P. Gassert u.a. (Hrsg.): Koalitionen in der Bundesrepublik

Cover
Titel
Koalitionen in der Bundesrepublik. Bildung, Management und Krisen von Adenauer bis Merkel


Herausgeber
Gassert, Philipp; Hennecke, Hans Jörg
Reihe
Rhöndorfer Gespräche 27
Erschienen
Paderborn 2017: Ferdinand Schöningh
Anzahl Seiten
343 S., 3 SW-Grafiken, 8 SW-Tab.
Preis
€ 49,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Frank Decker, Institut für Politische Wissenschaft und Soziologie, Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn

Anders als die Politikwissenschaft hat die Zeitgeschichtsforschung die Frage, wie Regierungskoalitionen gebildet werden und in der Praxis funktionieren, bisher kaum systematisch behandelt.1 Der von dem Mannheimer Zeithistoriker Philipp Gassert und dem Düsseldorfer Politikwissenschaftler Hans Jörg Hennecke herausgegebene Band schafft Abhilfe. Aus einem 2014 veranstalteten „Rhöndorfer Gespräch“ der Konrad-Adenauer-Stiftung hervorgegangen, beleuchtet er die Entwicklung der bundesdeutschen Koalitionsdemokratie von Konrad Adenauer bis Angela Merkel. Das Herzstück des Buches bilden sieben chronologisch angeordnete Kapitel über die Koalitionen unter Konrad Adenauer 1949 bis 1963 (Holger Löttel), Ludwig Erhard 1963 bis 1966 (Tim Geiger), die erste Große Koalition 1966 bis 1969 (Stefan Marx), die sozial-liberale Regierungszeit 1969 bis 1982 (Meik Woyke), die christlich-liberale Koalition in der Ära Helmut Kohl 1982 bis 1998 (Erik Lommatzsch), die rot-grüne Koalition 1998 bis 2005 (Hans Jörg Hennecke) und die Koalitionen unter Angela Merkel seit 2005 (Manuela Glaab). Die Auflistung zeigt, dass Kanzlerschaften und Koalitionen nicht deckungsgleich sind. Während in der sozial-liberalen Periode zwei Kanzler amtierten (Willy Brandt und Helmut Schmidt), stand Angela Merkel als bisher einzige Regierungschefin zwei unterschiedlichen Bündnissen vor – einer Großen (von 2005 bis 2009 sowie seit 2013) und einer schwarz-gelben Koalition (2009 bis 2013). Letzteres macht die wachsenden Schwierigkeiten der bis Mitte der 2000er-Jahre zumeist reibungslos verlaufenden Regierungsbildung deutlich, die eine Folge des sich ausfächernden Parteiensystems sind.

Eingerahmt werden die chronologischen Beiträge durch einen historischen Längsschnitt des Herausgebers Gassert und eine spieltheoretische Abhandlung über strategische Aspekte der Koalitionsbildung und -praxis (Carsten Giersch) zu Beginn sowie durch die Dokumentation eines Zeitzeugengesprächs und einen zusammenführenden Beitrag des Herausgebers Hennecke am Ende des Bandes. Dass das Gespräch von Jürgen Rüttgers (CDU), Michael Glos (CSU) und Klaus Kinkel (FDP) einen „schwarz-gelben“ Bias hat, ist der institutionellen Urheberschaft des Bandes geschuldet, fällt aber als Nachteil nicht weiter ins Gewicht. Vielmehr stellt das Dokument eine sinnvolle Ergänzung des gemessen an der langen Regierungszeit recht knapp gehaltenen Beitrags über die Ära Kohl dar, über die hier in zumeist anekdotischer, aber doch analytisch anschlussfähiger Weise räsoniert wird.

Die verschiedenen Fäden führt Hans Jörg Hennecke im abschließenden Beitrag unter vier leitenden Fragen klug zusammen. Die erste Frage betrifft die stilprägende Wirkung der Regierungszeit Adenauers. Sie muss differenziert beantwortet werden, da der eigentliche Durchbruch zur Koalitionsdemokratie (mit schriftlichen Koalitionsvereinbarungen, informellen Entscheidungsverfahren sowie festen Regeln der Ressortzuteilung und Ämterbesetzung) erst ab 1961 erfolgte, also am Ende der Adenauer-Ära – schrittweise, dafür aber in aller Konsequenz; die Charakterisierung des Regierungstypus als „Kanzlerdemokratie“ bleibt bis zu diesem Datum gerechtfertigt. Erstaunlich ist, dass der wichtigsten politischen Weichenstellung Adenauers nur wenig Beachtung geschenkt wird, nämlich dem entschiedenen Eintreten des ersten Kanzlers und CDU-Vorsitzenden für die „kleine“, bürgerliche Koalition. Dass zu deren Entstehungszeitpunkt im Bund auf der Länderebene noch ganz überwiegend Große Koalitionen oder sogar Allparteienregierungen die Regel waren, ist selbst aus dem Gedächtnis der Fachhistoriker heute weitgehend verschwunden.

