C. Thumiger u.a. (Hrsg.): Mental Illness

Cover
Titel
Mental Illness in Ancient Medicine. From Celsus to Paul of Aegina


Herausgeber
Thumiger, Chiara; Singer, Peter
Reihe
Studies in Ancient Medicine 50
Erschienen
Anzahl Seiten
XV, 479 S.
Preis
€ 130,00; $ 156.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Lutz Alexander Graumann, Klinik für Allgemein-, Viszeral-, Thorax-, Transplantations- und Kinderchirurgie, Justus Liebig Universität Gießen

Die Entwicklungsgeschichte der westlichen Vorstellungen zu Geisteskrankheiten („mental disorders“) in Philosophie und Medizin insbesondere in der Zeit der griechisch-römischen Antike hat in den letzten Jahren international an Attraktivität gewonnen, offensichtlich auch weil es sich auf diesem gegenwärtig noch nicht vollständig bio-medikalisierten, also einem naturwissenschaftlich unscharfen Feld leichter geisteswissenschaftlich argumentieren, forschen und publizieren läßt.1 Der sehr umfangreiche 50. Jubiläumsband aus Brills „Studies in Ancient Medicine“-Reihe, hervorgegangen aus der Berliner Konferenz im Oktober 2014 „Mental Diseases in Ancient Medicine“, bildet eine in mehrfacher Hinsicht aktuelle Synopse oder, wie es die Herausgeber/in betonen, die erstmalige komplette Untersuchung sämtlicher überlieferter medizinischer Autoren der ersten sieben nachchristlichen Jahrhunderte unter spezifisch „psychiatrischem“ Fokus (S. 2). In ihrer Einleitung (S. 1–32) führen Thumiger und Singer als gemeinsamen Ausgangstext die universelle Dreiteilung von Geisteskrankheiten (insania) anhand ihrer jeweiligen Erkrankungsdauer beim römischen Enzyklopädisten Celsus ein.2 Dieser Text wird als eigentlicher erster antiker medizinischer Definitionsversuch von Geisteskrankheit kategorisiert.3 Der Band gliedert sich dann in drei größere Teile mit 14 Einzelbeiträgen.

Der erste Teil beginnt mit zwei epochenübergreifenden Übersichtsarbeiten. George Katzanzidis (S. 35–78) befasst sich mit dem bedingt durch seine Fiktionalität bisher weniger beachteten, wahrscheinlich aus der frühen römischen Kaiserzeit stammenden Briefdialog über die Behandlung des „wahnsinnigen“ Naturphilosophen Demokrit von Abdera durch den legendären Arzt Hippokrates von Kos (Pseudohippokratische Briefe, Epist. 10–17). Nach einer recht umständlichen Einleitung zeigt er unter sehr breit angelegter Berücksichtigung von literarischen Zeugnissen (Corpus Hippocraticum, Rufus von Ephesos, Aretaios von Kappadokien, Galen von Pergamon, Aristoteles sowie Pseudo-Aristoteles), dass der unbekannte Autor dieser Briefe in einem peripatetischen Kontext (Problemata 30,1) zu verorten ist. Dieser historisierte, nämlich in das späte 5. Jahrhundert v.Chr. zurückverlegte, fiktive Briefdialog reflektiere letztendlich spezifisch professionelle Ansichten über eine gewisse Gruppe von Geisteskrankheiten (heute am ehesten „manisch-depressiv“ zu nennen) und deren Therapiemöglichkeiten im Kontext der römischen Kaiserzeit. Dadurch gewinnt diese recht merkwürdige Textgruppe einen gewissen Quellencharakter für die Geschichte der Geisteskrankheiten. Nadine Metzger (S. 79–104) demonstriert anhand von Vergleichen zwischen Aussagen der Kirchenväter und medizinischer Autoren des 4. bis 6. Jahrhunderts zur „Epilepsie“, dass die noch immer gängige Auffassung einer kompletten Ablehnung von „naturwissenschaftlichen“ Erklärungsmodellen für Seelenkrankheiten durch kirchliche Autoren insgesamt so nicht zu halten ist. Größtenteils gab es wohl eher eine geduldete Koexistenz der Interpretationen, was man heute unter dem Konzept der Ambiguität zusammenfassen könnte. Dies exemplifiziert sie schließlich anhand der Entität der sogenannten „Ephialtes“-Krankheit (S. 94–104). Ausdrücklich warnt sie, zuweilen auch etwas übermäßig, vor unreflektierter moderner Projektion in diese spätantiken Quellen.

