Dieckmann, Chr. u.a. (Hgg.): Kooperation und Verbrechen

Cover
Titel
Kooperation und Verbrechen. Formen der "Kollaboration" im östlichen Europa 1939-1945


Herausgeber
Dieckmann, Christoph; Quinkert, Babette; Tönsmeyer, Tatjana
Reihe
Beiträge zur Geschichte des Nationalsozialismus 19
Erschienen
Göttingen 2003: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten
319 S.
Preis
€ 20,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jörg Ganzenmüller, Historisches Seminar, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg

In der Historiografie zum Zweiten Weltkrieg wird die Bedeutung der "Kollaboration" im östlichen Europa allgemein hoch veranschlagt. Bis heute ist jedoch ihre jeweilige Ausformung ebenso wenig wie die Motive ihrer Akteure untersucht worden. Hier liefern die "Beiträge zur Geschichte des Nationalsozialismus" einen wichtigen Beitrag, indem sie diesem Phänomen ihre aktuelle Ausgabe widmen. Das Themenheft vereint sieben Fallbeispiele, die größtenteils auf umfangreichen Forschungsarbeiten basieren, die momentan im Entstehen sind oder vor kurzem abgeschlossen wurden. Die Herausgeber haben die Frage nach den Handlungslogiken der einheimischen Funktionseliten in das Zentrum des Erkenntnisinteresses gerückt und damit die Grundlage für einen Vergleich gelegt.

Welche Ergebnisse lassen sich festhalten? Zunächst lehnen alle Beiträge den Begriff "Kollaboration" ab. Er ist zum einen pejorativ und hat zum anderen eine politische Dimension, so dass er bei der Beschreibung politisch indifferenter Zusammenarbeit in Wirtschaft und Verwaltung nicht greift. Die Herausgeber schlagen als Alternative die Bezeichnung "Kooperation" vor. Die Autoren operieren darüber hinaus auch mit Begriffen wie "einheimische Beteiligung" oder "Zusammenarbeit".

Als zweites zeigen die Analysen der Handlungslogiken, dass eine Zusammenarbeit zwischen den Deutschen und einheimischen Führungsgruppen vorwiegend in denjenigen Bereichen zustande kam, in denen sich ihre Interessen überschnitten. Der althergebrachte Kollaborationsvorwurf, der den einheimischen Akteuren stets unterstellte, Vaterlandsverräter und bloße Erfüllungsgehilfen der Deutschen gewesen zu sein, wird dem Problem also nicht gerecht. Denn während die deutsche Seite in erster Linie an der Indienstnahme des jeweiligen Wirtschaftspotentials für die eigene Kriegswirtschaft interessiert war, versprachen sich verbündete Länder wie die Slowakei einen Technologietransfer, von dem die einheimische Industrie profitiert hätte. Tatjana Tönsmeyer zeigt in ihrem Beitrag, dass für die slowakische Regierung der konkrete Nutzen, den das Bündnis mit dem Reich einbrachte, im Allgemeinen handlungsleitend war. Es ging also weniger um Loyalität zu den Deutschen als um die Verwirklichung eigener Vorstellungen im Hinblick auf die Organisation der slowakischen Nation. Demzufolge stieß die Kooperationsbereitschaft auch schnell an ihre Grenzen, wenn deutsche Forderungen slowakischen Interessen zuwiderliefen. So weigerte sich die Regierung in Bratislava schon einmal, die Holzlieferungen an das Reich weiter zu erhöhen und stoppte 1943 auch die Judendeportationen, da ihr die verbliebenen 30.000 Juden für die eigene Wirtschaft unentbehrlich erschienen. Auch verbat sich Hlinkas Einheitspartei jegliche Kritik vonseiten der Nationalsozialisten an ihren ständestaatlichen Vorstellungen. Tönsmeyer betont, dass die slowakischen Machthaber zwar einen "Know-how-Transfer" zum Aufbau eines autoritären Staates gerne annahmen, einen Ideologietransfer hingegen ablehnten.

