Titel
Die deutsche Südsee 1884-1914. Ein Handbuch


Herausgeber
Hiery, Hermann Joseph
Erschienen
Paderborn 2001: Ferdinand Schöningh
Anzahl Seiten
880 S.
Preis
€ 99,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Gabriele Dürbeck, Institut für Germanistik Universität Rostock

Handbuecher, die den Rang eines Standardwerkes erringen wollen, erfordern Zeit, hohe Kompetenz und vielfach gebuendeltes Wissen. Mit dem lange angekuendigten Handbuch zur "deutschen Suedsee" liegt nun ein solches Standardwerk vor. Es bietet nicht nur die "erste umfassende Geschichte der deutschen Kolonien" in einer sich bereits auf den ersten Blick erschliessenden Ordnung, sondern 59 Karten, 142 Abbildungen, zum Teil mit unveroeffentlichten Photographien, und zahlreiche Uebersichtstabellen mit statistischem Material verleihen den Detailuntersuchungen eine breitangelegte informative sowie aesthetische Anschaulichkeit. Darueber hinaus wird durch zahlreiche in den Text eingerueckte Originaldokumente (in grauem Kasten) mit Aussagen von Kolonial- und Verwaltungsbeamten, Missionaren, Ethnologen oder Aerzten eine vielfaeltige und beeindruckende Faktenbasis dargeboten, die auch eine Fundgrube fuer weiterfuehrende Forschungen bietet.

Der Historiker H. J. Hiery, mehrfach auf diesem Forschungsgebiet ausgewiesen, hat das Handbuch in sechs grosse Teile gegliedert. Einem ausfuehrlichen allgemeinen Teil mit uebergreifenden Themen wie etwa zur Geschichte des deutschen Kolonialismus (H. Gruender), zu Passagierschiffsverbindungen (A. Kludas), Techniken der Nachrichtenuebermittlung (R. Klein-Arendt), Schul- und Ausbildungssystem (Hiery) oder zur deutschen Sprache im Pazifik (P. Muehlhaeusler) folgen drei umfangreiche, ebenfalls in thematische Einzelbeitraege untergliederte Abschnitte zu den drei grossen Gebieten der Suedsee - gemaess der bis heute gueltigen Untergliederung des franzoesischen Entdeckers Dumont d'Urville - in Melanesien (II), Mikronesien (III) und Polynesien (IV). Sie informieren umfassend ueber Weltanschauung, Verwaltung und Wirtschaftssystem, ueber Rechtswesen sowie die englischen und katholischen Missionen in den drei Gebieten. Einzelne Schwerpunkte wie ein sehr materialreicher Artikel ueber das Gesundheitswesen in Melanesien (M. Davies), ueber die Gruendung eines Sonnenordens, eines "deutschen Utopia" auf Kabakon in Neuguinea (D. Klein) oder die anschauliche Geschichte der Beziehung zwischen Tonga und den Deutschen (J. H.Voigt) runden das Gesamtbild ab. Das Handbuch wird abgeschlossen durch einen kuerzeren Teil zum Verhaeltnis der Deutschen und seinen kolonialen Nachbarn (V) sowie einen Ausblick auf das Ende der 'deutschen Suedsee' mit dem ersten Weltkrieg von Hiery (VI). Dreissig Fachwissenschaftler, allein acht von Universitaeten im pazifischen Raum, vermitteln fundierte Spezialkenntnisse der einzelnen Suedseeinseln und Inselgruppen in sozial-, wirtschafts-, verwaltungs- und rechtsgeschichtlicher Hinsicht. Eine ueberzeugende interdisziplinaere Breite gewinnt das Handbuch zudem durch Beitraege aus den Gebieten der Kulturgeographie, Zoologie, Ethnologie, Linguistik und Germanistik, die groesstenteils auf Erkenntnissen eigener Feldforschungen der Autoren basieren und diese wissenschaftlich kontextuieren. Umfangreiche, zum Teil kommentierte Bibliographien sind den einzelnen Artikeln angefuegt (optisch leider auf engstem Raum zusammengedraengt). Ueber das Register sind weiterhin uebergreifende Wechselbeziehungen herstellbar.

