R. Muhs u.a. (Hgg.): Aneignung und Abwehr

Titel
Aneignung und Abwehr. Interkultureller Transfer zwischen Deutschland und Großbritannien im 19. Jahrhundert


Herausgeber
Muhs, Rudolf; Paulmann, Johannes; Steinmetz, Willibald
Reihe
Arbeitskreis Deutsche England-Forschung, Veröffentlichung 32
Erschienen
Bodenheim 1998: Philo Verlag
Anzahl Seiten
320 S.
Preis
€ 39,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Andreas Fahrmeir, Lehrstuhl für Zeitgeschichte, Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt

Die gegenseitige Wahrnehmung Deutschlands und Grossbritanniens aenderte sich bekanntlich zwischen 1815 und 1914 grundlegend. Deutschland entwickelte sich in britischen Augen von einem wirtschaftlich rueckstaendigen, allenfalls fuer seine Philosophen, Historiker und Dichter bemerkenswerten Sammelsurium weniger groesserer Staaten und zahlreicher Duodezfuerstentuemer zu einem ernstzunehmenden wirtschaftlichen Konkurrenten und militaerischen Gegner; Grossbritannien wandelte sich aus deutscher Perspektive vom Alliierten aus der Zeit der Napoleonischen Kriege und von manchen bewunderten Vorbild liberaler Politik zum 'perfiden Albion'. So zutreffend diese pauschale Charakterisierung auch sein mag, so wenig sagen solche (re-)konstruierten Querschnitte der 'oeffentlichen' Meinung ueber Ausmass und Wirkung internationaler Kontakte aus. Die Herausgeber dieses Bandes, der aus der Jahrestagung 1995 des 'Arbeitskreis Deutsche England-Forschung' in Muehlheim an der Ruhr hervorging, naehern sich dem Problem mittles eines an das von Michael Werner und Michel Espagne entwickelten Konzepts des "Kulturtransfer" 1 angelehnten methodischen Instrumentariums an, das in einem einleitenden Beitrag von Johannes Paulmann ausfuehrlich vorgestellt wird. Indem sie den Blick direkt auf die Vermittler von kulturellen Konzepten zwischen beiden Laendern richten, koennen sie praezisere Aussagen ueber Ursachen, Verlauf und Ergebnisse von Kontakten zwischen zwei Nationalkulturen machen, als das bei einem pauschalen Ueberblick ueber die Vorstellung vom "Anderen", die eine kaum naeher definierte 'Oeffentlichkeit' hat, moeglich waere. Da die Vermittlung in der Regel durch eine begrenzte Gruppe von Personen geleistet wird, ist es auch moeglich, die sozialgeschichtliche Dimension solcher Transferprozesse zu erfassen.

"Kulturtransfer" konnte auf allen Gebieten stattfinden. Allerdings ist das Konzept insofern epochenspezifisch, als es die Existenz von 'Nationalkulturen' voraussetzt, zwischen denen vermittelnde Personen Inhalte transferieren. Transfer zwischen diesen Nationalkulturen gilt als qualititativ anders als Kontakte zwischen verschiedenen Gruppen innerhalb derselben Nation, die - je nach Kulturbegriff - ja auch unterschiedlichen Kulturen angehoeren koennen. Die Existenz solcher Nationalkulturen in Grossbritannien und Deutschland sehen die Herausgeber erst ab dem 19. Jahrhundert als gegeben an.

Der empirische Teil des Bandes beginnt mit einem Beitrag von Rudolf Muhs, einem der besten Kenner der verschiedenen 'Schienen' kultureller Kontakte zwischen Deutschland und Grossbritannien im 19. Jahrhundert, ueber die "Rahmenbedingungen des deutsch-britischen Austausches im 19. Jahrhundert". Muhs beschreibt die 'Quellenlage' zum jeweils anderen Land (das Angebot an Zeitungen, Zeitschriften, Buechern im Original oder in Uebersetzung; Sprachkenntnisse; die Entwicklung der Faecher Anglistik und Germanistik usw.) und konstatiert vergleichsweise geringe Beruehrungsflaechen mit ungewisser Breitenwirkung.

In den Bereich der allgemeinen Studien faellt auch der Beitrag von Ulrike Spree zur Uebersetzung der deutschen Brockhaus-Enzyklopaedie durch das Edinburgher Verlagshaus Chambers in den 1850er Jahren, der darstellt, wie die geplante Uebersetzung aus praktischen und politischen Gruenden schliesslich zur voelligen Neubearbeitung wurde.

Vier Beitraege sind politischen Fragen im engeren Sinne gewidmet. Hans-Christoph Kraus' Aufsatz zur Rezeption der englischen Verfassung in Deutschland kommt zu dem Ergebnis, der Transfer habe sich "auf einem sehr schmalen Grat zwischen Verstaendnis und Missverstaendnis" bewegt (S. 124). Die deutschen Kommentatoren interessierten an der englischen Verfassung jeweils die Elemente, die ihre eigenen politischen Praeferenzen zu bestaetigen schienen. Da Konservative und Liberale beide die englische Verfassung als erfolgreich betrachteten, mussten konservative Kommentatoren entweder die Stellung der Krone ueberbewerten oder aber begruenden, warum eine Verfassung nach englischem Muster in deutschen Staaten scheitern wuerde. E. Peter Hennock schildert, wie deutsche Modelle der Sozialversicherung, vor allem der Unfallversicherung, nach der Jahrhundertwende durch englische Politiker zum Vorbild stilisiert wurden, um Bewegung in steckengebliebene Reformvorhaben zu bringen. Jose Harris untersucht am Beispiel des Begriffs 'community' moegliche Beziehungen zwischen deutschem und britischem politischen Diskurs, kommt aber zu dem Ergebnis, dass sich beide grundsaetzlich unterschieden. Lutz Sauerteig beschreibt die Versuche der englischen 'Abolitionists', d. h. jener Vereinigungen, die um die Jahrhundertwende fuer die Abschaffung der polizeilichen Kontrolle von Prostituierten eintraten, die deutsche Frauenbewegung fuer dieses Ziel zu mobilisieren. Diese Bemuehungen blieben aber wegen des unterschiedlichen Stellenwerts der Prostitution innerhalb der Frauenbewegung in beiden Laendern weitgehend erfolglos.

