J. Rogall (Hg.): Deutsche Geschichte im Osten Europas

Titel
Deutsche Geschichte im Osten Europas. Land der großen Ströme. Von Polen nach Litauen


Herausgeber
Rogall, Joachim
Erschienen
Berlin 1996: Siedler Verlag
Anzahl Seiten
576 S.
Preis
€ 19,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Markus Krzoska, FU Berlin

Die Beschaeftigung mit dem deutschen Faktor in der Geschichte Mittel- und Osteuropas, die traditionell im Zentrum der deutschen Osteuropaforschung stand, hat - nach einer auch ideologisch bedingten Pause - in den letzten 10-15 Jahren wieder erheblich zugenommen.

Im Zusammenhang mit der dem wieder zunehmenden Interesse stand auch die Idee des Historikers Werner Conze in den 80er Jahren, eine wissenschaftliche Reihe zur "Deutschen Geschichte im Osten Europas" zu konzipieren, die dennoch fuer ein groesseres Publikum bestimmt sein sollte.

Der Band zur Geschichte der Deutschen in Polen sollte urspruenglich von dem Mainzer Osteuropahistoriker Gotthold Rhode herausgegeben werden; nach dessen Tod im Jahre 1990 ging diese Aufgabe auf seinen letzten Schueler Joachim Rogall ueber.

Ins Auge faellt zunaechst der ungewoehnliche Titel des Bandes, der eher an eine Geschichte Indiens oder Mesopotamiens denken laesst. Der Herausgeber hat aber Warthe, Weichsel, Bug und Memel im Auge. Dieser Ansatz scheint interessant zu sein, gibt es doch bisher keine wissenschaftliche Arbeit zu dieser Region, die die Rolle dieser Fluesse fuer das Leben besonders hervorhebt; ganz optimistische Leser erwarten vielleicht Vergleichbares zum grossen Mittelmeerbuch von Fernand Braudel, Georges Duby und Maurice Aymard ("La Mediterranee, L'Espace et l'histoire, Les hommes et l'heritage", Paris 1985).

Diese Hoffnung erfuellt sich leider nicht; ausser auf einigen Seiten der Einleitung wird weder dieser Topos noch der ihm zugrundeliegende wissenschaftliche Methodikansatz wieder aufgegriffen. Stattdessen ist ein eher konventionelles, wenn auch sehr solides Buch entstanden, das freilich seinem eigentlichen Thema nicht immer gerecht wird. In weiten Strecken handelt es sich eher um einen Schnelldurchlauf durch die Geschichte Polens. Der Ueberblick als solcher zeigt Rogalls ausgezeichnete Kenntnis der Details, inhaltliche Fehler finden sich fast keine, man kann lediglich ueber die Schwerpunktsetzung und Bewertung streiten. Rogall ist nach eigenen Worten bemueht, "das Schwert der Verleumdung in eine Pflugschar der Erkenntnis zu verwandeln und mit dieser das Feld der gemeinsamen Geschichte von Polen, Litauern und Deutschen zu bearbeiten, damit unter der Last der unmittelbaren Vergangenheit auch die Gemeinsamkeiten und Beispiele friedlicher Nachbarschaft zutage kommen". Diesen Anspruch koennen er und seine Co-Autoren meistens auch einloesen, je weiter die beschriebenen Ereignisse zurueckliegen, desto besser.

Die Konzeption des Buches ist freilich nicht immer gluecklich, Galizien wurde ausgeklammert, weil ihm ein eigener Band der Reihe gewidmet sein wird, die Behandlung Litauens geschieht sehr am Rande und etwas lieblos. Sehr gelungen sind die Teile ueber die kulturelle und wirtschaftliche Rolle der Deutschen in Polen, stoerend nur, dass sich immer wieder einmal die falsche Bezeichnung "polnische Teilungen" einschleicht, wo man doch nur von Teilungen Polens sprechen kann, da die Polen an ihnen ja selbst nicht mitwirkten.