Das deutsche "Kolonialexperiment"

Ausgangspunkt etlicher Einzelbeitraege ist der Nachzueglerstatus von Deutschland als Kolonialmacht. Wenn auch die Hauptphase der deutschen Erwerbungen in der Suedsee bekanntermassen erst 1884/85 einsetzte, so ging dieser eine laengere Periode deutscher 'Haendler-Siedler' - den 'beachcombers', deren Geschichte noch nicht geschrieben ist (2) - voraus, die den Boden fuer Nachfolger bereiteten und zur Verteidigung ihres Besitzes den zoegerlichen, auf Freihandelspolitik beharrenden Reichskanzler Bismarck zu einer aktiveren Kolonialpolitik veranlassten. Deutsche Handelsfirmen wie Johann Cesar Godeffroy & Sohn waren schon seit den spaeten 1850er Jahren (v.a. Koprahandel) mit deren Nachfolger, der Deutschen Handels- und Plantagengesellschaft (seit 1878), sowie Robertson & Hernsheim seit 1876 in vielen Inseln praesent. Sie kooperierten in den meisten Faellen mit den ansaessigen Missionsgesellschaften und stellten damit eine relativ gesicherte Situation fuer eine Begruendung deutscher Schutzherrschaft her. Damit war der "Handel [...] Grundpfeiler des deutschen Kolonialexperiments" (584), wie P. Hempenstall u.a. zeigt. Den zahlreichen Deutungsversuchen, die Bismarcks Zaudern innenpolitisch zu begruenden versuchen, stellt H. Gruender eine plausible These entgegen, die dessen "Umschwung" in der Kolonialpolitik aussenpolitisch durch die russisch-englischen Rivalitaeten in Afghanistan, den offenen Streit zwischen England und Frankreich um Aegypten sowie Englands prekaerer Lage in Asien und Sudan motiviert sieht, so dass Deutschland im europaeischen Kontext seine Gebiete in "relativer Ruhe" nach dem "Modell eines europaeischen Gleichgewichts" (38) habe einnehmen koennen. Ausserdem habe Bismarck mit seiner Entscheidung fuer eine aktive deutsche Expansion die seit den spaeten 1870er Jahren von verschiedenen Schichten getragene Kolonialbewegung und in der Oeffentlichkeit vehement diskutierte Kolonialfrage zur Festigung seiner eigenen Position nutzen koennen. Die Entwicklung der deutschen Kolonien vollzog sich in drei Phasen: Nach einem "mehr oder weniger planlosen Konquistadoren- und Abenteurertum" (47) folgte eine Phase der Stabilisierung und systematischen Erschliessung von Gebieten (v.a. 1895-97), bis mit dem neuen Programm von dem linksliberalen Bankier Bernhard Dernburg seit 1907 eine selbstbewusste Verwaltung, staatliche Entwicklungsprogramme fuer ueberseeischen Kapitalexport sowie - und das sei das Markenzeichen des deutschen Kolonialismus - eine eingeborenenfreundliche und kulturerhaltende Politik durchgesetzt wurden. Die wirtschaftliche Bilanz des deutschen Kolonialexperiments jedoch war, so Gruender, mit 0,6 % des gesamten Aussenhandelsvolumens "mager", kostenaufwendige Verwaltung und Niederschlagung von Aufstaenden fuehrten, bei allen nationalen Identitaetssehnsuechten, zu einem "nationalen Verlustgeschaeft" (56).

