 war der Anteil explizit katholischer Titel in Sabine Vogels Stichprobe deutlich zurueckgegangen. Weitere 20 Jahre spaeter hatte sich hingegen die Gegenreformation in Lyon durchgesetzt, so dass alle 15 religioesen Titel aus den Jahren 1579/80 den katholischen Glauben propagierten. Parallel zum Auf und Ab der konfessionellen Auseinandersetzungen hatte sich zwischen 1520 und 1580 eine signifikante Zunahme der franzoesischsprachigen religioesen Literatur vollzogen. Die Verfasserin schliesst hieraus zurecht auf eine entsprechende Veraenderung in der Leserschaft, die am Ende ihres Untersuchungszeitraums ueberwiegend aus lesenden Laien bestanden haben muss, waehrend sie sich zu Beginn gaenzlich aus theologisch interessierten und gebildeten Klerikern rekrutierte. In weiteren Abschnitten dieser beiden Kapitel untersucht Sabine Vogel mit der juristischen Literatur die nach den religioesen Texten zahlenmaessig wichtigste Gruppe in ihrer Stichprobe sowie die Bedeutung von Uebersetzungen im Kontext der Vermittlung des humanistischen Gedankenguts.

Das sechste Kapitel dieser Arbeit (S. 230-269) dreht sich schliesslich um jenen Teil des lesenden Publikums, dessen schiere Existenz wahrscheinlich der augenfaelligste Beweis fuer die besondere franzoesische Rezeption des humanistischen Gedankenguts darstellt. Die Angehoerigen jener Gruppe der "bons esprits" verstanden sich zwar ebenfalls als gebildete Menschen, die streng auf die Antike und die lateinische Sprache bezogenen Vorstellungen der aelteren Humanisten des ausgehenden 15. und beginnenden 16. Jahrhunderts teilten sie hingegen nicht. Vielmehr lasen diese Menschen - aehnlich wie Montaigne - aus Vergnuegen und waehlten ihren Lesestoff selbstbewusst aus dem ihnen zur Verfuegung stehenden Angebot aus. Von den Humanisten klassischer Praegung unterschieden sie sich ausserdem durch ihre besondere Vorliebe fuer franzoesischsprachige Werke.

Am Ende der Untersuchung nimmt Sabine Vogel ihr Eingangsmotiv - das imaginaere Gespraech zwischen Erasmus und Montaigne - erneut auf und kommt zu dem Schluss, dass beide ueber "hoefliche gelehrte Floskeln" (S. 270) vermutlich nicht hinausgelangt seien. Zu unterschiedlich seien ihre Auffassungen ueber die Gelehrsamkeit und die Bewertung der Antike gewesen: "Der gelehrte Leser Erasmus sah sie als Aufgabe, der gebildete Leser Montaigne als Moeglichkeit" (S. 270). Dass diese Differenzen das Ergebnis eines allmaehlichen Kulturtransfers darstellen, hat sie in der Analyse der von ihr ausgewaehlten Stichprobe von 340 Lyoner Druckwerken des 16. Jahrhunderts zuvor im Detail aufzeigen koennen. Zugleich dokumentiert ihre Arbeit, dass man den vielschichtigen Prozessen, die mit der Weitergabe, der Rezeption und den damit zwangslaeufig einhergehenden Veraenderungen kultureller Gueter verbunden sind, mit Modellen, die alle diese Faktoren beruecksichtigen, sehr viel besser nahe kommen kann als mit den statischen und vergleichsweise simplen Glanzzeit- und Verfallsszenarien, die sich nicht nur in der Geistesgeschichte immer noch auffinden lassen. Insofern ueberzeugt auch das von ihr angewendete Konzept der "transmission of culture", wenngleich diesem - wie bereits ausgefuehrt - ein wenig mehr an sozialgeschichtlicher Bodenhaftung sicherlich nicht schaden koennte. Insgesamt aber hat man mit der Arbeit von Sabine Vogel einen in Methodik, Durchfuehrung und Inhalt ueberdurchschnittlichen Beitrag zur Forschung vor sich, dem - anders als manchem von ihr untersuchten Schulbuch des 16. Jahrhunderts - moeglichst viele freiwillige Leser zu wuenschen sind.

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