A. Lowenhaupt Tsing: Pilz am Ende der Welt

Titel
Der Pilz am Ende der Welt. Über das Leben in den Ruinen des Kapitalismus


Autor(en)
Lowenhaupt Tsing, Anna
Erschienen
Berlin 2018: Matthes & Seitz
Anzahl Seiten
445 S.
Preis
€ 28,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Nils Güttler, Eidgenössische Technische Hochschule Zürich

„Dinge, die klein erscheinen, stellen sich oft als groß heraus.“ (S. 153) Im Mittelpunkt von Anna Lowenhaupt Tsings historisch-ethnographischer Untersuchung steht ein Gegenstand, der auf den ersten Blick tatsächlich recht klein wirkt und dennoch den Stoff für eine große Geschichte des globalen Verwertungskapitalismus liefert: der Matsutake, ein feinaromatischer Wildpilz und eine Delikatesse in der japanischen Küche. Der Pilz wächst bevorzugt in vormals industriell genutzten Kieferwäldern. Warum der Pilz genau in diesen strapazierten Ökosystemen – den „Ruinen des Kapitalismus“ – vorkommt, ist nicht hinlänglich geklärt. Nur soviel ist bekannt: Der Matsutake geht unter bestimmten Umständen eine Symbiose mit den Wurzeln der Kiefern ein. Da die Wissenschaft im Dunkeln tappt, wie genau dieser Vorgang abläuft, ist es nicht möglich, den Pilz landwirtschaftlich im großen Maßstab zu kultivieren. Verbreitet ist der Matsutake heute unter anderem in Oregon, in Lappland, im südwestchinesischen Yunnan und in Japan, wo lokale Pilzsammler- und Händlerkulturen entstanden sind, deren prekäre Lebens- und Wissenswelten im Zentrum von Tsings Ethnographie stehen. Mit der minutiösen Beschreibung der gesamten Lieferkette der Matsutakeproduktion von den Sammlern, über die Zwischenhändler/innen, Mittelsmänner und -frauen sowie Übersetzer/innen, bis hin zu den japanischen Endverbraucher/innen will Tsing die „Ränder des Kapitalismus“ (S. 379) vermessen, wo Dinge, die an und für sich nicht industriell „skalierbar“ (S. 59) sind, durch ein komplexes Ineinanderwirken von informellen Tausch- und Warenökonomien passend für die globale Zirkulation gemacht werden. Der Pilz am Ende der Welt – ein Abgesang an die Fortschrittsversprechen des Kapitalismus des 20. Jahrhunderts, dessen desaströse Folgen laut Tsing an den Orten sichtbar werden, in denen der Pilz wächst und zirkuliert. „Was entsteht, wenn der industrielle Ruf nach Versprechen und Ruin verklungen ist, in den beschädigten Landschaften?“ (S. 32) Tsings Antwort: Der Matsutake.

Das Buch beruht auf einem kollaborativen Forschungsprojekt zu den „Matsutake Welten“1 und ist an der Schnittstelle von Umweltgeschichte und Wissenschaftsforschung angesiedelt. Es schließt dabei vor allem an Diskussionen innerhalb der Science-and-Technology-Studies an, die in den letzten Jahren und Jahrzehnten intensiv rund um „nicht-menschliche Akteure“, „multispecies ethnographies“, „Grenzobjekte“, oder „neue Ontologien“ geführt worden sind. Was den Pilz am Ende der Welt aus der Masse an Literatur zu Posthumanismus und Anthropozän abhebt, ist ein spezifischer Modus des Erzählens. In insgesamt zwanzig Kapiteln verschachtelt Tsing, auf ähnlich kunstvolle Art und Weise wie schon in ihrem vorherigen Buch Friction2, verschiedene Elemente miteinander: ethnographische Beobachtungen, die Wissensgeschichte des Matsutake, die Landschaftsgeschichte einzelner Regionen, die Sozialgeschichte der Pilzsammler/innen und -händler (mit spezifischem Schwerpunkt auf die Migrationsgeschichte) und nicht zuletzt globale Veränderungen in der Weltwirtschaft. So ist es oft nur ein kleiner Schritt von einem Zeltlager in den Wäldern Oregons zu den globalen Lieferketten des Sportartikelherstellers Nike, die ebenfalls in die Region führen. Diese auf den ersten Blick oft assoziativ wirkenden Verbindungen haben jedoch System. Tsing möchte sich mit ihren Geschichten einer Wirklichkeit nähern, in der sich verschiedene „Wissens- und Seinspraktiken“ (S. 214) permanent überlagern und miteinander vermischen.

