Titel
Wachsen im Wettbewerb. Eine Zeitgeschichte der Continental Aktiengesellschaft (1971-1996)


Autor(en)
Erker, Paul
Erschienen
Duesseldorf 1996: ECON Verlag
Anzahl Seiten
336 S.
Preis
DM 58,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Bernhard Lorentz, Humboldt Universität zu Berlin

Folgt man einem eben vom Autor des anzuzeigenden Buches verfassten Forschungsueberblick, ist die Unternehmensgeschichte in einem „Aufbruch zu neuen Paradigmen" begriffen. In der Tat ist eine intensivere Beschaeftigung mit unternehmenshistorischen Fragestellungen in der deutschen Historiographie unuebersehbar. Diese Entwicklung findet ihren Ausdruck nicht zuletzt in zahlreichen Sammelbaenden aber auch Einzelstudien ueber Branchenfuehrer sowie Mittelstaendler. Nicht zuletzt vor dem Hintergrund der aktuellen wirtschaftspolitischen Auseinandersetzungen ist eine Untersuchung auf der Mikroebene des Unternehmens reizvoll. Um so mehr verwundert es, dass gerade die Entwicklung der letzen 25 Jahre eher selten zum Gegenstand unternehmensgeschichtlicher Untersuchungen wird. Hier bestehen fraglos immense Luecken. Grob vereinfachend kann man zwei generelle Gruppen unternehmensgeschichtlicher Veroeffentlichungen erkennen: Zum einen eine zunehmend um methodische Reflexion und die Anwendung von theoretischen Modellen bemuehte zum anderen eine rein deskriptive, meist auf Anregung aus den Unternehmen heraus entstehende, die oft in Fest- oder Jubilarschriften veroeffentlicht wird. Bei den Veroeffentlichungen zu dem gegenwartsnahen Zeitraums der letzten 25 Jahre ueberwiegt die zweite Gruppe bei weitem. Dies haengt sicherlich mit den Vorstellungen der Vorstaende von Diskretion ueber das operative Geschaeft der unmittelbaren Vergangenheit zusammen.

Die anzuzeigende Studie des Berliner Sozial- und Wirtschaftshistorikers Paul Erker ueber die Continental Aktiengesellschaft ist anlaesslich des 125jaehrigen Firmenjubilaeums entstanden. Um es vorweg zu nehmen: Sie ist ein gelungenes Beispiel fuer die Moeglichkeiten einer Zusammenarbeit von Historiker und Unternehmen. Explizit konzentriert sich der Autor nach einer Zusammenfassung ueber die Zeit von der Gruendung 1871 bis zum Jahre 1968 auf die Entwicklung von 1970/71 bis 1996. Er konnte dabei auf umfassende Quellenbestaende im Unternehmensarchiv zurueckgreifen, die eine detaillierte Untersuchung gerade auch der gegenwartsnahen Zeitraeume ermoeglichte.

Durch ihre fruehe Internationalisierung und einen erfolgreichen Technologietransfer sowie innovative Rationalisierungskonzepte, die zu erheblichen Produktivitaetsverbesserungen fuehrten, konnte das Kautschukunternehmen Continental nach einer fruehen Expansionsphase im Kaiserreich schliesslich in der Zwischenkriegszeit an die Erfolge der Jahre vor 1914 anknuepfen. Erker betont drei fuer die Entwicklung des Unternehmens bis in die Gegenwart konstituierende Faktoren, die sich schon frueh abzeichnen: Abhaengigkeit von der eigenen Innovationsfaehigkeit, das Bewusstsein von Technologiefuehrerschaft und damit zusammenhaengend das praktisch von Anbeginn an bestehende Konkurrenzverhaeltnis zu Michelin sowie die internationale Zusammenarbeit mit dem amerikanischen Gummiriesen Goodrich und damit die Internationalisierung ueberhaupt. Diese Aspekte bestimmen die Unternehmenskultur und die >Corporate Identity< der Continental, die bis in die 90er Jahre "ein sehr deutsches Unternehmen" (316) blieb. Staatliche Eingriffe in der NS-Zeit und der zunehmende Verlust der unternehmenspolitischen Handlungsspielraeume im Zweiten Weltkrieg veranlassten auch das Hannoveraner Unternehmen zunehmend, sich mit dem System zu arrangieren und sich gleichzeitig auf die Nachkriegszeit vorzubereiten. Der Kapitalstock war wie bei vielen anderen deutschen Grossunternehmen bei Kriegsende erheblich vergroessert, doch eine Rueckkehr zu internationaler Wettbewerbsfaehigkeit fiel gerade in der hochinnovativen Gummibranche schwer. Investitionen im F & E Bereich fuehrten erst Mitte der 50er Jahre zu einem Anschluss an die Technologie des Weltmarktfuehrers Goodyear und einer zunehmenden Auseinandersetzung mit dem deutschen Konkurrenten Phoenix unter der Fuehrung von Otto A. Friedrichs.

