X. M. Nunez Seixas: Historia mundial de Espana

Cover
Titel
Historia mundial de España.


Herausgeber
Núñez Seixas, Xosé Manoel
Reihe
Ediciones Destino – Colección Imago Mundi 295
Erschienen
Barcelona 2018: Ediciones Destino
Anzahl Seiten
969 S.
Preis
€ 26,60
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Katharina Seibert, Global and European Studies Institute und Geisteswissenschaftliches Zentrum für Kultur und Geschichte Ostmitteleuropas, Universität Leipzig

Im Januar 2017 erschien inmitten des französischen Wahlkampfs das Kollektivwerk der Histoire Mondiale de la France, das Robert Darnton zufolge wie eine Bombe einschlug. Es nahm Aspekte der französischen Geschichte in den Blick, die bis dahin kaum Eingang in die populäre Nationalgeschichte gefunden hatten. Kontrovers diskutiert wurde die Infragestellung nationaler Meistererzählungen.1 Im Oktober 2017 folgte die von Andrea Giardina herausgegebene Storia mondiale dell’Italia. Jetzt liegt auch für Spanien ein vergleichbares, 969 Seiten starkes Werk vor.2

Dem an der Universität Santiago de Compostela lehrenden Herausgeber Xosé Manoel Núñez Seixas geht es nicht um eine neue nationale Meistererzählung. Stattdessen beabsichtigt er eine globale Einbettung und Positionierung Spaniens anhand der Themen Herrschaft, Konflikt, Wissen und Austausch. Dabei soll keine Kontinuitätslinie von einer vormodernen Gesellschaft über die spanische (katholische) Monarchie mit seiner imperialen Ausdehnung ab der Frühen Neuzeit bis hin zum heutigen modernen Nationalstaat gezogen werden. Vielmehr wird die spanische Geschichte mit ihren unterschiedlichen geographischen Ausdehnungen und Herrschaftsformen begriffen und die Komplexität ihrer Austauschbeziehungen mit ihren globalen Kontexten in den Mittelpunkt gerückt. Das bedeutet, Phasen globalen Einflusses und weltweiter Verflochtenheit genauso herauszuarbeiten, wie solche der Isolation und Marginalisierung (S. 13). Bei der Auswahl der 127 Beiträge von Autor/innen aus zehn Ländern (unter anderem Spanien, Deutschland, USA, UK, Italien) wurde ein Gleichgewicht zwischen politischen und gesellschaftlichen Themen, Krieg und Kultur, Wissenschaft angestrebt (S. 16). Alle Artikel sind jeweils sechs Seiten lang und mit weiter- bzw. einführenden Literaturhinweisen versehen.

Die Gliederung der Kapitel entspricht der etablierten Chronologie spanischer Geschichtsschreibung. Am Anfang stehen frühgeschichtliche Beiträge über die vorrömischen Siedlungsformen und die Integration der Iberischen Halbinsel ins Römische Reich. Daran schließt sich ein Kapitel über die Auflösung des Römischen Reichs und der Etablierung muslimischen Einflusses auf der iberischen Halbinsel an, ein weiteres über die Konsolidierung feudaler Herrschaft und die Koexistenz der drei Weltreligionen. Die nächsten Sektionen konzentrieren sich auf die Konsolidierung der katholischen Monarchie unter den Habsburgern, sowie auf die nachfolgende französische Phase ab dem Aufstieg der bourbonischen Dynastie. Die anschließenden Teile befassen sich mit dem langwierigen Übergang vom aufgeklärten Absolutismus hin zum Nationalstaat in seiner heutigen territorialen Fixierung. Dabei werden die Suchbewegungen nach einer neuen Gesellschaftsordnung genauso berücksichtigt, wie die Dekolonisierungsprozesse in Süd-, Mittelamerika und Nordafrika. Den Abschluss macht ein Kapitel, das die Phase der Diktatur, der Transición (Systemübergang) und der spanischen Integration in die Europäische Union betrachtet.

