R. Bernbeck: Materielle Spuren des nationalsozialistischen Terrors

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Titel
Materielle Spuren des nationalsozialistischen Terrors. Zu einer Archäologie der Zeitgeschichte


Autor(en)
Bernbeck, Reinhard
Reihe
Histoire 115
Anzahl Seiten
515 S.
Preis
€ 39,99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Attila Dézsi, Institut für Vor- und Frühgeschichtliche Archäologie, Universität Hamburg

„Ausgrabendes Erinnern“ (S. 385) – der Archäologe Reinhard Bernbeck zeigt Möglichkeiten und Grenzen auf, wie Untersuchungen seiner Disziplin die Erforschung und Vermittlung der Geschichte des nationalsozialistischen Terrors erweitern können. Dabei knüpft er an den aktuellen Stand historischer Forschungen zur NS-Zeit an und bereichert diese unter anderem mit seinen Untersuchungsergebnissen der Ausgrabungen am Tempelhofer Feld in Berlin (2012–2014), wo sich das frühe KZ Columbia und anschließend ein Zwangsarbeitslager befand. Hierbei äußert er auch scharfe Kritik bezüglich der bisherigen archäologischen Praxis an Orten der NS-Geschichte und entwirft richtungsweisende, teils durchaus provokative methodische Überlegungen.

Die seit den 1990er-Jahren verstärkt aufgekommene zeitgeschichtliche Archäologie kann Orte der NS-Verbrechen in einem ganz materiellen Sinne aufdecken und damit auch das frühere Leid und die Ungerechtigkeit zur Sprache bringen – denn viele Orte sind längst vergessen und überbaut worden. Gerade in Zeiten eines zunehmenden Vergessens des NS-Terrors, so schreibt Bernbeck in der Einleitung, könnten archäologische Untersuchungen dem gesellschaftlichen Unwissen oder Nicht-Wahrhaben-Wollen entgegenwirken. Dies sei jedoch nur möglich, wenn die ortsgebundenen Forschungen sich ihrer politischen Dimension bewusst seien. Die Archäologie der Zeitgeschichte würde durch rein objektives Beschreiben der Befunde und übervorsichtige Interpretationen nicht der ethischen Verantwortung gerecht werden.

Schon im einleitenden ersten Kapitel wird deutlich, dass Bernbeck einen hohen theoretischen Anspruch vorgibt, der stark durch die Werke Walter Benjamins und die Kritische Theorie beeinflusst ist, und sehr selbstreflexiv schreibt. Das zweite Kapitel umfasst eine gut ausgearbeitete Methodendiskussion über das Verhältnis von Schrift- und Bildquellen, Fotografien und materieller Kultur. Durch die Betrachtung einer Rechnung für Zwangsarbeiter werden nicht nur die Verflechtungen von Firmen offenbar, sondern auch durch die Materialität der Rechnung an sich neue Perspektiven ermöglicht. Im Abschnitt über die Analysemöglichkeiten von Fotos wird am Beispiel einer Gegenüberstellung der Überlieferung der Gefangenen und der Fotos eines Kommandanten aus dem KZ Columbia frappierend klar, warum ein kritischer Vergleich aller Quellengattungen geboten ist.

Durch die Archäologie kommen neue Quellenarten hinzu, die durch Artefakte und Bodenbefunde eine ortsbezogene Alltagsgeschichte vermitteln können. Gerade diese Ortsgebundenheit kann eine historiographische Lücke ausfüllen, indem sie die Unterdrückungs- und Lebensverhältnisse in Lagern thematisiert. Eingehend kritisiert Bernbeck die Praxis, zwischen Sonderfunden und „unwichtigen“ Funden zu trennen sowie bestimmte Objekte jeweils Opfern oder Tätern zuzuweisen. Die Archäologie müsse die Fundortgeschichte bei jedem Lager genauestens kennen, um Funde komplexeren Lagereinteilungen angemessen zuschreiben zu können. Zudem werde Funden mit Inschriften oder Zeichnungen übergroße Aufmerksamkeit geschenkt – doch „statt verzweifelt nach Namen und Individuen zu suchen, sollte in der Materialität des Archäologischen das Potenzial der Erinnerung an die ewig anonym Bleibenden zum Vorschein gebracht werden“ (S. 154). Diesen methodischen Überlegungen kann nur zugestimmt werden – es wurde in der historischen Archäologie bereits angemerkt, dass archäologische Forschungen an historischen Orten, die in rein prähistorischer Manier ohne die Einbeziehung anderer bekannter Quellen arbeiten, eigentlich nur Ressourcen verschwenden.1