Nach Klaus-Peter Friedrich kann die Kooperation mit dem Feind im besetzten Polen ebenso wenig als bloßer Verrat gewertet werden. Die polnischen Dorfschulzen, vor dem Krieg von der Landbevölkerung als Vertrauensleute einberufen, waren nun für die Erfassung und die Ablieferung der Agrarerzeugnisse an die Besatzungsbehörden zuständig. Dabei gingen die Deutschen nach dem Prinzip „Zuckerbrot und Peitsche“ vor. Die Dorfschulzen wurden einerseits mit Prämienzahlungen belohnt, andererseits für die Erfüllung ihrer Pflichten persönlich verantwortlich gemacht. Auch die polnischen Agrarhandelsgenossenschaften arbeiteten mit den Besatzern zusammen. Für die Deutschen hatte dies den Vorteil, eigenes Personal einzusparen, und die polnischen Genossenschaften schalteten so die Konkurrenz jüdischer Klein- und Großhändler aus. Gleichzeitig bot diese Form der Zusammenarbeit auch die Möglichkeit, Hilfe für die polnische Gesellschaft zu organisieren, den Grad der Ausbeutung zu begrenzen und zuweilen sogar wirtschaftliche Sabotage auszuüben.

Im Donbass zeigten sich weite Teile der Bevölkerung zu Beginn der deutschen Besatzung indifferent. Tanja Penter legt dar, wie unter den Arbeitern eine starke Identifikation mit ihren Betrieben zu einer Kooperationsbereitschaft führte. Sie waren ebenso wie die Besatzer daran interessiert, die von der Roten Armee bei ihrem Rückzug zerstörten Fabriken wieder in Gang zu bringen. Die Ingenieure versprachen sich von den Deutschen darüber hinaus eine Modernisierung der Betriebe. So bildete die lokale Gesellschaft am Donbass keine Solidargemeinschaft, wie es die sowjetische Geschichtsschreibung gern darstellte. Mitarbeit bei der Polizei oder in der lokalen Verwaltung war vielmehr eine verbreitete Überlebensstrategie, da man mit Hilfe solcher Tätigkeiten höhere Lebensmittelrationen erhielt. Mitunter mögen Gegner des sowjetischen Regimes den Dienst unter den Besatzern auch dazu genutzt haben, alte politische Rechnungen zu begleichen.

Selbst im Fall der ukrainischen Wachmannschaften der SS ist die Sache komplizierter, als sie auf den ersten Blick erscheint. Frank Golczewski weist darauf hin, dass viele dieser Freiwilligen gar nicht wussten, auf was sie sich einließen. Sie gingen häufig davon aus, zur Armee zu kommen. Waren sie aber erst einmal bei ihren Verbänden angekommen, gab es kaum noch eine Möglichkeit, sich des Dienstes zu entziehen. Wer sich selbständig von der Truppe entfernte und aufgegriffen wurde, kam in das Konzentrationslager Majdanek, manchmal mit dem Vermerk, dass man auf seine Rückkehr keinen Wert lege. Die Grenze zwischen freiwilliger "Kollaboration" und Zwangsverpflichtung konnte also fließend sein.

Als drittes Ergebnis lässt sich festhalten, dass bei der Erfassung, Ausgrenzung und Deportation der jüdischen Bevölkerung die Zusammenarbeit am reibungslosesten funktionierte. Da das Deutsche Reich im östlichen Europa über viel zuwenig Personal verfügte, war es auf die Beteiligung einheimischer Institutionen angewiesen, um die ansässigen Juden zu erfassen, zu deportieren und zu töten. Mariana Hausleitner schildert zum Beispiel, wie die deutsche Einsatzgruppe D und rumänische Sondereinheiten bei der Vertreibung und Ermordung der Juden in Bessarbien und der Nordbukowina Hand in Hand arbeiteten. In allen Einzelstudien wird zudem deutlich, dass die „Implementierung“ antijüdischer Maßnahmen nicht unbedingt von deutscher Seite ausgehen musste, sondern auch auf Initiative der nationalen Regierungen oder der lokalen Verwaltung erfolgen konnte.

Die Bevölkerungsmehrheit versuchte ihrerseits stets, Profit aus der Judenverfolgung zu schlagen. Katrin Reichelt beschreibt, wie es in Lettland zu einem regelrechten Tauziehen zwischen den deutschen Besatzern und der lettischen Bevölkerung um das jüdische Eigentum kam. Dabei war die lettische Initiative groß, ihr Handlungsspielraum hingegen klein, denn ihre Aneignungsbestrebungen widersprachen den deutschen Ausbeutungszielen. So hatten die Letten in Riga keinen Zugriff auf das jüdische Vermögen und mussten sich mit Gebrauchsartikeln abfinden.