Weil der Band sein Augenmerk insgesamt stärker auf das Regieren in und mit den Koalitionen lenkt als auf das von der Entwicklung des Parteiensystems bestimmte Zustandekommen der Koalitionen, spielt die Länderebene in den einzelnen Beiträgen leider nur eine Randrolle; allein für die sozial-liberale Periode wird sie etwas ausführlicher beleuchtet. Dies ist aus zwei Gründen misslich. Zum einen wurden und werden die Koalitionsformate im Bund meist von den Ländern vorweggenommen. Zum anderen – und noch wichtiger – wirkt sich der Ausgang der Landtagswahlen auf die Zusammensetzung des in großen Teilen der Gesetzgebung gleichberechtigt mitwirkenden Bundesrats aus. Wenn die Bundesregierung im Zuge des „Zwischenwahleffekts“ damit rechnen muss, ihre Mehrheit in der Länderkammer einzubüßen, hat das zugleich Folgen für das Funktionieren und den Bestand der Koalitionen. Für Helmut Schmidt war diese Konstellation vermutlich kein Nachteil, weil er dadurch den linken Flügel der SPD „beschwichtigen“ konnte. Gerhard Schröders Entscheidung, 2005 vorzeitig das Handtuch zu werfen und Neuwahlen herbeizuführen, dürfte dagegen mehr mit der unhaltbar gewordenen Position der Regierung im Bundesrat zu tun gehabt haben als mit dem fehlenden Rückhalt des Kanzlers in seiner eigenen Partei.

Die zweite Frage betrifft die seit 1961 eingetretenen Variationen und Innovationen des Koalitionsmanagements. Hier liefern die Beiträge äußerst wertvolle und vielschichtige Informationen. Eine wichtige Erkenntnis ist, dass kleine und Große Koalitionen – was den Drang zur institutionellen Absicherung angeht – keinen sonderlichen Unterschied bedeuten. Bei kleinen Koalitionen ist das Misstrauen vor allem durch die Furcht des kleinen Partners bestimmt, von der größeren Partei, die zugleich den Kanzler stellt, „untergebuttert“ zu werden, bei Großen Koalitionen dagegen durch die ideologischen und politikinhaltlichen Differenzen zwischen den Partnern. Das Prinzip der „Augenhöhe“ gilt dabei, wie Rüttgers im Podiumsgespräch betont, nicht nur für die Großen Koalitionen. Das letzte und stärkste Mittel, um die Koalitionsdisziplin zu erzwingen, kommt merkwürdigerweise nur beiläufig (im Beitrag über die sozial-liberale Koalition) bzw. überhaupt nicht zur Sprache (im Beitrag über Rot-Grün): die Vertrauensfrage nach Artikel 68 des Grundgesetzes. Dabei sind die Fälle auch in der unterschiedlichen Handhabung des Instruments aufschlussreich. Als Schmidt Anfang 1982 die Vertrauensfrage stellte, verzichtete er – anders als es Woyke schildert – darauf, die Abstimmung mit einer konkreten, für den Koalitionspartner womöglich schmerzhaften Sachentscheidung zu verbinden; die FDP konnte ihm das Vertrauen deshalb gefahrlos aussprechen, um die Koalition ein halbes Jahr später dennoch platzen zu lassen. Für das Überleben von Schröders rot-grüner Koalition war demgegenüber entscheidend, dass der Kanzler die Zustimmung des grünen Koalitionspartners zum Afghanistan-Einsatz der Bundeswehr im November 2001 mit der Vertrauensfrage verknüpfte. (Bei Schröders zweiter Vertrauensfrage Mitte 2005 war der Fall anders gelagert: Hier wollte der Kanzler die Abstimmung freiwillig verlieren, um darüber eine Auflösung des Bundestags zu erreichen.)

Die dritte Leitfrage bezieht sich darauf, warum Koalitionen, auch wenn sie von denselben Parteien geschlossen wurden, in der Bundesrepublik am Urteil der Wähler gemessen mal besser oder mal schlechter funktioniert haben. Der wichtigste Erklärungsfaktor liegt im wechselseitigen Vertrauen der Partner, das spätestens während der Koalitionsverhandlungen aufgebaut werden muss und entscheidend vom persönlichen Verhältnis und der Autorität des jeweiligen Führungspersonals abhängt. Liefern der verständnisvoll-großzügige Umgang, den Kohl der FDP gegenüber in seiner gesamten Regierungszeit im Unterschied zu Merkel oder Adenauer pflegte, oder der Vergleich der ersten mit der zweiten und dritten Großen Koalition scheinbar Belege für diese These, ließe sich dennoch einwenden, dass die Bedeutung der strukturellen Faktoren, die sich etwa aus den größeren Anforderungen des Regierens, den veränderten Vorzeichen des Parteienwettbewerbs oder der gewandelten Medienlandschaft ergeben, in einer solchen Perspektive unterschätzt wird.

Die abschließende Frage nach der künftigen Entwicklung der deutschen Koalitionsdemokratie nimmt diese Aspekte zum Teil auf. Aus der Rückschau der komplizierten Regierungsbildung nach der Bundestagswahl 2017 hat sich Henneckes Voraussage, dass die Koalitionen unübersichtlicher und instabiler werden, die Bundesrepublik durch die erzwungene Perpetuierung der Großen Koalition auf österreichische Verhältnisse zusteuern könnte und der Bundespräsident als Geburtshelfer künftiger Regierungen womöglich stärker gefordert ist, als äußerst prophetisch erwiesen. Langwierige oder gescheiterte Regierungsbildungen waren aus deutscher Sicht bis dahin immer ein Thema anderer Länder gewesen – jüngst etwa Belgiens oder der Niederlande –, die man deshalb nicht selten mitleidig beäugte. Spätestens seit dem Scheitern der Jamaika-Verhandlungen und dem sich nach der Bundestagswahl über fast ein halbes Jahr hinziehenden Interregnum gibt es für diese Form der Überheblichkeit keinen Grund mehr.

Anmerkung:
1 Für eine umfassende Bestandsaufnahme der politikwissenschaftlichen Koalitionsforschung vgl. Frank Decker / Eckhard Jesse (Hrsg.), Die deutsche Koalitionsdemokratie vor der Bundestagswahl 2013. Parteiensystem und Regierungsbildung im internationalen Vergleich, Baden-Baden 2013.

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