An den Rändern des Kapitalismus wird die Welt in Sachen Natur/Kultur also ziemlich unübersichtlich und in dem epistemischen „Mischmasch“ (S. 214), das hier zutage tritt, liegt die wissensgeschichtliche Sprengkraft des Buches (auch wenn der Begriff Wissensgeschichte freilich nicht benutzt wird). Das über Generationen gewonnene „Waldwissen“ (S. 325) der Sammler/innen ist für Tsing beispielsweise dem tradierten Wissen der Wissenschaftler/innen gleichwertig. Dieses Waldwissen manifestiert sich etwa in Form von Geruch oder der Kenntnis der verschiedenen „Lebenslinien“ (ein von dem Ethnologen Tim Ingold entlehnter Begriff), die die Wälder durchziehen und entsprechend gelesen werden müssen. Allerdings weitet sie die mittlerweile übliche soziale Dehierarchisierung von Wissen systematisch auf nicht-menschliche Akteure aus. Tsing interessiert sich für das Ineinanderwirken verschiedener Wissensformen unter anderem deshalb, weil sie die Grundlage für „Gefüge“ oder Wissensräume bilden, die sie als „Patches“ (S. 292) des Wissens bezeichnet. In diesen Patches, die historisch gewachsen sind und sich in der Regel regional oder national herausbilden, mischen sich die ökologischen Bedingungen von Orten mit ihren jeweiligen nicht-menschlichen Akteuren (Bäumen, Pilzen, Insekten), lokale Wissensformen, Praktiken der Landwirtschaft und des Umweltmanagements, nationale Forschungstraditionen und wissenschaftspolitische Rahmenbedingungen. Mit anderen Worten: Tsing arbeitet in ihrem Buch an einer Ökologisierung der Wissensgeschichte – und das mit einem explizit normativen Anspruch. Denn nur eine Wissenschaft, die das globale Nebeneinander verschiedener Patches akzeptiere, sei wirklich kosmopolitisch und „reicher“ (S. 303) als die herkömmliche Wissenschaft, nicht zuletzt weil sie auch Pflanzen und Tiere zu Wort kommen lasse.

Ein interessanter Effekt der Ökologisierung von Wissen ist es, dass naturwissenschaftliches Wissen in Tsings Buch erstaunlich wenig problematisiert wird. Wissensgeschichtlich betrachtet ist das zunächst nur konsequent. Warum sollte man den Naturwissenschaften noch besondere Aufmerksamkeit schenken, handelt es sich doch nur um eine Wissensform unter vielen? So werden die klassischen Sujets der Wissenschaftsforschung – die Praktiken, Medien und Orte der naturwissenschaftlichen Wissensproduktion – in dem Buch allenfalls am Rande gestreift. Mykologen/innen, Forstwissenschaftler/innen und Biogeographen/innen tauchen zwar wiederholt als historische oder noch lebende Akteure auf, doch rekonstruiert Tsing mithilfe ihrer Studien hauptsächlich die Natur- und Landschaftsgeschichte des Matsutake, seine Ökologie und sein Verhalten, während die Leser/innen über den Entstehungskontext dieser Werke kaum etwas erfahren. Insgesamt entsteht ein ziemlich ästhetisiertes Bild wissenschaftlicher Forschung, das sich mehr aus „Neugier“ (S. 15), „Freude am Wahrnehmen“ (S. 373) und „Fantasie“ (S. 33) speist, als aus handfesten wirtschaftlichen oder politischen Interessen. Mit dem Matstutake wird immerhin viel Geld verdient, nicht nur in den Luxusrestaurants in Tokio, sondern auch seitens einer Lebensmittel- und Pharmaindustrie, deren Forschungsabteilungen sich seit Jahrzehnten für ein ähnlich ‚lokales‘ Wissen interessieren, wie Tsing es beschreibt. An die prominenten Biologen des 19. und 20. Jahrhunderts, von Charles Darwin bis Jakob von Uexküll, wendet sich die Autorin wiederum ausschließlich als Stichwortgeber und Vordenker, um sich ihres eigenen Zugangs zu vergewissern. Kein Wunder, denn dieser ist stark naturwissenschaftlich legitimiert. An zentralen Stellen ihrer Argumentation stützt sie sich auf neuere Forschungen aus der Ökologie und speziell aus der Ökosystemforschung, um ihre ethnographisch-historische Aufmerksamkeit für „Kollaboration“ (S. 48), „zwischenartliches Leben“ (S. 191), „artenübergreifende Feinabstimmung“ (S. 211) oder „Störungen“ (S. 20) zu plausibilisieren. In dem neuerlichen Vertrauensvorschuss an die Naturwissenschaften folgt sie einem Trend in der jüngeren Wissenschafts- und Technikforschung und Umweltgeschichte, die sich seit einigen Jahren wieder stärker an die Naturwissenschaften und insbesondere die Ökologie anlehnt. Statt die Wissensproduktion der Naturwissenschaften zu entzaubern oder gar zu kritisieren, geht es hier nunmehr darum, sich mit ihnen zusammen aus dem gegenwärtigen ökologischen und politischen Schlamassel zu befreien.3 Im Anthropozän und seinen allgegenwärtigen „Ruinen des Kapitalismus“, so der vielleicht eindrücklichste wissensgeschichtliche Grundton des Buches, sitzen wieder alle Wissenschaftler/innen in einem Boot.