In den sechziger Jahren befand sich das deutsche Kautschukunternehmen in einer veraenderten Wettbewerbssituation, die zu einem radikalen Strukturwandel der Branche fuehrte. Das zentrale Problem der Innovationsfaehigkeit stellte sich der Continental, als sie 1970 von Michelin nicht nur in der Groesse, sondern vor auch in der Technologie eindeutig abgehaengt wurde. Die Entwicklung des Stahl-Radial-Reifen hatte das an die technologische Fuehrung gewoehnte deutsche Grossunternehmen schlicht verpasst und in seiner Bedeutung unterschaetzt. Der Autor analysiert die Unternehmensentwicklung im engeren Untersuchungszeitraum der letzten 25 Jahre auf drei Untersuchungsebenen: Internationales Wettbewerbsumfeld, Entwicklung der deutschen Gummibranche und unternehmensinterne Vorgaenge. Als rote Faeden durch die Geschichte bezeichnet Erker ueberzeugend die Wettbewerbsentwicklung neben der Innovationsfaehigkeit des Unternehmens. Die Uebernahme des Vorsitzes des Aufsichtsrates durch Alfred Herrhausen im Oktober 1970 bedeutet eine entscheidende Zaesur und markiert gleichzeitig den Beginn der langen Krise des Konzerns und der beeindruckenden Aufholjagd gegenueber Michelin. Das anhaltende Engagement Herrhausens, aber auch des damaligen Vorstandsvorsitzenden der Deutschen Bank, Hermann Joseph Abs, in seiner Funktion als Aufsichtsratsvorsitzender der Phoenix, fuehrten zu einer "bankendominierten Ordnungspolitik" (87) der groessten Aktienpakethalter, die eine Fusion mehrerer deutscher Gummiunternehmen vorsah. Nach dem Scheitern der Krisenbewaeltigungsstrategie in Form einer Fusion mit Phoenix an dem Widerstand der Vorstaende der Unternehmen begann unter dem neuen Vorstandsvorsitzenden Carl Hahn 1973 eine Aera, in der die Continental versuchte, in einem umfangreichen Investitions- und Restrukturierungsprogramm aus eigener Kraft die verlorenen Marktpositionen zurueckzugewinnen. Diese Vorwaertsstrategie stand dabei in einer Kontinuitaet zu den Plaenen Herrhausens, der die Bemuehungen des neuen Vorstandes unterstuetzte. Hahns Krisenstrategie beinhaltete eine Modernisierung und Umorganisation der Fertigung, eine Kooperation mit Uniroyal im Bereich F & E sowie eine Umstrukturierung der Unternehmensbeteiligungen und Vertriebspolitik. Damit wurde zugleich der Prozess einer Divisionalisierung eingeleitet, der man Ende der siebziger Jahre schliesslich naeher kam (102). Die anhaltende Krise auf dem Reifensektor fuehrten das Unternehmen jedoch Ende der siebziger Jahre immer wieder zu Ueberlegungen ueber eine Aufgabe des gesamten Geschaeftes in dieser Sparte. Eindrucksvoll werden bei den erneuten Verhandlungen um eine Fusion mit Phoenix die Erfolgspotentiale eines koordinierten Widerstandes von Betriebsraeten, Vorstand und Landespolitik deutlich, die schliesslich 1977 zum erneuten Scheitern der geplanten "Gummiehe" fuehren.

Anhand der Auseinandersetzungen um die Durchsetzung des Mitbestimmungsgesetzes zwischen 1976 und 1979 wurden die Konfliktlinien zwischen Betriebsrat und Vorstand, aber zunehmend auch zwischen Aufsichtsrat und Vorstand sowie zwischen Betriebsrat und "radikalen" Arbeitern deutlich. Die "industrial relations" gestalteten sich nach der Durchsetzung der Paritaet im Aufsichtsrat und dem Abflauen der "wilden Streiks" immer mehr konstruktiv und spielten sich ein. Die seit Mitte der siebziger Jahre bestimmenden Entwicklungen des Produktionsprozesses und die neuen Formen der Arbeitsorganisation wie Gruppenarbeit, Enthirarchiesierung, neue Lohnbewertungskriterien und die Tarifauseinandersetzungen werden dabei von Erker als Teile eines sozialen Systems begriffen, das sich im Untersuchungszeitraum in einem entscheidenden Umbruch vom tayloristisch-fordistischen Modell" zum "posttayleristisch-japanisch gepraegten Konzept" entwickelte (315). Es wird deutlich, dass hierbei Continental im Branchenvergleich ein Vorreiter war, obgleich es in Fragen der Unternehmenskultur immer ein konservatives und sehr deutsches Unternehmen blieb.

