S. Pimpare: Ghettos, Tramps, and Welfare Queens

Cover
Titel
Ghettos, Tramps, and Welfare Queens. Down and Out on the Silver Screen


Autor(en)
Pimpare, Stephen
Erschienen
Anzahl Seiten
XXXI, 342 S.
Preis
£ 22.99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Guido Kirsten, Institut für Film-, Theater- und empirische Kulturwissenschaft, Johannes Gutenberg-Universität Mainz

Die Darstellung oder Diskursivierung von Armutsphänomenen im Medium des Films ist bislang kaum untersucht worden. Jedenfalls existierte bis zur Veröffentlichung von Stephen Pimpares „Ghettos, Tramps, and Welfare Queens“ keine einzige Monografie zu diesem Thema. Pimpare, Senior Lecturer für „American Politics and Public Policy“ an der University of New Hampshire at Manchester, ist Experte für Armut in der US-amerikanischen Gesellschaft und Autor von „The New Victorians “ und „A People’s History of Poverty in America“.1 Sein profundes Wissen auf diesem Gebiet kommt auch dem vorliegenden Buch zugute. Erklärtes Ziel seiner Studie ist, zu untersuchen, wie die Geschichte der Armut und ihrer Politik auf der Leinwand erscheint, wie Individuen, Familien und Wohngegenden repräsentiert werden und wie sich diese Darstellungen zu sozialwissenschaftlichen Kenntnissen der Geschichte und Gegenwart von Armut verhalten.

Sein Ausgangspunkt ist ein von vielen progressiven Armutsforschern konstatiertes Phänomen, das eine Reihe von Fragen aufwirft: Wieso ist in den USA, einem der reichsten Länder der Welt, die Armut so unverhältnismäßig groß? Warum sind die Raten der Gesamtarmut, der Kinderarmut, der Altersarmut, der Kindersterblichkeit, der Ungleichheit, der Gewalt, der Inhaftierungen höher, und die der Lebenserwartung, der Aufstiegschancen und des Zugangs zur Gesundheitsversorgung niedriger als in anderen wohlhabenden kapitalistischen Staaten? Eine oft gegebene Antwort lautet: aufgrund einer höchst mangelhaften Politik der Armutsbekämpfung, einem fehlenden Wohlfahrtsstaatsgedanken in den USA. Den Grund dafür sehen Pimpare und andere Forscher in einem bestimmten Set an in der US-Gesellschaft vorherrschenden Grundüberzeugungen, die sich auch auf politische Programme auswirken. Mehrere Studien belegen: „Americans are more likely than their counterparts in other rich democracies to attribute poverty to lack of work effort or other personal failures than to failures of public policy or the economy, much less likely to believe that luck plays an important role in determining income, and less likely to believe that there’s a public obligation to help care for those who, for whatever reason, are unable to care for themselves.“ (S. xxvii)

Pimpare geht davon aus, dass Filme einen (wenn vielleicht nur bescheidenen, jedenfalls kaum zu quantifizierenden) Einfluss auf die Wahrnehmung von Armut und so, mittelbar, auf die Armutspolitik in den USA haben. Die Filmproduktionen Hollywoods versteht er dabei sowohl als Teilursache als auch als Widerspiegelung der historischen Entwicklung des Armutsverständnisses der US-Bevölkerung. Dieses Verständnis ist schon deswegen bemerkenswert, weil es eklatante Differenzen zu sozialwissenschaftlichen Erkenntnissen über tatsächliche Armutsursachen und wirkungsvolle Gegenmaßnahmen aufweist. Pimpares Studie ist also nicht weit entfernt von älteren Modellen der ideologiekritischen Auseinandersetzung mit Hollywood, aber sein Thema und seine Fragen sind spezifisch genug, um dieses Feld zu erweitern und neue Erkenntnisse zu produzieren.