Die Ghettoisierung der Juden zog in der Regel einen Kampf um die jüdischen Wohnungen nach sich. Einen aufschlussreichen Sonderfall stellt Budapest dar, da dort den Juden nicht ein geschlossener Stadtbezirk, sondern 2.639 über die Stadt verteilte Mietshäuser zugewiesen wurden. Bald begann unter den Budapestern ein Feilschen um die Form dieses "Streughettos". Tim Coles Analyse der Petitionen in diesem "Verteilungskampf" zeigt, wie die Bevölkerung den antisemitischen Diskurs der Regierung übernahm, um ihre materiellen Interessen durchzusetzen. Da sowohl Nichtjuden als auch Juden in ihren Wohnungen bleiben wollten, versuchte nun jede Seite, die Einstufung ihres Wohnhauses als "nichtjüdisches" beziehungsweise "jüdisches" Eigentum zu erwirken. Dabei griffen beide Seiten auf antisemitische Argumente zurück, das heißt, es kam durchaus vor, dass Juden gegen die Klassifizierung ihres Hauses als "nichtjüdisches" Eigentum mit dem Hinweis auf die ungünstige Lage oder den schlechten Zustand der Wohnungen Einspruch erhoben. Deshalb ist kaum zu beurteilen, in welchen Fällen die ungarische Bevölkerung solche Diskurse in mehr als nur instrumenteller Weise einsetzte.

Die Berücksichtigung der Wirtschafts- und Sozialpolitik der jeweiligen Länder hat schließlich als viertes Ergebnis zu Tage gefördert, dass die Kontinuitäten zur Zwischenkriegszeit erheblich größer waren, als bislang wahrgenommen. Die Modernisierungskrise der 20er und 30er-Jahre hatte vor allem auf der politischen Rechten die Utopie eines vermeintlich sozialen Nationalismus geschürt. So kursierten in Polen in der Zwischenkriegszeit Ideen einer Polonisierung des Landes, also einer Enteignung jüdischer und ausländischer Unternehmen sowie der Aussiedlung der rund drei Millionen Juden. Im Krieg fehlte dann bei vielen Polen das Empfinden, mit den Juden in einer Schicksalsgemeinschaft zu leben. Stattdessen schlug man aus den Enteignungen und Berufsverboten Profit und verwirklichte damit schon länger gehegte Vorstellungen.

Die Kooperation weiter Bevölkerungsteile mit den Deutschen war hingegen häufig apolitischer Natur. Die Motive reichten dabei von Überlebensstrategien bis hin zur rücksichtslosen Ausnutzung der Notlage jüdischer Mitbürger. Man musste die deutschen Besatzer nicht mögen, um mit ihnen zusammenzuarbeiten. Für das Funktionieren der deutschen Herrschaft reichte es aus, dass die Bevölkerung und Teile der Lokalverwaltung Loyalität gegenüber den neuen Machthabern an den Tag legten. Diese Loyalität speiste sich überwiegend aus drei Quellen: die Angst vor Sanktionen, die Wahrnehmung von Interessen durch die Bevölkerungsmehrheit und das Streben des Einzelnen nach persönlichen Vorteilen.

Es bleibt festzuhalten, dass den Herausgebern ein Themenheft geglückt ist, das keine zufällige Anhäufung heterogener Untersuchungen darstellt. Vielmehr verfolgen die durchweg Neuland betretenden Beiträge ein gemeinsames Erkenntnisinteresse und kommen aus diesem Grunde auch zu Ergebnissen, die eine vergleichende Analyse ermöglichen. Diesen Vergleich könnte man punktuell auf das Deutsche Reich ausweiten. Gerade das Desinteresse am Schicksal der Juden bei der Bevölkerungsmehrheit in den besetzten Ländern, die offenbar nur im Sinn hatte, sich auf Kosten der Opfer zu bereichern, ist auch in der deutschen Gesellschaft vorzufinden. Diese interessengeleiteten Verhaltensweisen dürften nicht nur der deutschen Fremdherrschaft im östlichen Europa die nötige Stabilität verliehen haben, sondern in Wechselwirkung mit weltanschaulichen Überzeugungen zu einem breiten Rückhalt des Regimes in Deutschland selbst geführt haben. Diese Interpretationsrichtung wurde jüngst auch von Götz Aly eingeschlagen, demjenigen also, der die Reihe, in der das Themenheft erschienen ist, begründet und jahrelang geprägt hat. So hat die Zeitschrift zwar ihren Namen vereinfacht und verallgemeinert, das ursprüngliche Erkenntnisinteresse der Gründer aber durchaus – und mit hohem Erkenntnisgewinn für den Leser – beibehalten.

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