Die letzte Gruppe von Aufsaetzen widmet sich dem Akademikern wohl kongenialsten Thema, dem Transfer von Universitaetsmodellen und dem internationalen Kontakt zwischen Wissenschaftlern. Marc Schalenbergs Beitrag zur "Rezeption des deutschen Universitaetsmodells in Oxford 1850-1914" rekonstruiert ausfuehrlich die verschiedenen - zumeist von Individuen ausgehenden - Plaene, die Universitaet Oxford von einer Staette der Lehre zu einer Forschungsuniversitaet nach Humboldt'schen Modell umzugestalten, die zwar nicht gaenzlich folgenlos blieben, aber keineswegs eine grundlegende Umstrukturierung der anders angelegten und mit anderen Aufgaben betrauten englischen Institution bewirkten. Dagegen waren die Voraussetzungen fuer einen erfolgreichen Kulturtransfer zwischen deutschen und schottischen Universitaeten, denen sich Marc Wallace widmet, auf den ersten Blick erheblich guenstiger. Die schottischen Universitaeten befanden sich im 19. Jahrhundert in einer tieferen Krise als die englischen; die Zahl der in Deutschland immatrikulierten Schotten war proportional weit hoeher als die der Englaender, was nicht ohne Wirkung auf die Haltung der Professorenschaft blieb. Dass eine Annaehrung ausblieb und sich die schottischen Universitaeten trotz einiger verbleibender Eigenarten auf ein 'britisches' Universitaetsmodell hin entwickelten, verweist daher wohl auf den wachsenden Einfluss einer 'Nationalkultur'. Im letzten Beitrag des Bandes beschreibt Godelieve van Heteren auf der Grundlage von Reiseberichten die Erfahrungen britischer Medizinstudenten, die einen Teil ihrer Ausbildung in deutschen Staaten absolvierten.

Gewiss werden die Ergebnisse dieses Bandes stark von der Themenwahl bestimmt - die wirtschaftliche Sphaere einerseits sowie die Kultur im engeren und weiteren Sinne, Malerei, Literatur, Musik oder Sport andererseits, Gebiete, auf denen vermutlich mehr Transfer stattfand, werden nicht behandelt. Obgleich seine Ergebnisse in gewissem Sinne eher negativer Art sind, kann kein Zweifel daran bestehen, dass der vorliegende Band den Wert des gewaehlten Ansatzes bestaetigt. Im Rahmen der hier ausgewaehlten Bereiche - Politik und Hochschulwesen - fand 'erfolgreicher' Transfer in dem Sinne, dass ein in einem Land entwickeltes Konzept in aehnlicher Form in das andere uebertragen worden worden waere, praktisch nicht statt. Interesse am Ausland wurde nur durch Defizite im eigenen Land ausgeloest. Auslaendische Modelle wurden als moegliche Loesungen wahrgenommen und diskutiert, aber nur in den seltensten Faellen tatsaechlich uebernommen, so dass man sich fragt, ob abstrakt entwickelte Gegenentwuerfe zum bestehenden System nicht denselben Zweck erfuellt haetten.

Wie alle erfolgreichen Tagungsbaende wirft der vorliegende Band somit Fragen auf, die hoffentlich Anstoss zu weiteren Forschungen geben werden. Wie die Herausgeber zu recht betonen, ist es ein grosser Vorteil des "Kulturtransfer"-Modells, dass es ermoeglicht, Transferwege und -vorgaenge im Detail zu untersuchen. Das leistet der vorliegende Band in beispielhafter Form, und wenn er dabei Vorurteile ueber die Staerke des wechselseitigen Einflusses widerlegt, so ist das nur zu begruessen. Auffaellig ist zudem , wie stark die in den Beitraegen gezeichneten Transferprozesse - ob folgenlos oder nicht - vom Verlauf der deutsch-britischen Beziehungen vom Einverstaendnis zum Antagonsimus abweichen. In keinem Beitrag zeichnet sich bei denjenigen Gruppen, die fuer den Transfer verantwortlich waren, ein Prozess der deutsch-britischen Entfremdung ab; sie scheinen diesen kaum wahrgenommen zu haben. Der Erste Weltkrieg erscheint als externer Faktor, der die Transferrouten ploetzlich unterbrach. Das eindrucksvollste Beispiel findet sich in Rudolf Muhs' Aufsatz, der schildert, wie sich ein deutscher Anglist noch Ende Juli 1914 bei Reichskanzler Bethmann-Hollweg fuer die Einrichtung eines deutschen Instituts in London einsetzte, und auf diesen Brief noch eine hoefliche ablehnende Antwort erhielt (S. 66). Der Band verweist somit auf ein weiteres Desiderat der Forschung: die Untersuchung des Zusammenhangs zwischen den Ebenen und Gruppen, wo 'Kulturtransfer' stattfand, und der 'Nationalkultur', in die der deutsch-britische Antagonismus offenbar auf anderen Wegen Eingang fand.

Anmerkung:
1 Vgl. vor allem Michael Werner, Michel Espagne (eds.), Transferts. Les relations interculturelles dans l'espace Franco-Allemand, Paris 1988.

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