Sein Filmkorpus besteht aus circa 300 Titeln, die zwischen 1902 und 2015 in den USA produziert wurden und in denen Armut eine zentrale Rolle spielt. Angeordnet hat er die Analyse dieser Filme nicht chronologisch, sondern thematisch. Im ersten Teil des Buchs werden filmische Orte der Armut verhandelt: die Großstadt, das Ghetto, der Sozialbau, die Armut im ländlichen Raum. Und es werden stereotype Figuren wie die sogenannte Welfare Queen, der Sozialarbeiter und der Lehrer identifiziert. Der zweite Teil rückt dann die Figur des Tramps – des Armen, der permanent unterwegs ist, des modernen Nomaden – ins Zentrum.

Die große Anzahl an untersuchten Filmen erlaubt es Pimpare, wiederkehrende Muster zu identifizieren. So kristallisieren sich vier große Varianten der Tramp-Figur heraus: „Vaudevillian“ (der Tramp als Clown, über den man lachen kann – man denke an Chaplin), „Villain“ (der Tramp als Bösewicht, den man in seiner Unberechenbarkeit fürchten muss), „Victor“ (der Tramp, der sich über sein Schicksal erhebt und den amerikanischen Traum „from rags to riches“ verkörpert) und „Victim“ (der Tramp als zu bemitleidendes Opfer).

Darüber hinaus weist der Autor auf noch grundlegendere Muster hin, die fast für das gesamte Korpus gelten: Erstens sind sehr oft die Armen und Obdachlosen, selbst wenn sie eine der Hauptrollen spielen, narrativ weniger zentral als die/der eigentliche Held/in, der/dem der Arme zur Erleuchtung über den wahren Sinn des Lebens verhilft. Die Figur des Armen wird so zur bloßen Funktion für die eigentliche Identifikationsfigur. In seiner Konklusion führt Pimpare, in Analogie zum „male gaze“ aus der feministischen Filmtheorie, das Konzept des „propertied gaze“ ein (S. 288). Der filmische Blick, der sich aus der Perspektive und den Identifikationsangeboten ergibt, ist nicht nur ein männlicher, sondern auch einer der „besitzenden Klasse“. Als Grund dafür nennt er unter anderem, dass Arme sehr viel seltener Filme produzieren als beispielsweise Bücher schreiben können und daher nur in Ausnahmefällen Erfahrungen aus erster Hand ins Drehbuch einfließen. Das äußert sich auch darin, dass Arme im Film selten entwickelte Persönlichkeiten und entwickelte Interessen zu haben scheinen, die nicht auf ihre Armut zurückzuführen sind.

Damit sind wir beim zweiten großen Grundmuster, das sich in Pimpares Buch herausschält: Entweder werden die Ursachen der Armut gar nicht thematisiert oder als individuelle Schicksalsschläge konstruiert. Strukturelle Gründe werden fast nie Teil der filmischen Erzählung, und Analysen von ökonomischen Gesamtzusammenhängen kommen in den 300 Filmen praktisch überhaupt nicht vor. Eine Dichotomie, die auch den Alltagsdiskurs zur Armut in den USA im 20. Jahrhundert beherrscht hat, wirkt als latentes Ordnungsprinzip in den Filmen: Unterschieden wird zwischen „worthy“ oder „deserving poor“ (unverschuldet arm Gewordene, die der Hilfe würdig sind) und „unworthy“ oder „undeserving poor“ (die keine Hilfe verdient haben), wobei die Grundannahme herrscht, dass jede und jeder im Prinzip das eigene Schicksal in der Hand hat und nur echte Schicksalsschläge und echte Hilflosigkeit das Label „deserving“ rechtfertigen. Wenn eine arme Filmfigur sympathisch gezeichnet werden soll, wird sie fast ausschließlich als „deserving poor“ konzipiert. Umgekehrt wird auch das Ende der Armut, wenn es einmal vorkommt, immer einer individuellen Veränderung zugeschrieben oder dem Eingreifen eines deus ex machina (ein edler Retter, das Erbe eines unbekannten Onkels etc.). Nie verdankt es sich einer politischen Initiative, einer kollektiven Aktion oder eines veränderten staatlichen Handelns.