Der zweite Teil fokussiert danach die Ansichten einzelner antiker medizinischer Autoren, von denen mit Ausnahme Galens die meisten aufgrund ihrer fragmentarisch vorhandenen Hinterlassenschaft wohl nur noch wenigen Spezialist/innen bekannt sein dürften. Es folgen neun Einzelbeiträge beginnend mit Sean Coughlins Untersuchung zum pneumatischen Arzt Athenaios von Attalia, etwa 1. Jahrhundert v.Chr., als dem ersten bekannten medizinischen Autor, der mentales Training („training of the soul“) unter Berufung auf Textzeugnisse des legendären Hippokrates von Kos als Bestandteil einer gesunden Lebensweise definierte (S. 109–142). Ihm schließt sich der Beitrag von Orly Lewis zu Archigenes von Apamea an (S. 143–175), der zu seiner Zeit (1. bis 2. Jahrhundert) wegen seiner umfangreichen therapeutischen Schriften, auch zu Geisteskrankheiten (hier fokussiert auf die Entitäten epilêpsia, lêthargos und phrenitis) viel gelesen und benutzt wurde. Diese medizinischen Ratgeber sind leider bis auf wenige Zitate komplett verlorengegangen. Das Spezielle an Archigenes war wohl seine, insbesondere im Gegensatz zu Galen auffallend unpretentiöse, unpolemische, praxisorientierte Art. Sehr richtig, wenngleich ohne größere Diskussion, hält Lewis fest, dass trotz manch moderner und möglicherweise bereits antiker Skepsis hinsichtlich der Wirksamkeit seiner Methoden einige zumindest einen positiven Effekt in der Alltagsrealität der Antike gehabt haben müssen (S. 172).

Melinda Letts untersucht das Thema Geisteskrankheiten bei Rufus von Ephesos (S. 176–197) mit einem thematisch sehr interessanten Fokus auf die „sprechende“ Medizin, wie sie den überlieferten Krankengeschichten und der Anleitung zur medizinischen Anamnese entnommen werden kann. Dabei überstrapaziert sie etwas heutige medizinische Kommunikationsformen wie auch heutigen psychiatrischen Jargon.4 Julien Devinant diskutiert die Geisteskrankheiten („Mental disorders and psychological suffering“) in den Krankengeschichten Galens von Pergamon (S. 198–221). Er beginnt seine Studie überraschenderweise mit dem unterstellten Vorurteil „unserer Zeit“, dass man diese nur medizinisch diskutieren dürfe.5 Demgegenüber versucht er, die Darstellung bei Galen selbstreflektierend zu kontextualisieren. Schließlich stellt er fest, dass Galen psychischen Erkrankungen gegenüber eine gewisse Ratlosigkeit erkennen lasse, obwohl Galen doch, meist ohne nähere Ausführungen zu seiner erfolgreich beschriebenen Therapie, gerade solche Patienten behandelt hat. Devinant deutet diese „Schwierigkeit“ als Grund für das Fehlen einer durchdachten Theorie zu Geisteskrankheiten bei Galen. Ricardo Julião (S. 222–244) legt den Schwerpunkt seiner Untersuchung auf das Gedächtnis und den Gedächtnisverlust als medizinische Konzepte bei Galen. Obgleich Galen keine umfassende Theorie der Gedächtnisstörungen entwickelt hat und, wie so häufig, recht inkonsistent in der diesbezüglichen Terminologie bleibt, hat er aber überwiegend aus der medizinischen Praxis heraus ein ganz eigenes „physiologisch-psychologisches“ Konzept von Hirnfunktionen, zu denen die Gedächtnisleistung zählt, entwickelt (S. 243).

Chiara Thumiger thematisiert die spätantiken medizinischen Ansichten zu Eßstörungen, insbesondere anhand der Beispiele des „stomachikon“ und der „hydrophobia“ (S. 245–268). Die Psychopathologie des Essens in der Antike sei bisher zu wenig diskutiert worden, insbesondere wegen einer gewissen Scheu vor zu unreflektierter Projektion der beiden heutzutage allgemein geläufigen, aber bereits stark medikalisierten Eßstörungen Anorexie und Bulimie (S. 246). Nach einer allgemeinen philosophisch-medizinischen Einführung versucht sie die beiden medizinischen Konzepte des „stomachikon“, einer bei Aretaios von Kappadokien beschriebenen speziellen Form von Nahrungsverweigerung als Persönlichkeitsstörung, sowie die „hydrophobia“ (Wasserscheu) als eigene Entität einer Geisteskrankheit bei Caelius Aurelianus herauszuarbeiten. Sie beendet ihre Untersuchung mit einem Ausblick auf die spätantike christliche Interpretation am Beispiel von Sophronius von Jerusalem, wo ihrer Meinung nach erstmalig eine ethisch-moralische Komponente hinzutritt.