'Edle Wilde' und Kannibalen

Eines der uebergreifenden Themen des Handbuches ist der Topos vom 'Edlen Wilden'. Nicht nur das Cover mit der Abbildung des auf Neuguinea entdeckten Paradiesvogels, sondern auch die Einleitung und eine Reihe von Artikeln betonen die Exotik, welche die Suedsee fuer die Deutschen offenbar gehabt hatte. Dokumentiert wird, dass den Polynesiern, insbesondere den Samoanern, klassische Schoenheit, Intelligenz und edle Charaktereigenschaften zugesprochen wurden, waehrend man die melanesische Bevoelkerung haeufig, so Hiery, mit den Attributen "haesslich" und "wild", aber "doch irgendwie auch edel" (16) belegte. Die historische Perspektive wird dann auf die praktischen Konsequenzen dieser Auffassung gelenkt, die den Einheimischen in Samoa - im Unterschied zu Neuguinea - die Arbeit bei deutschen Unternehmen freistellte. Zugleich habe die Annahme der Primitivitaet jedoch eine eher zoegerliche Einfuehrung von europaeischen Vorstellungen beguenstigt. Demnach laesst sich im Handbuch als Tenor eine positive Beurteilung des deutschen Kolonialismus ausmachen, dessen Ziel es gewesen sei, "das typisch Indigene, charakteristisch Lokale herauszuarbeiten" (23) und durch eine behutsame Modernisierung zu bewahren. Dies wird durch zahlreiche Dokumente belegt, z.B. die Verbindung von Tradition und europaeischer Kultur durch Gouverneur Solf in Samoa, das als "Paradebeispiel der deutschen Lokalmethode" (661) aufgefuehrt wird. Wohltuend ist, dass der in der postkolonialistischen Debatte neu erhobene insinuierende Ton, der die moralische Integritaet und kritische Haltung des Forschers gegenueber jeder Form des Imperialismus hervorkehrt, hier nicht zur Voraussetzung der historischen Analyse gemacht wird. Vielmehr ist es das vielfach betonte Ziel des Handbuchs, die Wechselbeziehungen zwischen Deutschen und der indigenen Bevoelkerung in den Blick zu nehmen. Dass hierbei die kolonialistische Brille (bewusst oder unbewusst) trotzdem oft den Blick verstellt, gehoert zu der in der Nachfolge von Edward Saids Orientalismus-Studie (1978) immer wieder diskutierten unaufhebbaren Januskoepfigkeit der Erkenntnisse in der Fremdheitsforschung, deren kritische Aufnahme dem Handbuch noch einen aktuelleren Zuschnitt gegeben haette. So muesste der unangezweifelte Topos des 'edlen Wilden' (10, 17; 450; 725ff. u.oe.), seit Bougainvilles Tahiti-Bild auch fuer die Suedsee etabliert, sowohl nach seiner literarischen Herkunft als auch seinen Funktionen fuer die Zuschreibenden befragt werden. Auch das komplementaere Stereotyp, naemlich die grausame, kriegerische und kannibalische Natur der Suedseeinsulaner, waere in ethnologie- und kulturhistorischer Perspektive zu bewerten, statt das Phaenomen "Kannibalismus in Deutsch-Neuguinea" (S. Haberberger) allein als Straftat mit deren Opfern in einer statistischen Erhebung darzubieten.