Der Ueberblick ueber die polnische Geschichte vom Mittelalter bis zu den Teilungen gehoert in seiner knappen, aber praezisen Form zum Besten, was seit Rhodes "Kleiner Geschichte Polens" (Darmstadt, 1965) in Deutschland erschienen ist; praktisch alle im deutsch-polnischen historischen Diskurs umstrittenen Ereignisse (von der mittelalterlichen Ostsiedlung ueber die Schlacht bei Tannenberg/Grunwald 1410 bis zur Herrschaft der beiden Sachsenkoenige im 17./18. Jh.) werden souveraen und auf angemessene Weise dargestellt.

Problematischer wird es erst mit der Zeit nach der Revolution von 1848. Die von Richard Breyer bzw. Helmut Neubach verfassten Kapitel zur Entwicklung des preussischen Teilungsgebiets von 1815 bis 1918 gehen ueber die klassische Politik- und Verwaltungsgeschichte nicht hinaus, eine Beurteilung des Zusammenlebens aus polnischer Sicht findet sich nur in Krzysztof Makowskis Ueberblick ueber die Deutschen in Posen zwischen 1815 und 1870. Die Kapitel ueber das russische Teilungsgebiet von Breyer und Csaba Janos Kenez ueberzeugen eher, insbesondere in der Schilderung der Entstehung der Lodzer Industrie.

Die Rolle der Juden im preussischen und russischen Teilungsgebiet wird getrennt geschildert; dabei werden allerdings die Spannungen zwischen Juden und Deutschen, die es auch schon im 19. Jahrhundert gab, zu wenig ausgefuehrt, fuer die Zwischenkriegszeit und den Zweiten Weltkrieg taucht diese Frage fast ueberhaupt nicht mehr auf.

Die ausfuehrliche Darstellung der Ereignisse nach 1918 ist auch der schwaechste Punkt des Buches. Rogall haelt an zumindest fragwuerdigen Ergebnissen der aelteren Forschung zur Rolle der deutschen Minderheit in Polen fest, wenn er auch an einzelnen Stellen deren Aktivitaeten v.a. nach 1939 durchaus kritisch betrachtet. Die Umsiedlung von Auslandsdeutschen nach Polen wird wesentlich ausfuehrlicher dargestellt als etwa die geheime Finanzierung der deutschen Minderheit durch Organe der Weimarer Republik, die Propagandaaktivitaeten vom Ostmarkenverein bis zum Bund Deutscher Osten treten hinter der Schilderung des harmonischen kulturellen Lebens der "Volksdeutschen" zurueck; der Widerstand der Kirchen gegen den Nationalsozialismus wird ueberhoeht, die bereitwiliige Unterordnung grosser Teile v.a. der evangelischen Kirche schamhaft verschwiegen; auch der Frage der Mitverantwortung von Teilen der deutschen Minderheit bei der Judenvernichtung, eines moeglichen Zusammenhangs mit den Umsiedlungen aus dem Baltikum - wie ihn Goetz Aly zuletzt angedeutet hat - wird nicht genuegend nachgegangen.

Diese kritischen Anmerkungen sollen die Verdienste des Buches nicht schmaelern; es gibt bisher keine bessere Darstellung der Geschichte der Deutschen in Polen. Klar ist aber auch, dass auf diesem Feld - wie in grossen Teilen der deutschen "Polenforschung" - noch viel Arbeit, v.a. im methodischen Bereich, zu leisten ist. Der Titel und Teile der Einleitung weisen die Richtung, in die es gehen muss; sozial- und mentalitaetsgeschichtliche Ansaetze sind bisher zu kurz gekommen; dabei kann es nicht darum gehen, geopolitische oder volkstumsgeschichtliche Ansaetze der Zwischenkriegszeit wieder auszugraben, und auch nicht jede Arbeit muss unter dem Paradigma der "Beziehungsgeschichte" verfasst werden; noetig ist vielmehr ein neuer Blick auf das Zusammenleben verschiedener nationaler und gesellschaftlicher Gruppen unter Beachtung des regionalen und sozialen Faktors.

Vielleicht ueberrascht uns und die gesamte Ostmitteleuropaforschung ja einmal jemand mit einer wirklichen Geschichte der Weichsel oder des Ostseeraums und befreit die ganze Zunft vom Nachklingen der belasteten Traditionen der deutschen Ostforschung.

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