M. Rauchensteiner: Unter Beobachtung

Cover
Titel
Unter Beobachtung. Österreich seit 1918


Autor(en)
Rauchensteiner, Manfried
Erschienen
Anzahl Seiten
628 S.
Preis
€ 29,99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Carlo Moos, Historisches Seminar, Fachbereich Neuzeit, Universität Zürich

Auf dem Umschlag des neuesten Buches von Manfried Rauchensteiner findet sich als Ausschnitt aus „An die Schönheit“ von Otto Dix im Vordergrund der scharf-kritische Blick des Selbstportraitierten und im Hintergrund ein selbstversonnenes junges Paar. Von da und in Übertragung auf Österreich seit 1918 erklärt sich der Haupttitel „Unter Beobachtung“. Allerdings bleibt nach Lektüre des starken Bandes eher fraglich, ob der attraktive Titel weit genug trägt. Der Verfasser, langjähriger Direktor des Heeresgeschichtlichen Museums und Universitätsprofessor, erweckt mit ihm den Eindruck, er hätte sich in diesem Buch als Summa seiner jahrzehntelangen Beschäftigung mit der jüngeren und jüngsten österreichischen Geschichte und in Fortsetzung des Riesenwerks über den Ersten Weltkrieg1 für eine thematische Leitlinie entschieden, die dem Inhalt als roter Faden dienen würde. Wenn dies ansatzweise der Fall ist, hätte man sich angesichts der Frage, wie ein Überblick über 100 Jahre hochkomplexer nationaler Geschichte organisiert sein könnte, gewünscht, dass es markanter und bis in die Gliederung des Stoffs hinein der Fall wäre. Schon ein kurzer Blick ins Inhaltsverzeichnis zeigt aber, dass vornehmlich eine chronologisch angelegte, detailreiche Erzählung geliefert wird.

Der Erzählstrang folgt 24 Kapiteln, deren Titel den Inhalt nicht immer adäquat erschließen, aber sich zwangslos in acht Blöcke à je drei Kapitel gliedern lassen. Zunächst geht es um die Auflösung des Habsburgerreiches und die Entstehung der Ersten Republik bis zum Staatsvertrag von St. Germain (Kapitel 1–3), dann um den Bruch der Gründungskoalition und die Aufmarschiererei der Paramilitarismen bis hinein in die Bürgerkriegsszenarien (4–6), weiter um das Trauma des Demokratie-Endes im Ständestaat und dessen katastrophales Scheitern (7–9) und in der Folge über die sogenannte NS-Revolution zur Teilnahme von über einer Million Österreichern am Zweiten Weltkrieg (10–12). Der etwas längere zweite Buchteil setzt mit den Zerstörungen, Gewalttaten und Fluchtbewegungen bei und nach Kriegsende sowie mit den Anfängen der Zweiten Republik und den Schwierigkeiten der Besatzungszeit ein (13–15), führt dann vom Staatsvertrag 1955 über Österreichs Zwischen-den-Blöcken-Stehen zur Krise der ausgehenden 1960er-Jahre (16–18), denen die Kreisky-Jahre mit ihren Höhen (Österreich als „big player“, 397) und Tiefen (Österreich als „Skandalrepublik“, 410) und der „Fall Waldheim“ sowie die Implosion Osteuropas und der EU-Beitritt folgen (19–21), während zuletzt die gut anderthalb Jahrzehnte seit den EU-Sanktionen gegen die erste Schüssel-Regierung bis zu den neuesten Völkerwanderungen und Überfremdungsängsten skizziert werden (22–24). Wenn ab 1955 – oft unter Zuzug britischer Botschaftsberichte – vornehmlich den einzelnen Bundeskanzlern nachgegangen wird, sind die Jahrzehnte zuvor mehr um zentrale Fragen gruppiert, so um die sich radikalisierenden Parteiprogramme der Ersten Republik und immer wieder um ihr Gewaltproblem mit seiner mörderischen Steigerung im NS-Staat.

Wie in einem Jahrhundert-Überblick selbst auf rund 530 Textseiten kaum anders möglich, wird das meiste ziemlich rasch und eher knapp abgehandelt, wirkt oft aufzählend und aneinandergereiht und erscheint irgendwie gleichwertig. Insofern geht es um eine Fülle von Ereignissen und Entwicklungen im einmal trägeren, dann wieder beschleunigteren Fluss der Zeit und weniger um markante Schwerpunkte. Angesichts der eindrücklichen Vielfalt an Informationen, mit deren Hilfe man sich über fast alles bis hin zur großen Freudenkundgebung auf dem Schwarzenberg-Platz nach dem gescheiterten Hitlerattentat vom 20. Juli 1944 informieren kann, nimmt man dies in Kauf und bisweilen anfallende Redundanzen erscheinen nicht störend. Der Detailreichtum der Arbeit ist umwerfend, und wenn etwa das andauernde Problem des Habsburgervermögens fehlt, fühlt sich der Rezensent schon fast glücklich.