Pimpares insgesamt überzeugendes Buch hat durchaus auch einige Schwächen, von denen die größte aus seinem Desinteresse für eine filmwissenschaftlich informierte Analyse resultiert. Sein Vokabular entspricht dem gängiger Filmkritiken und seine Beschreibungen der Filme beschränken sich ausschließlich auf die Wiedergabe der Plots. Dass es sich um Filme handelt, scheint eigentlich keine Rolle zu spielen, Pimpare könnte ebenso gut Romane zusammenfassen. Damit gerät aus dem Blick, was auch und gerade unter den Prämissen seines Erkenntnisinteresses relevant gewesen wäre, nämlich der Einsatz der filmischen Mittel: Wann und wie bringen uns die Filme den Armen optisch und emotional nahe? Bedienen sie sich wiederkehrender Ikonografien der Armut? (Es gibt in dem Buch zahlreiche Stills aus den besprochenen Filmen, aber keiner dient der Analyse oder wird in die Argumentation eingebunden.) Mit welchen filmischen Mitteln werden Empathie, Sympathie, Antipathie oder Apathie gegenüber Armen suggeriert? Werden Voice-over (Erzählstimmen, Off-Kommentare), wird Musik eingesetzt und, wenn ja, wie und zu welchem Zweck? Dass Pimpare derartige Fragen nicht berücksichtigt, macht die Lektüre seines eigentlich unterhaltsam geschriebenen Buches streckenweise ermüdend, weil sich eine Inhaltsbeschreibung an die nächste reiht.

In der Konklusion wird Pimpares politisches Anliegen noch einmal besonders deutlich. Nicht ohne Pathos zieht er drei Lehren aus seiner Studie: eine für Filmzuschauer, eine für Filmschaffende und eine für politische Entscheidungsträger und Journalisten. Den Filmemachern rät er, sich dem Thema verstärkt zuzuwenden und dabei die Expertise von Betroffenen in Anspruch zu nehmen, um ein empathisches Verständnis für die reale Situation von Wohnungslosigkeit und materieller Prekarität zu entwickeln. Die Lehre für die Zuschauer beinhaltet eine Vorsichtsmaßnahme: Glaube nicht, dass das Bild, das der amerikanische Film von Armut und Obdachlosigkeit zeichnet, Erkenntnisse liefert! Besonders wenn ein Film bestätigt, was man schon zu wissen meinte, sei Vorsicht geboten. Er empfiehlt eine Reihe von Filmen, die in seinen Augen positive Ausnahmen darstellen, und weist auf Bücher hin, die ein adäquateres und komplexeres Bild von Armut zeichnen. Nicht zuletzt schlägt Pimpare vor, sich selbst lautstark für bessere und progressivere Filme einzusetzen, weil diese die Kultur des Landes verändern könnten. Insbesondere jene, die bereits gut über die tatsächlichen Zusammenhänge informiert seien, sollten entsprechend aktiv werden.

Pimpares Buch ist zu wünschen, dass es über die Fächergrenzen und über den akademischen Bereich hinaus wahrgenommen und diskutiert wird. Vielleicht kann es zu ähnlich angelegter Forschung für die außeramerikanische Filmgeschichte inspirieren. In Europa und vielen anderen Teilen der Welt drohen die Probleme ähnlich drängend zu werden wie in den USA. Die Untersuchung ihrer medialen Verarbeitung wird damit genauso dringend.

Anmerkung:
1 Stephen Pimpare, The New Victorians. Poverty, Politics, and Propaganda in Two Gilded Ages, New York 2004; und Stephen Pimpare, A People’s History of Poverty in America, New York 2008.