Der Pilz am Ende der Welt ist seit dem Erscheinen der amerikanischen Originalausgabe im Jahr 2015 ein Publikumserfolg, was sich nicht zuletzt in der sehr gelungenen deutschen Übersetzung manifestiert, die inzwischen bei Matthes & Seitz vorliegt. Ein Grund dafür ist zuallererst in der Erzählfreude zu suchen, die das Buch auf jeder Seite versprüht und die einen als Leser von Beginn an in den Bann zieht. Bisweilen gleitet der Text ins Phantastische ab. Ein Epilog über die Sporen der Pilze liest sich beispielsweise wie ein posthumanistisches Märchen über globale Vernetzung und Zirkulation. Vermutlich ist es auch der Konzentration auf viele kleine „Geschichten“ geschuldet, dass es Tsing gelingt, ein akademisches Publikum ebenso anzusprechen wie eine breitere Leseöffentlichkeit. Weil das Buch so vielfältige Identifikationspotenziale und Anschlussmöglichkeiten bereitstellt, tendiert es jedoch bisweilen zum intellektuellen Gemischtwarenladen. Am Ende ist für jede und jeden etwas dabei: Leser/innen aus der Wissens-, Umweltgeschichte oder Kulturwissenschaften werden in dem Buch vor allem eine Inspiration sehen, um anders über die Geschichte der technischen Umwelten der Gegenwart zu schreiben; Künstler/innen, Hipster und Kreativarbeiter/innen in Berlin und Los Angeles können in dem Buch eine Anleitung zum „prekären Überleben“ (S. 55) finden (ein Leben, das bei näherem Hinsehen dann doch nicht so viel mit dem der Pilzsammler in Oregon zu tun hat); Aussteiger/innen in der Uckermark oder Umweltaktivist/innen in Brüssel werden den Text als Manifest zur ökologischen Landwirtschaft interpretieren; und der weltgewandte Foodie in Zürich oder London, genauso wie gutbürgerliche Feinschmecker/innen in Freiburg, lernen darin noch etwas Unbekanntes über die japanische Küche.

Im besten Sinne des Wortes zeitgemäß zu sein und so unterschiedliche Leserschaften anzusprechen, ist zweifellos eine Leistung des Buches. Was allerdings stellenweise auf der Strecke bleibt, ist eine vertiefte Auseinandersetzung mit den einzelnen Elementen der jeweiligen Geschichten. Das betrifft insbesondere die Rolle von Wissenschaft, gerade auch mit Blick auf den im Buch gewählten analytischen Zugang. So viel Unerwartetes wir auch über die Lebens- und Sinnwelten der Matsutakesammler und -händler erfahren, so hätte man sich als Leser bisweilen gewünscht, dass Tsing mehr Worte darüber verloren hätte, was es konkret bedeutet – und auch: was politisch auf dem Spiel steht –, wenn wir unseren analytischen Zugang zu Wissen und Wissenschaft derart ökologisieren und ästhetisieren. So wirft die Geschichte vom kleinen Pilz tatsächlich große Fragen auf, nicht zuletzt dahingehend, wie sich Umweltgeschichte und Wissenschaftsforschung künftig zusammendenken lassen. Wie auch immer eine solche Wissensgeschichte auch aussehen mag und ob sie tatsächlich die Wissenschaftsgeschichte ganz ad acta legen kann – an Tsings Pilzen wird sie jedenfalls so schnell nicht mehr vorbeikommen.

Anmerkungen:
1 Matsutake Worlds Research Group, A New Form of Collaboration in Cultural Anthropology. Matstutake Worlds, in: American Ethnologist 36 (2009), S. 380–403.
2 Anna Lowenhaupt Tsing, Friction. An Ethnography of Global Connection, Princeton 2005.
3 Paradigmatisch in dieser Hinsicht sind Bruno Latours jüngere Arbeiten, etwa: Das Parlament der Dinge. Für eine politische Ökologie, Frankfurt am Main 2001; Why Has Critique Run out of Steam? From Matters of Fact to Matters of Concern, in: Critical Inquiry 30 (2004), S. 225–248.

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