Als geglückteste Partien (wenn die Qualifizierung bei solchen Themen nicht unpassend ist) erscheinen jene über den Ständestaat und die NS-Phase, wobei in letzterer der Österreichbezug ab und zu forciert wirkt. Sehr erfreulich sind immer wieder anzutreffende Rückbezüge auf die Habsburgermonarchie und die Erste Republik, womit elegant auf Kontinuitäten aufmerksam gemacht wird. Natürlich ist hier an das Kriegswirtschaftliche Ermächtigungsgesetz zu denken, mit dessen Hilfe 1934 die sogenannte Maiverfassung verabschiedet wurde, oder an den neuen Glanz der „alten Kaiserstadt“ in den Wiener Schiedssprüchen von 1938 und 1940 (186, 199), aber nach dem Zweiten Weltkrieg auch an die Ansprüche Jugoslawiens und die Kärntner Abwehrkämpfe 1918–20 oder an die Wünsche des Burgenlandes nach Sopron und jene Tirols nach dem verlorenen Süden und generell an Ähnlichkeiten zwischen den Anfängen der beiden Republiken; weiter an die Wiedereröffnung von Burgtheater und Staatsoper 1955 und schließlich – im Zusammenhang mit Genozid und Vertreibungen in den Zerfallskriegen Jugoslawiens – an den Umstand, dass Slowenen, Kroaten und Bosnier einst zur Habsburgermonarchie gehörten. Natürlich passt das Begräbnis Otto Habsburgs als „Großereignis“ hierher (502), während in allerneuester Zeit von Fortwursteln im Stil von Ministerpräsident Taaffe die Rede sein kann (506) und bezüglich neuer Formen von Xenophobie daran erinnert wird, dass die Monarchie Nationalismen dem Gesamtstaat unterordnete (510). Eine weitere Stärke des Buches ist das Bemühen um Ausgewogenheit, obwohl die Präferenzen bei den handelnden Personen trotzdem einigermaßen deutlich werden: Renner vor Bauer, Dollfuss vor Schuschnigg, Raab vor Figl, Klaus vor Kreisky, Schüssel vor Gusenbauer. Damit ist bereits gesagt, dass ein klarer Vorrang des Politischen zu verzeichnen ist, selbst wenn in beiden Republiken auch Banken- und Finanzfragen ausführlich rekapituliert werden.

Rauchensteiners Buch ist fachlich in jeder Beziehung sauber gearbeitet. Es bewegt sich durchwegs an der Front einer umfassend beigezogenen Forschung, auf die in den Anmerkungen (mit gebührendem Dank an die Österreichische Nationalbibliothek) verwiesen wird. Ab und zu fehlen freilich Belege, so unter anderem eine ganze Reihe auf S. 273. Auch die Archivarbeit des Verfassers in den Londoner National Archives, in US-amerikanischen und deutschen Archiven und natürlich im Österreichischen Staatsarchiv oder im Kreisky-Archiv und anderen wird erwähnt. Wertvoll ist die breite Chronik Österreichs von 1918 bis 2017 im Nachgang des Werks.

Einige im Buch angetippte Fragen bleiben offen, etwa inwiefern die österreichische Neutralität anders sei als die schweizerische (317) oder weshalb man sich 1956 besser verhalten haben soll als 1968 (366). Und zeigte Kreisky wirklich keine Berührungsängste gegenüber Nazis und Wehrmachtsangehörigen (374)? Unangefochten und omnipräsent (404) wie er zwischenzeitlich war, konnte er nicht verhindern, dass Österreich seitens deutscher Sozialdemokraten unter Beschuss kam. Laut Willy Brandt hätten seine Bewohner Beethoven zum Österreicher und Hitler zum Deutschen gemacht, und gemäß Helmut Schmidt hätten sie sich in Bezug auf die Nazis und den Austrofaschismus durchgemogelt (405). Das Buch schließt denn auch nicht unpassend mit einer Betrachtung zum Wiener Heldenplatz als Erinnerungsort und – unter anderem mit Blick auf die dortige Hitler-Terrasse und den nachträglichen Umgang mit ihr – als „Platz des irdischen Unfriedens“ (523) oder, mit einem Wort von Peter Stachel, als „Hauptplatz der Republik Österreich und der neueren österreichischen Geschichte“ (524).

„Unter Beobachtung“ bleibt trotz dem oben leicht kritisch Angemerkten eine glückliche Formel für einzelne Phasen der österreichischen Geschichte, von den frühen 1920erjahren über den Ständestaat, die Hitlerzeit, das Kriegsende sowie über Waldheim und Haider bis in die unmittelbare Gegenwart zu den Umständen der Wahl Alexander Van der Bellens zum Bundespräsidenten 2016, als ein Rückfall in die Waldheimjahre befürchtet wurde (512). Als Fred Sinowatz 1983 in einer Kleinen Koalition mit der FPÖ regierte, war das aus späterer Sicht durchaus „ein Sündenfall“ (416). Viel deutlicher erschien dies anlässlich der ersten Schüssel-Regierung bei den gegen sie verfügten EU-Sanktionen oder in der in diesem Kontext ins Feld geführten Trias Hitler-Waldheim-Haider (471). Nur zeigen sich in solchen Fällen – wie jetzt wieder anlässlich der neuesten ÖVP-FPÖ-Koalition Kurz-Strache – seitens vermeintlich kritischer Beobachter ihrerseits fadenscheinige Nationalismen, so in den italienischen Reaktionen auf den zweifellos wenig salonfähigen Südtirol-Doppelpass-Vorschlag der FPÖ.2

Anmerkungen:
1 Manfried Rauchensteiner, Der Erste Weltkrieg und das Ende der Habsburgermonarchie 1914–1918, Wien 2013.
2 Vgl. unter anderem die Berichterstattung im Corriere della Sera, 17.–20. Dezember 2017.

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