K. Orth: Die Konzentrationslager-SS

Titel
Die Konzentrationslager-SS. Sozialstrukturelle Analysen und biographische Studien


Autor(en)
Orth, Karin
Erschienen
Göttingen 2000: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten
336 S.
Preis
€ 29,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christian Scharnefsky, Friedrich-Meinecke-Institut, Freie Universität Berlin

Es ist nicht nur das ungeheure Ausmaß, das die Beschäftigung mit den Verbrechen des NS-Regimes kaum erträglich macht, sondern vor allem auch die Erkenntnis, daß sie von Menschen begangen wurden, die in ihrer Mehrheit weder mit besonderer krimineller Energie noch mit einer besonderen sadistischen Veranlagung ausgestattet waren. Dies konnte nicht zuletzt Christopher R. Browning in seiner Studie über "Das Reserve-Polizeibataillon 101 und die ›Endlösung‹ in Polen" zeigen 1. Waren aber auch die Lagerkommandanten und Abteilungsleiter in den nationalsozialistischen Konzentrationslagern "ganz normale Männer"? Schließlich handelte es sich bei ihnen ja gerade nicht um untergeordnete Erfüllungsgehilfen, sondern um das verantwortliche Führungspersonal des Terrorapparats. Was hatte sie bewogen, in den KZ-Dienst einzutreten? Wie konnten sie innerhalb des Systems der Konzentrationslager Karriere machen und sich auf ihren herausgehobenen Positionen behaupten? Was prägte sie in ihrer "dienstlichen Praxis" des Terrors und der Gewalt? Was wurde aus ihnen nach dem Zusammenbruch des Dritten Reiches? Welchen "Sinn" gaben sie ihrer verbrecherischen Tätigkeit im Rückblick?

Das sind die Hauptfragen, die Karin Orth in ihrem Buch über "Die Konzentrationslager-SS" zu beantworten versucht. Die Studie, die im Rahmen des von Ulrich Herbert geleiteten Forschungsprojekts "Weltanschauung und Diktatur" entstand, schließt eine Forschungslücke, denn das Führungspersonal der Konzentrationslager ist bisher kaum systematisch untersucht worden. Ein wesentlicher Grund hierfür liegt darin, daß es nur wenige subjektive Quellen wie private Aufzeichnungen, Briefe oder Memoiren aus dem Kreis dieser SS-Männer gibt, die es erlauben würden, Einzel- oder Gruppenbiographien im klassischen Sinne zu schreiben. Dahinter verbirgt sich jedoch weniger ein Überlieferungsproblem als vielmehr der Kern des Selbstverständnisses dieser Männer, die sich vor allem als "Männer der Praxis" sahen und es deshalb nicht gewohnt waren, sich schriftlich über ihr Leben und Handeln zu äußern. Als Hauptquellen standen Karin Orth daher in erster Linie die Personalakten der SS-Verwaltung, die Erinnerungsberichte überlebender Häftlinge sowie die Akten aus den Ermittlungs- und Strafverfahren der Nachkriegszeit zur Verfügung. Die theoretisch sehr anspruchsvollen Methoden der modernen Biographieforschung, der Psychologie und der Psychoanalyse konnten insofern auf den untersuchten Personenkreis keine Anwendung finden. Karin Orth löst dieses Problem, indem sie sich dafür entscheidet, im ersten Teil ihres Buches zunächst die "Rahmenbedingungen und Strukturen" der Konzentrationslager-SS darzustellen sowie das statistische Profil der Untersuchungsgruppe zu analysieren, um dann im zweiten Teil anhand von biographischen Studien über neun ausgewählte Lagerkommandanten den Werdegang dieser Personen "im historischen Kontext zu beschreiben: die Stationen des Lebenslaufes, die politische Sozialisation sowie in erster Linie die soziale Praxis des in den KZ ausgeübten Terrors" (18).