Mit der Uebernahme der Europa-Division von Uniroyal 1979, der Akquisition von Semperit 1985 und General Tire 1987, schaffte die Continental endgueltig den "Durchbruch zum internationalen und nun auch zunehmend globalen Konzern" (166). Dies ist eine Entwicklung, die der Reifenproduzent damit mit vielen anderen deutschen Unternehmen nahezu gleichzeitig erfuhr. Diese Expansion durch Akquisition markierte gemeinsam mit der daneben durchgefuehrten Kooperationsstrategie im Bereich des Know-How-Transfers die Unternehmenspolitik der 80er Jahre, der massive unternehmensinterne Implikationen folgten: Die Struktur des Unternehmens musste ebenso wie das Investitions- und Innovationsverhalten wesentlich staerker als bisher angenommen veraendert werden. Dabei macht der Autor klar, dass in der wettbewerbsintensiven Kautschukbranche letztendlich die Maerkte die konzernstrukturellen Veraenderungen bestimmten, wie dies die betriebswirtschaftliche Theorie in verstaerktem Masse heute auch annimmt. "Structure follows market" urteilt Erker Autor ueber die Organisationsgeschichte von Continental (212). Dabei bereitete die Integration der neuen Unternehmen dem Konzern ungeahnte Schwierigkeiten und erst die Berufung von Helmut Werner zum Vorstandsvorsitzenden im Januar 1982 brachte den "entscheidenden Schub zur Integration von Uniroyal" (208).

Zunehmend machte sich in den 80er Jahren die spezifische Abhaengigkeit als Zulieferer der Automobilindustrie bemerkbar und damit die Notwendigkeit, mit Systemloesungen die Reifen in eine Gesamtloesung zu integrieren. Eine Einordnung des Anteils des Reifenherstellers an der Reorganisation der Automobilproduktion und ihrer Zuliefererbeziehungen, das wird hier deutlich, bleibt ein interessantes Forschungsdesiderat der bundesrepublikanischen Industriegeschichte. Erkers Arbeit gewaehrt einige aufschlussreiche Einblicke in diese Strukturen und industriellen Netzwerke. Mit neuen Systemen konnte Continental sich hier in partieller Kooperation mit dem Wettbewerber Michelin schliesslich durchsetzen und so Mitte der 80er Jahre endgueltig das "Radial-Syndrom" ueberwinden und ein erhebliches eigenes innovatives F & E Potential aufbauen. Damit war der "tiefgreifende Wandel der Kautschukindustrie zur High-Tech-Branche" vollzogen, der mit der zunehmenden "Komplexitaet des technologischen Produktes" sowie "einer Revolution der Arbeitsmethoden" und einer umfassenden Anwendung von EDV verbunden war (196).

In den 90er Jahren war die Entwicklung zunaechst von der Auseinandersetzung mit dem Uebernahmeversuch durch Pirelli gepraegt, dessen Abwehr von 1990 bis 1993 dauerte und in deren Verlauf der Vorstandsvorsitzende Horst Urban in der Auseinandersetzung mit dem Nachfolger von Herrhausen im Aufsichtsratsvorsitz Ulrich Weiss entlassen wurde, dessen Abwehrstrategie, wie der Autor ueberzeugend nachweisen kann, Continental jedoch schliesslich die Unabhaengigkeit bewahrte. Gerade in den solche Verhandlungen schildernden Passagen ist die Studie fesselnd geschrieben, ohne eine kritisch-analytische Distanz zu verlieren. Dank Erkers Untersuchung erfahren wir mehr ueber die Ordnungspolitik der Deutschen Bank und ihr Verhalten als Grossaktionaer. Hier ist das Buch eine wichtige Ergaenzung zu der juengst veroeffentlichten Geschichte der Grossbank. Auch die Untersuchungsebenen werden im grossen und ganzen beibehalten. Allein eine Einordnung in die Gesamtbranche und partiell auch ein Hinweisen auf die Entwicklung der Hauptkonkurrenten im Vergleich haette die Besonderheiten der Hannoveraner Entwicklung vielleicht noch etwas deutlicher werden lassen.

Ueberblickt man die Veraenderungen und Entwicklungen des Konzerns "in the long run" muss man den Prozessen der letzten Jahre ihre Besonderheit und subjektiv oft empfundene Einmaligkeit absprechen. Die Studie ist damit in vielerlei Hinsicht innovativ und ein 'Aufbruch zu neuen Paradigmen': Sie schreibt keine Erfolgsgeschichte sondern erklaert eine dynamische Entwicklung, vor deren Ergebnissen wir heute oftmals ratlos und ueberfordert stehen.

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