Die Binnenstruktur der Kapitel folgt dagegen keiner übergeordneten Narration. Die Leser/innen finden darin ein Kaleidoskop an Beiträgen, die aus ganz unterschiedlichen Perspektiven chronologisch aufeinander folgende Ereignisse in den Vordergrund rücken, die in der spanischen Geschichtsschreibung bislang wenig Aufmerksamkeit gefunden haben – weniger noch in der deutschsprachigen Spanienforschung. Die Beiträge über die Dama de Baza (Jorge García Cardiel, S. 56–62), die leonesische Königin Urraca (Ermelindo Portela, S. 155–162), den Konflikt zwischen Isabella von Kastilien und ihrer Tochter Johanna (María Ángeles Pérez Samper, S. 221–227), über den Einfluss von Isabella von Farnesio auf den König (Pablo Vázquez Gestal S. 403–408), oder über die Debatte zum Frauenwahlrecht (María Dolores Ramos, S. 753–758) bringen beispielsweise das weibliche Gesicht der spanischen Herrschaftsgeschichte zum Vorschein. An den Beispielen der Blauen Division (Xosé M. Núñez Seixas, S. 789–796) und der 9. Kompanie des Régiment de marche du Tchad, „La Nueve“ (Mercedes Yusta, S. 797–803), wird die spanische Beteiligung an den Kampfhandlungen des Zweiten Weltkriegs nachvollzogen, die es trotz der propagierten Neutralität des Franco-Regimes gab.

Darüber hinaus setzt sich die Historia Mundial de España ausdrücklich zum Ziel, eine Geschichte jenseits etablierter Zäsuren, wie beispielsweise 1492 (Entdeckung Amerikas), 1898 (Ende des spanischen Kolonialismus in Lateinamerika), 1936 (Spanischer Bürgerkrieg), usw. vorzulegen. Keineswegs jedoch bleiben diese Wendepunkte der iberischen Geschichte außen vor. 1492 wird zum Beispiel nicht als Zäsur erzählt, sondern als Etappe im Prozess der Eroberung der Iberischen Halbinsel durch die katholischen Könige. Die Einnahme Granadas wird daher als Anfang des Endes muslimischer Herrschaft dargestellt, dem sich noch eine lange Phase der Befriedung der muslimischen Bevölkerung anschloss (Alberto García Porras, S. 203–209). Auch die Entdeckung Amerikas wird dadurch als Teil der Herrschaftspraxis der katholischen Könige eingeordnet. Der Spanische Bürgerkrieg wird dann aus der sowjetischen Perspektive betrachtet (José Faraldo, S. 778–784) und die Unabhängigkeit Spanisch-Saharas als Folge Francos Tod eingeordnet (Andreas Stucki, S. 866–872).

Ein Topos, der bei der Frage nach der machtpolitischen Positionierung Spaniens wiederholt aufscheint, ist die Auseinandersetzung mit dem Vorwurf der Rückständigkeit. Fernando Durán López zeigt in seinem Beitrag zum Beispiel, dass Karl III. der französischen Beschuldigung 1782, dass Spanien rückständig sei, mit der Auslobung eines Preises der Akademie der Wissenschaften begegnete — dieses Projekt scheiterte und bestätigte so ungewollt französische Vorurteile (S. 452–458). In Analysen spanischer Wirtschaftsentwicklungen taucht dieses Paradigma besonders häufig auf, wobei ein konsequenteres Einbeziehen zeitgenössischer Kontexte diese diskursiven Überformungen infrage stellen kann, wie Anna Catharina Hofmann für die franquistischen Wirtschaftsreformen zeigt (S. 830–836). In der Auseinandersetzung mit dem Rückständigkeitsparadigma geht es den Autor/innen jedoch keineswegs nur darum, dagegen anzuschreiben. Vielmehr soll Spanien in all seinen Facetten analysiert werden.

In allen Beiträgen wird eine globalgeschichtliche Perspektive auf die jeweiligen Ereignisse eingenommen und der zeitgenössische globale Kontext als Referenzrahmen reflektiert. Zusätzlich werden verschiedene, globalhistorisch relevante Schwerpunkte gesetzt: Einige Beiträge stellen die Fragen nach Raum und Verräumlichung ins Zentrum der Analyse. Der spanische Imperialismus wird sowohl aus dem Zentrum als auch aus der Peripherie beleuchtet. Die frühneuzeitlichen Beiträge, die das Ausgreifen der spanischen Krone auf die überseeischen Gebiete untersuchen, konzentrieren sich dabei allerdings überwiegend auf die Metropole und fragen nach Praktiken des Herrschens in einem sich ausdehnenden Herrschaftssystem, zum Beispiel Gewalt, Identitätspolitik, sozialpolitische Maßnahmen auf der iberischen Halbinsel (Ofelia Rey Castelao, S. 215–220; Juan Francisco Pardo Molero, S. 235–241; Bernard Vincent, S. 261–267; Tamar Herzog, S. 299–304). Die Auflösung des Imperiums wird dann von der Peripherie aus betrachtet, wobei nicht nur bekannte Fallbeispiele wie Mexiko oder Kuba herangezogen werden, sondern auch weniger beachtete Fälle wie Spanisch-Sahara (Andreas Stucki, S. 866–872), Marokko (José Álvarez Junco, S. 598–605; Alfonso Iglesias Amorín, S. 732–738) oder die Philippinen (María Dolores Elizalde, S. 677–684). Das Verhältnis zwischen Metropole und kolonialer Peripherie wird als komplexer Aushandlungsprozess dargestellt, dessen Erfolg im höchsten Maß von den peripheren lokalen Eliten abhängig war. Die Beiträge über spanische Diaspora-Gemeinschaften, die durch Exilbewegungen oder Arbeitsmigration weltweit entstanden, lassen „die Spanien“ zu Tage treten, die sich außerhalb geographisch fixierter Herrschaftsgrenzen etablierten. Die Vorstellung der Deckungsgleichheit von Nation und Staatsgebiet wird damit in Frage gestellt und die Geschichte Spaniens räumlich entgrenzt (vgl. Ramón Villares, S. 804–809; Jordi Amat, S. 845–853; Ana Fernández Asperilla, S. 859–865).