Zum Führungspersonal der seit 1936 nach einem einheitlichen Muster organisierten Konzentrationslager zählten neben dem jeweiligen Kommandanten auch die Abteilungsleiter, d.h. der Adjutant, der Leiter der politischen Abteilung, der I. Schutzhaftlagerführer, der Arbeitseinsatzführer, der I. Verwaltungsführer, der Standortarzt sowie der Führer der Wachmannschaften. In der Zeit des Dritten Reiches bekleideten insgesamt etwa 320 SS-Männer einen oder mehrere dieser Posten. Auf der Grundlage von 288 ausgewerteten Personalakten vermag Karin Orth nun nachzuweisen, daß es sich bei ihnen - abgesehen von den Standortärzten, die einer starken Fluktuation unterlagen - tatsächlich um eine spezifische Gruppe handelte, die - anders als die Mitglieder der Wachmannschaften - ständig in den Konzentrationslagern stationiert war, ohne jemals zu anderen SS-Dienststellen oder an die Front versetzt zu werden. Karin Orth bestätigt damit empirisch die bereits von Robert Louis Koehl und Raul Hilberg geäußerte Vermutung, daß es innerhalb des KZ-Personals eine relativ kleine "Expertengruppe" gegeben habe, die den sogenannten "Verwaltungskern" der Lager (Hilberg) bzw. die "Konzentrationslager-SS" (Koehl) bildete (12). Die Mitglieder der von Karin Orth untersuchten Gruppe (die nach der notwendigen Ausklammerung der Standortärzte schließlich insgesamt 207 Personen umfaßte) waren jedoch nicht nur durch ihre lange Dienstzeit im KZ-System verbunden, sondern zwischen ihnen lassen sich darüber hinaus auch zahlreiche Gemeinsamkeiten in der sozialen Herkunft, dem Lebensweg bis zum Eintritt in die SS und in der politischen Prägung feststellen: Die meisten SS-Führer wurden im Durchschnitt 1902 geboren, gehörten also der "Kriegsjugendgeneration" an, die den Ersten Weltkrieg nicht mehr an der Front erlebt hatte. Sie stammten "nicht aus sozialen Randgruppen, sondern aus der Mitte der Weimarer Gesellschaft" (88) und traten bereits sehr früh der NSDAP und der SS bei. Ihren Dienst in den Konzentrationslagern begannen sie in der Regel schon 1933/34 oder kurz darauf und erreichten im Alter von Anfang bis Mitte 30 Führungspositionen innerhalb der Lager-SS. - Die in Teil I ihrer Arbeit präsentierten sozialstrukturellen Analysen sind für Karin Orth ein unerläßlicher erster Schritt zum Verständnis der Konzentrationslager-SS. Mit Hilfe der Statistik ermittelte Laufbahnmuster können jedoch keine Auskunft über die Selbstwahrnehmung und die innere Dynamik der Untersuchungsgruppe geben. Diesen qualitativen Fragen geht Orth im zweiten Teil ihres Buches nach, indem sie exemplarisch die Lebensläufe von neun KZ-Kommandanten nachzeichnet, die sich in besonderer Weise auf ihrem Posten "bewährten" und für die es im Vergleich zu den anderen Mitgliedern des KZ-Führungspersonals eine recht gute Quellenbasis gibt.

Im Mittelpunkt der Studien zu den Werdegängen der Lagerkommandanten Martin Weiß (Neuengamme, Arbeitsdorf, Dachau und Majdanek), Richard Baer (Auschwitz und Mittelbau-Dora), Josef Kramer (Natzweiler, Auschwitz, Bergen-Belsen), Paul Werner Hoppe (Stutthof), Johannes Hassebroek (Groß-Rosen), Rudolf Höß (Auschwitz), Fritz Suhren (Ravensbrück), Hermann Pister (Buchenwald) und Max Pauly (Stutthof, Neuengamme) stehen jedoch nicht individuelle Charakterbilder, sondern die differenzierte Betrachtung bestimmter Einschnitte und längerfristiger Entwicklungen, die auch für die anderen Mitglieder der Konzentrationslager-SS typisch waren. An erster Stelle ist dabei die pervertierte militärische Ausbildung zu nennen, der sich das künftige Führungspersonal zunächst im Konzentrationslager Dachau unterwerfen mußte, das dessen erster Kommandant Theodor Eicke - seit 1934 "Inspekteur der Konzentrationslager" - zum "Modell" für alle übrigen Konzentrationslager gemacht hatte. Die sogenannte "Dachauer Schule" (127ff.) gewöhnte die SS-Männer systematisch an die alltägliche Ausübung von Gewalt, machte sie unempfindlich gegen ihre eigenen Gefühle und gegen die Qualen der gefolterten Häftlinge. Sie wirkte als "Initiationsritus" und schuf die Grundlage für das entstehende "Netzwerk der Konzentrationslager-SS" (151f.), das durch die gemeinschaftlich begangenen Verbrechen immer fester zusammengeschweißt wurde. Je länger die SS-Führer dann im System der Konzentrationslager Dienst taten und Karriere machten, um so mehr "empfanden [sie] im Laufe der Zeit Dinge als ›normal‹, die außerhalb ihrer Welt weiterhin als barbarisch galten" (151). Dieser "Umbau des Gewissens" (151) innerhalb der Lager-SS führte schließlich auch zu jener grotesken "Konstruktion der ›Anständigkeit‹" (250ff.), mit der sich die KZ-Kommandanten nach Kriegsende zu entlasten und zu rechtfertigen suchten: Sie behaupteten, stets "anständig" und "korrekt" ihren Dienst verrichtet und dabei immer das "Wohl" der Häftlinge im Auge gehabt zu haben.

Karin Orth hat mit ihrer Studie über "Die Konzentrationslager-SS" einen wichtigen Beitrag zur Erforschung einer zentralen Gruppe nationalsozialistischer Täter geleistet. Ihre Arbeit setzt neue Maßstäbe, weil sie in kritischem Bewußtsein der Quellenlage den Schwerpunkt nicht nur auf Einzelpersonen (wie etwa den schon häufig untersuchten Auschwitz-Kommandanten Rudolf Höß) legt, sondern zunächst die Gruppe insgesamt in den Blick nimmt und nach Karrieremustern und kollektiven Prägungen fragt. Gleichwohl muß auch diese sehr überzeugend durchgeführte Kombination von sozialstrukturellen Analysen und biographischen Studien wie jede historische Forschungsmethode da an ihre Grenzen stoßen, wo es nicht mehr darum geht, das Handeln der Täter sachlich zu erklären, sondern es in einem tieferen Sinne begreifbar zu machen. Gerade deshalb aber wird man Karin Orths mit der gebotenen Nüchternheit geschriebenes Buch lesen müssen.

Anmerkung:
1 Browning, Christopher R.: Ganz normale Männer. Das Reserve-Polizeibataillon 101 und die "Endlösung" in Polen, Hamburg 1993.

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