Thumiger behandelt anschließend sexuelle Deviationen in der antiken Medizin anhand der sogenannten „satyriasis“ (S. 269–284). Hierfür reanalysiert sie die überlieferten Schlüsselzeugnisse aus dem 1. bis 5. nachchristlichen Jahrhundert bei den medizinischen Autoren Rufus von Ephesos, Aretaios von Kappadokien, Caelius Aurelianus sowie dem Anonymus Parisinus. Abschließend warnt sie vor ahistorischen, allzu modernen sozial-moralischen und künstlich kontrastierenden Lesarten solcher in der Antike medizinisch geführten Diskussionen. Anna Maria Urso konzentriert sich auf Caelius Aurelianus und seine Ansichten zu Geisteskrankheiten (S. 285–314). Urso demonstriert anhand zahlreicher Beispiele, dass Caelius unter dem Überbegriff der alienatio und einer recht differenzierten Terminologie von Krankheitszeichen sehr pedantisch eine gewisse klinische Systematisierung von Geisteskrankheiten versucht hat. Ricarda Gäbel (S. 315–340) widmet ihre Aufmerksamkeit dem spätantiken Kompilator Aëtius von Amida. Aëtius lasse zwar in seiner medizinischen Enzyklopädie keine definitive Kategorisierung von Geisteskrankheiten erkennen, verwende aber nach heutiger Lesart so etwas wie eine Klasse von Hirnerkrankungen (S. 317: „set of illnesses“). Dies demonstriert Gäbel anhand zahlreicher interessanter Beispiele aus dem bisher weder übersetzten, noch kritisch kommentierten sechsten Buch von Aëtius.

Der abschließende dritte Teil („Philosophy and Mental Illness“, mit drei Einzelbeiträgen) rekurriert mehr auf die philosophischen Reflexionen von Geisteskrankheiten. Marke Ahonen versucht eine Darstellung der Geisteskrankheiten aus stoischem Blickwinkel (S. 343–364). Nach breiter Gegenüberstellung von philosophischen und medizinischen Quellen kommt er zum Fazit, dass gerade die Äußerungen von stoisch geprägten Philosophen (v.a. Seneca) die ärztliche Kompetenz in diesem Bereich positiv beeinflusst haben. Christopher Gill (S. 365–380) fragt wiederum, inwiefern die antike „philosophisch-psychologische Therapie“ einen Einfluß auf die zeitgenössische medizinische Praxis hatte. Dabei versucht er, die von ihm definierte antike „psychologische“ Therapieform im Gegensatz zur modernen Interventionstherapie, wie beispielsweise der speziellen kognitiven Verhaltenstherapie, als lebenslange Therapie herauszuarbeiten (S. 374). Auch wenn er keine so strenge Grenzen zwischen den antiken Disziplinen erkennen mag (Beispiele sind Galen und Plutarch), bleibt er der Meinung, dass in der täglichen Praxis dennoch zwischen „philosophischer“ und medizinischer Therapie unterschieden wurde. Der Mitherausgeber Peter N. Singer befasst sich im letzten Kapitel mit den komplexen, sowohl medizinisch als auch philosophisch-ethisch geführten Diskursen über Geisteskrankheiten in den Schriften Galens von Pergamon (S. 381–420).6