'Weltbilder': Zur Ethnologie des Suedseevoelker

Die ethnologische Erfassung der einzelnen Suedseevoelker findet sich unter den Titeln Weltbild, Weltanschauung und Zeitrechnung. Im Beitrag ueber "Weltbilder in Gesellschaften Mikronesiens" (L. Kaeser/P. Steimle) werden diese definiert als "geschlossene Systeme von Vorstellungen vom Aufbau der erfahrbaren Wirklichkeit, d.h. [...] Kosmologien, deren physikalische Elemente einen engen Zusammenhang mit sozialen und historischen Gegebenheiten bilden" (478). Charakteristisch fuer die Mikronesier sei das "spirituelle Doppel" (zit. nach H. Fischer), wonach alle Dinge und Wesen in einer sichtbaren, materiellen Form existieren, die eine 'geistartige' Entsprechung habe; das 'Geistwesen' sei unabhaengig vom Koerper, aber um dessen Wohl und Schutz vor boesen Geistern besorgt, und es bleibe nach dem Tod als Ahnengeist bestehen. Als wichtigste Funktion dieses dualistischen Weltbilds wird das "Traumego" (484) herausgestellt, das Zugang zu allen Bereichen der Welt, des Himmels und der Ahnen habe. Der Beitrag zeichnet sich durch die paritaetische Beschreibung des Lebensbereichs der Frauen aus, der erst seit den 1980er Jahren erforscht ist. Der parallele Artikel zur Weltanschauung der Polynesier (T. Bargatzky) stellt hingegen deren monistische Glaubensvorstellung mit einem immanenten Goettlichen dar; im Begriff des 'aga', der Natur der Dinge, sind Materielles und Immaterielles aufgehoben. Ethische Werte sind, wie am Beispiel der Samoaner gezeigt wird, in einem streng hierarchischen System der Pflichterfuellung (gegenueber Gott, den Aelteren, der Familie und Gemeinschaft) vermittelt. Dabei ist, trotz missionarischer Bemuehungen, kein Begriff von individueller Schuld und genereller Suende vorhanden. In dem umfangreich kommentierten Literaturverzeichnis liefert Bargatzky u.a eine Zusammenfassung der Mead-Freeman-Debatte, in der Meads einflussreichem Topos vom friedfertigen, erotischen Paradies der Samoaner die These von deren aggressiv 'sizilianischem' Sexualverhalten mit haeufigen Vergewaltigungen entgegengestellt und auch die hoehere Plausiblitaet (etwas zurueckhaltender das Urteil von G. Koch, S. 129) zugesprochen wird (633f.). Darueber hinaus erhaelt der Leser grundlegende Informationen ueber "Die Menschen der Suedsee" (Koch) vom anthropologischen Typus ueber das Sozial- und Wirtschaftssystem bis zu Baustil, Werkzeugen (Ackerbau, Schiffsbau, Fischfang) und Kultgegenstaenden. Nach der Darstellung der sehr unterschiedlichen Typen, dem aufgeschlossenen Polynesier, dem bedaechtigeren, introvertierten Mikronesier und dem distanzierten misstrauischen Melanesier, ueberrascht dann allerdings das recht pauschale Resuemee: "sie alle wollen nach den [...] zum Teil Jahrhunderte waehrenden Kontakten mit den Europaeern, bald 'wie die Weissen sein', teilhaben an deren Lebensart und Besitztuemern" (128). Zurueckhaltender ist hier der Artikel ueber "wissenschaftliche Expeditionen" (M. Schindlbeck), der einen materialreichen Ueberblick ueber die Verquickungen der wirtschaftspolitischen und ethnologischen Erschliessung der Suedsee sowohl durch Wissenschaftler als auch durch Pflanzer, Oekonomen, Missionare und wohlhabende Reisende gibt und zusaetzlich wertvolle Hinweise ueber den Verbleib gesammelter Ethnographica (v.a. im heutigen Museum fuer Voelkerkunde Berlin) liefert.

In den meisten Artikeln des Handbuchs wird deutlich, dass Wirtschaft, Verwaltung, Mission, Sozial- und Rechtssystem in der 'deutschen Suedsee' aufs Engste miteinander verwoben waren. Neben der Zusammenfuehrung und Konsolidierung historiographischer Wissensbestaende liefert das Handbuch vielfaeltige neue Forschungsergebnisse, wobei ihm die Einzelurteile die noetige subjektive Wuerze verleihen. Das Handbuch ueber das deutsche "Kolonialexperiment" wird - nicht zuletzt durch die anschauliche Darbietung und interdisziplinaere Breite - nicht nur das fachwissenschaftliches Publikum als Leserschaft gewinnen.

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Epoche(n)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension