B. Weisbrod (Hg.): Die Politik der Öffentlichkeit

Cover
Titel
Die Politik der Öffentlichkeit - Die Öffentlichkeit der Politik. Politische Medialisierung in der Geschichte der Bundesrepublik


Herausgeber
Weisbrod, Bernd
Reihe
Veröffentlichungen des zeitgeschichtlichen Arbeitskreises Niedersachsen 21
Erschienen
Göttingen 2003: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten
283 S.
Preis
€ 30,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Birgit Schwelling, Kulturwissenschaftliche Fakultät, Europa-Universität Viadrina Frankfurt an der Oder

Auf dem Cover des Sammelbandes ist ein Foto vom Februar 1968 abgebildet, das einen Zug untergehakter Demonstranten zeigt, die sich im Laufschritt bewegen. Ihr Ziel ist jedoch keine zu stürmende Barrikade, sondern ein Kameramann, hinter dem wiederum mindestens ein weiterer Fotograf stehen muss, der das besagte Bild aufnimmt. Wie Habbo Knoch in seinem Beitrag über „Dokumentarfotografie und die Politisierung der westdeutschen Öffentlichkeit vor 1968“ bemerkt, bleibt unklar, „ob die medienkonforme, dynamische Bewegung der Demonstranten noch auf anderes zielt“ als auf die Medienberichterstatter selbst (S. 97): „Angesichts der an den Seiten und in den hinteren Reihen stehenden, schlendernden und sich abwendenden Demonstranten könnte es gut sein, dass der Sturm auf die Barrikaden der ‚autoritären Gesellschaft’ in dieser Situation allein ein Sturm für die Medien ist.“

Anhand dieser Fotografie und ihrer Interpretation lässt sich die Themenstellung des Sammelbandes bestens verdeutlichen. Wie Bernd Weisbrod in der Einleitung erläutert, ist zu fragen, inwiefern Medien gesellschaftlichen und politischen Wandel nicht nur thematisieren, sondern als Akteure selbst an dessen Zustandekommen beteiligt sind bzw. den Wandel sogar erst bewirken. Man könnte einen solchen Zugang auch als „Medienanalyse in der Erweiterung“ bezeichnen, denn es geht nicht ausschließlich darum, Medien als Spiegel oder Instrument von Gesellschaft und Politik zu lesen. Eine solche Herangehensweise sieht Weisbrod zwar als notwendigen Bestandteil einer jeden Medienanalyse; hinreichend könne sie jedoch deshalb nicht sein, weil damit der „Selbst-Thematisierung“ des untersuchten Mediums nicht zu entkommen sei (S. 12). Vielmehr schlägt Weisbrod vor, Medien und deren Produzenten auch als Hersteller von (politischer) Öffentlichkeit in den Blick zu nehmen. Er nimmt dabei an, dass Medienöffentlichkeiten „von politischen und journalistischen Akteuren mit messages gefüllt“ sowie vom Publikum „abgeholt und abgewandelt“ werden (S. 19). Es geht also um einen methodischen Zugang, der die eher traditionelle Frage nach der Darstellung von Politik in den Medien um die Analyse der Herstellung von Politik und politischer Öffentlichkeit durch die Medien erweitert.

Das ist ein anspruchsvolles Programm, das mir in den Aufsätzen von Habbo Knoch und Willibald Steinmetz am deutlichsten umgesetzt scheint. Knoch beschäftigt sich in seinem schon erwähnten Beitrag mit dem Einfluss der Dokumentarfotografie auf die Bewegung von 1968 in der Bundesrepublik. Er zeigt auf, dass Fotografien und Fernsehbilder die Protestbewegung mit einem „ikonographischen Resonanzraum“ (S. 97) ausstatteten, der in besonderer Weise zu ihrer Dynamisierung und Legitimierung beitrug. Beeinflusst wurde dies nicht nur von den Spezifika des internationalen Fotojournalismus, die sich seit dem Zweiten Weltkrieg herausgebildet hatten und seit Mitte der 1950er-Jahre auch die Bildgestaltung in westdeutschen Druckerzeugnissen zunehmend prägten, sondern auch durch eine neue Generation engagierter, anspruchsvoller Fotografen und die erheblichen Veränderungen in der Gestaltung der Illustrierten um 1960 (Zunahme des Bildanteils und der Qualität der Abbildungen). Letzteres hatte zur Folge, dass der „symbolgeladenen Fotografie“ (S. 114) mehr Raum zugestanden wurde. Wesentlich für die „Bestückung“ des Bildhaushaltes der 68er-Bewegung waren Bildreportagen von internationalen Krisenherden und Kriegsschauplätzen, die schließlich mit der Berichterstattung über den Vietnam-Krieg zu einer „enttabuisierten Visualisierung politischer Gewalt“ führten (S. 122) und von den Akteuren des politischen Protests in der Bundesrepublik genutzt wurden – zusammen mit dokumentarischen Bildern der NS-Verbrechen. Knoch kann überzeugend nachweisen, dass „die Prägung des massenmedialen Bildraums durch den engagierten Fotojournalismus und die Bildreportagen von Gewalt und Protest [...] einen erheblichen Anteil an der Dynamik der inneren Auseinandersetzung in der Bundesrepublik“ hatte (S. 122).

Steinmetz gelingt es in seinem Beitrag „Ungewollte Politisierung durch die Medien? Die Contergan-Affäre“, ein Beispiel für die Politisierung eines Konfliktes durch die Medien minutiös nachzuzeichnen. Was außerhalb der Politik begann – nämlich im vorpolitischen Raum der medizinischen und juristischen Fachöffentlichkeiten –, gewann erst durch die Medienberichterstattung an politischer Brisanz. Zentral ist dabei die Analyse von „Thematisierungseffekten“ (S. 201), die mit dem Fall Contergan verbunden waren und die Politik und Öffentlichkeit schließlich dazu brachten, „sich mit Fragen auseinanderzusetzen, die bis dahin gleichsam unterhalb der Schwelle öffentlicher Diskussionen gelegen hatten. Contergan trug wesentlich dazu bei, dass Dinge überhaupt erst zu politischen Themen wurden, die vorher als Experten- oder Privatsache gegolten hatten oder mit Tabus belegt waren“ (S. 201).

Solche empirische Genauigkeit vermisst man in manch anderem Beitrag. Während Steinmetz exakt anzugeben vermag, welche Medien den Themenkomplex Contergan zu welchem Zeitpunkt und mit welchem Effekt thematisierten, verzichtet Sybille Buske in ihrem Aufsatz „Die Veröffentlichung des Privaten. Die mediale Konstruktion der ledigen Mutter in den sechziger und siebziger Jahren“ bedauerlicherweise auf die für die Fragestellung des Sammelbandes entscheidenden Belege. Wenn sie etwa schreibt, dass „die Journalisten starken politischen Druck [erzeugten], der maßgeblich dazu beitrug, dass das Justizministerium den ersten Entwurf [des Nichtehelichenrechts] gründlich überarbeitete“ (S. 189), oder dass „die Medialisierung von Unehelichkeit und die Entstehung eines Verbandes betroffener Mütter aufs Engste miteinander verzahnt [waren]“ (S. 193), hätte man darüber angesichts der in der Einleitung formulierten Kernfrage doch gern mehr erfahren bzw. zumindest empirische Nachweise vorgefunden. Vermutlich verweist dies auch auf die Komplexität des von Weisbrod entworfenen Programms, das wegen der zahlreichen Faktoren, die in Rechnung gestellt werden müssen, um zu gesicherten Aussagen zu gelangen, gewiss nicht einfach umzusetzen ist.

Die hier vorgebrachte Kritik an Buskes Beitrag bedeutet allerdings nicht, dass der Text nicht lesenswert und informativ wäre. Dies gilt auch für die anderen Aufsätze, die sich mit Wahlkämpfen (Thomas Mergel und Daniela Münkel), mit dem Begriff des „Mediendispositivs“ als kulturwissenschaftlichem Konzept (Knut Hickethier), mit Medienskandalen zwischen Staatsgründung und Ära Brandt (Frank Bösch), mit „Aufmerksamkeit“ als Ansatzpunkt analytischer Zugriffe auf Massenmedien (Karl Christian Führer) und mit dem Zusammenhang von Produktkultur und politischer Öffentlichkeit (Rainer Gries) beschäftigen – und auf die an dieser Stelle nicht ausführlich eingegangen werden kann.

Stattdessen soll noch auf einen Zusammenhang aufmerksam gemacht werden, der eher am Rande Thema des Sammelbandes ist, jedoch auf eine neuere Perspektive in der Erforschung kollektiver Identitäten und Gedächtnisse verweist. Bernd Weisbrod erwähnt in seiner Einleitung, dass nahezu jede politische Medialisierung in der Geschichte der Bundesrepublik auch einen „vergangenheitspolitischen Sinn“ (S. 23) besitze. Paul Betts greift diesen Aspekt in seinem Beitrag „Ästhetik und Öffentlichkeit. Westdeutschland in den fünfziger Jahren“ in sehr origineller und innovativer Weise auf, indem er einen Zusammenhang herstellt zwischen Industriedesign und der Formierung der westdeutschen Öffentlichkeit. Er kann dabei überzeugend belegen, dass Design als „einzigartiger Schmelztiegel für die Konstruktion neuer kultureller Identitäten“ fungierte (S. 237). Betts’ Beitrag lässt sich zu einer Forschungsrichtung rechnen, die mit Alon Confino und Peter Fritzsche als „dritte Generation“ in der Erforschung von Gedächtnis und Erinnerung bezeichnet werden kann.1 Gemeint sind damit Ansätze, die die Nachwirkungen von Vergangenheit nicht mehr nur in offensichtlichen Repräsentationsformen wie etwa Denkmälern oder Museen aufsuchen, sondern nach „practical uses of the category memory“ fragen: „the way [memory] comes to structure perceptions, to inform thought, to construct identities, to determine policies, and to explain situations“.2 Perspektiven solcher Art, wie Betts sie für die Geschichte der Bundesrepublik hinsichtlich des Nachwirkens von Krieg und Zerstörung entwickelt, sind relativ neuartig. Man würde sich in Zukunft mehr davon wünschen.

Anmerkungen:
1 Confino, Alon; Fritzsche, Peter, Introduction: Noises of the Past, in: Dies. (Hgg.), The Work of Memory. New Directions in the Study of German Society and Culture, Chicago 2002, S. 1-21. Siehe dazu die Rezension von Moritz Föllmer: <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2004-1-003>.
2 Confino, Alon; Fritzsche, Peter (wie Anm. 1), S. 5.

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