Andere Beiträge stellen verflechtungsgeschichtliche Fragen, etwa nach der Entwicklung der Arbeiterschaft, der großen Ideologien, der Religion, der Migration oder nach Wissenstransfers. Einigen gelingt es, die Wechselseitigkeit von Transferprozessen aufzuzeigen, wie beispielsweise Juan Luis Simal in seiner Darstellung des liberalen Exils in London (S. 533–539) oder Susana Sueiro Seoane am Fall Angiolillos und dem Mord am konservativen Politiker Antonio Cánovas del Castillo 1897 (685–691).

Vorschläge für neue Periodisierungen oder Zäsuren will die Historia Mundial dezidiert nicht machen, und sie ergeben sich auch nicht ungewollt aus der Lektüre. Dafür lässt die Auswahl und Anordnung der Beiträge die Kontinuitäten hinter den „typischen“ Brüchen (1492, 1898, usw.) der spanischen Geschichte deutlicher hervortreten. Die Themenvielfalt gibt nicht nur Impulse für ein fachlich versiertes Publikum, durch die Kürze ihrer Beiträge und die weiterführenden Literaturhinweise lädt sie vor allem dazu ein, nach Gusto zu „stöbern“.

Ohne der Historia Mundial de España in der Kürze dieser Rezension gerecht werden zu können, gelingt es dem ambitionierten Projekt, die in der Einleitung formulierten Ziele zu erreichen. Sie vereint auf produktive Weise unterschiedliche Ansätze und Perspektiven aus Archäologie, Altertumswissenschaft und Mediävistik, Kultur-, Religions- und Wissensgeschichte, der Kunst-, Medien- und Geschlechtergeschichte, der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, der Geschichte des Kolonialismus, Nationalismus und Exils. Sie stellt übergeordnete Fragen, bietet aber keine übergreifenden oder einfachen Interpretations- und Erklärungsansätze an, sondern lässt den Leser/innen Raum, eigene Schlüsse zu ziehen. Insgesamt wird sie ihrem Anspruch gerecht, eine plurale Weltgeschichte Spaniens zu liefern. Übersetzungen in andere Sprachen wären wünschenswert.

Anmerkungen:
1 Robert Darnton, A Buffet of French History, in: The New York Review, 11.05.2017, https://www.nybooks.com/articles/2017/05/11/histoire-mondiale-buffet-french-history/ (01.06.2019). Zur Kontroverse siehe https://bibliobs.nouvelobs.com/idees/20171227.OBS9838/histoire-mondiale-de-la-france-retour-sur-la-polemique-de-l-annee-2017.html (14.06.2019)
2 Im Vergleich zu Frankreich verläuft die Debatte in Italien und Spanien bislang wenig kontrovers. Siehe etwa Serena di Nepi, Una solida modernità storiografica, in: L‘indice, März 2018, https://www.lindiceonline.com/focus/storia/andrea-giardina-cura-storia-mondiale-dellitalia-2/ (27.06.2019); Clara Morales, Otra Historia, otra España, in: Infolibre, 01.12.2018, https://www.infolibre.es/noticias/cultura/2018/12/01/historia_mundial_espana_xose_nunez_seixas_89411_1026.html (22.06.2019). Andrés Seoane, Estampas alternativas de la Historia, in: El Cultural, 30.11.2018, https://elcultural.com/Estampas-alternativas-de-la-Historia-de-Espana (22.06.2019).