Der Band richtet sich eher an ein geisteswissenschaftliches Fachpublikum als an einen interdisziplinären Leserkreis. Mediziner/innen, v.a. medizinische Psycholog/innen und Psychiater/innen, die von diesem Diskurs zumindest in der eigenen beruflichen Selbstwahrnehmung durchaus profitieren könnten, werden eher von der nicht-medizinischen Grundtendenz des Bandes (Ausschluss retrospektiver Diagnosen, Ablehnung eines Bezuges zum medizinischen Leitfaden „Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders“)7 abgeschreckt und exkludiert. Diese Haltung mag zwar einen aktuellen wissenschaftlichen Konsens spiegeln, kann aber ebenso im weitesten Sinne als eine Art anachronistische Selbstzensur verstanden werden und untergräbt gerade eine mögliche Interdisziplinarität. Der Versuch, die Entwicklungen rein immanent zu erklären und auf heutige medizinische Deutungen aus methodischen Gründen weitestgehend zu verzichten, läßt sich auch hier nicht immer durchhalten (Beispiele in Letts und Gill) und führt zu – aus medizinischer Sicht – schiefen Aussagen.8 Schließlich werden fast ausschließlich die Ansichten antiker Autoren zu Individualerkrankungen diskutiert, gruppendynamische Themen wie beispielsweise die antiken Meinungen zu Massenpaniken kommen zu kurz.9 Auch wäre eine vergleichende Diskussion der materialistischen Erklärungsversuche für Geisteskrankheiten antiker Mediziner (Säftedysbalance im Gehirn) mit heutigen Modellen (biochemische, anatomisch-strukturelle Erklärungen) trotz aller zeitlichen Distanz möglicherweise auch für einen heutigen Biomediziner/innen epistemologisch attraktiv gewesen, wenn auch ohne direkte praktische Relevanz. Auch hätte es die Gelegenheit gegeben, diesen heutigen Trend zur zunehmend einseitigen Biologisierung der Psychiatrie kritisch vorzuführen.

Insgesamt ist der Band sehr gut ediert.10 Die Einzelbeiträge hinterlassen den Eindruck einer rege geführten Diskussion durch zahlreiche Verweise aufeinander. Erfreulicherweise sind nur wenige Arbeiten zitiert, die zum Zeitpunkt der Publikation noch nicht erschienenen waren. Ein Abkürzungsverzeichnis mit ausführlicher Auflistung aller verwendeten Primärquellen (S. VIII–XV), eine ausführliche Bibliographie aus den Jahren 1838 bis 2018 (S. 421–449), ein Index Locorum (S. 450–469) sowie ein „General Index“ (S. 470–479) runden den Band ab. Was leider fehlt, ist die übliche Liste aller beteiligten Autor/innen, mit ihren Affiliationen, Forschungsschwerpunkten und gegebenenfalls Kontaktdaten. Trotz der genannten inhaltlichen Kritikpunkte ist das Werk sehr zu empfehlen, gerade auch den an der antiken Entwicklungsgeschichte interessierten medizinischen Psycholog/innen und Psychiater/innen, die sich der Herausforderung einer wissenschaftlichen Selbstreflexion stellen können und möchten.

Anmerkungen:
1 Für einen Überblick über die rezente Rezeptionsgeschichte von Geisteskrankheiten in der Antike siehe Chiara Thumiger, A History of the Mind and Mental Health in Classical Greek Medical Thought, Cambridge u. a. 2017, S. 2–16.
2 Celsus, De medicina III, 18 (122,21–127,13 Marx).
3 Hier ist natürlich die Quellenarmut zwischen der zweiten Hälfte des 4. Jh. v. und dem 2. Jh. n. Chr. zu bedenken. Frühere Theorien finden sich bereits im Corpus Hippocraticum: z. B. De victu 1,35 (Littré 6,512–522).
4 Z. B. „sadness, a sort of endogenous depression” (S. 189), “over-work, what today would be called a poor work-life balance” (S. 192).
5 Als Autorität „unserer Zeit“ nennt er ausgerechnet den historischen Artikel von Israel Edward Drabkin, Remarks on Ancient Psychopathology, in: Isis 46 (1955), 3, S. 223–234.
6 Vgl. ders. (Hrsg.), Galen. Psychological Writings, Cambridge 2013.
7 Introduction, S. 5, Anm. 13.
8 S. 164: „chirurgic” [sic!] methods; S. 320, Anm. 22: Analogie der Geisteskrankheiten im Kopf („from surface towards inside“) zur klinischen „a capite ad calcem“ („from top to bottom”) Methodik; S. 364: „In all probability, the Stoics would have considered the majority of people nowadays receiving medical help for disorders such as depression and anxiety as easily eligible for a course of their philosophical therapy“.
9 Vgl. Thuk. 7,44,6–7 zur Massenpanik der athenischen Armee bei der Schlacht von Epipolae.
10 Druckfehler: S. 164 und 443 (Stamatu, M.): „Dreckapohteke“; S. 270, Anm. 3: “Keul’s picture”; S. 290, Anm. 19: “Hyppocratic and Galenic tradition”; S. 297, Anm. 49: “Doppelausdrüske”; S. 317, Anm. 6: „e.g. Budon-Millot“; S. 444: „Avicenas Lehre”.

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