Im dritten Kapitel gibt der Autor einen kritischen Überblick zur Geschichte der Nutzung von Oral History für die NS-Forschung und diskutiert die Zeugenschaft von Objekten. Um zum Beleg werden zu können, müssen Objekte dokumentiert, als Evidenz genutzt und öffentlich werden – sind also zum Sprechen zu bringen, wie Bernbeck anhand eines Vorfalles im Jahr 2014 am ehemaligen Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik in Berlin-Dahlem zeigt: In der Nähe der heutigen Universitätsbibliothek der Freien Universität wurden bei Baumaßnahmen menschliche Überreste gefunden, jedoch nicht archäologisch dokumentiert. Sie wurden der Gerichtsmedizin übergeben, dort als nicht rezent bestimmt und zur genaueren Untersuchung an die rechtsmedizinische Abteilung der Berliner Charité übermittelt. Das Landesinstitut für gerichtliche und soziale Medizin bewahrte sie anschließend eine Zeit lang auf und schickte sie schließlich zum Einäschern an das Krematorium Berlin-Ruhleben. Später stellte sich heraus, dass dies Reste von Sammlungen der „Rassenkunde“ am Kaiser-Wilhelm-Institut waren, die auch aus Experimenten in Auschwitz zu stammen scheinen. Nachdem das öffentlich wurde, gab es zu Recht Proteste. Bernbeck prangert die Nicht-Dokumentation an und beschreibt die Ergebnisse der archäologischen Ausgrabungen von 2015/16, die weitere Überreste zutage fördern konnten. Vor allem nutzt er dies für seine Methodikdiskussion, da hier Befunde zu Zeugen wurden und auch anonyme Opfer sichtbar gemacht werden konnten.

Für Bernbecks Ausführungen sind die Überlegungen des italienischen Philosophen Giorgio Agamben zentral: Lager entsubjektivieren Menschen durch den gewaltvollen Entzug der persönlichen Dinge und der individuellen Freiheit bei gleichzeitiger rassistischer Neukategorisierung. Im nächsten Kapitel nutzt Bernbeck auch den vom amerikanischen Wahrnehmungspsychologen James Gibson geprägten Begriff der „Affordanz“ (engl. „affordance“) der Dinge – ihren Angebotscharakter im Hinblick auf mögliche Verwendungen – für ein historisches Verständnis des Lageralltages. Fallen uns im heutigen Alltag massenproduzierte Dinge wie Hygieneartikel, Kugelschreiber oder Spielzeug wenig auf, so kann ihr Gebrauch oder ihre mühsame Herstellung in den Lagern der NS-Zeit durch die aufgezwungene Knappheit nicht nur als Ausdruck von Überlebenswillen, sondern auch als kleiner Akt des Widerstandes interpretiert werden. Daher sind unsere Voreingenommenheiten gegenüber der „dinglichen Beiläufigkeit“ (S. 189) abzulegen, und es ist ein Prozess zu fördern, welchen Bernbeck als historische Imagination hervorhebt. Darin liegt die Kernthese seines Buches.

Besonders dem Evokationspotential der Dinge versucht Bernbeck systematisch auf den Grund zu gehen und betrachtet Objekte als Möglichkeit zur Vermittlung des historischen Leids. Selbstkritisch sieht er dieser Möglichkeit diverse Grenzen gesetzt: Die Evokation funktioniere nur, wenn die historischen Umstände der damaligen Ereignisse in ihren Grundzügen bereits bekannt seien. Ein Nacherleben des massenhaften, aber jeweils singulären Leids sei nicht möglich; erreichbar sei dennoch eine Verbindung zu den vergangenen Subjekten, die in der „traditionellen Historiographie“ (S. 321) vernachlässigt werde.

Bernbeck sucht Wege, die Wirkmächtigkeit der Dinge zu disziplinieren, indem er klar abgesetzte fiktive Narrationen entwirft, wie unter anderem zwei Erzählungen zu einem Handscheinwerfer-Fragment. Die erste Erzählung beschreibt die Kontrolle und Drangsalierung der Insassen durch einen Wächter, die zweite folgt der Sicht eines Gefangenen, der einen Fluchtversuch vornehmen wird. Beide Narrative sind fiktional, aber streng fundortgebunden, unterfüttert durch Oral History, Schriftquellen und das Artefakt. Sie können unter diesen Rahmenbedingungen Möglichkeitsräume herstellen, die dem Vergessen entgegenwirken, das durch überregionale Narrative des Terrors und ungreifbare Statistiken hervorgerufen wird. Eine solche kontrollierte Imagination ist ein spannender Ansatz, welcher meines Erachtens gut in Vermittlungskontexte eingebunden werden kann. Bernbeck sieht dies jedoch als „Pflicht“ (S. 210) und bezeichnet archäologische „interpretative Zurückhaltung“ sogar als „Geschichtsklitterung“ (S. 230).

Ein weiterer methodischer Zugang ist der antagonistische Vergleich von geplantem und gelebtem Raum in Lagern, angelehnt an den Soziologen Henri Lefebvre. Nach einer ausführlichen Analyse von Luftbildern und Lageplänen, Belegungsphasen und -zahlen des Tempelhofer Zwangsarbeitslagers stellt Bernbeck die Funde an einer Baracke vor, die dem geplanten Raum zu widersprechen scheinen. Die Archäologie ist folglich mit ihren empirischen Methoden weitgehend in der Lage, Widersprüche aufzuzeigen und neue Aspekte einer Mikrogeschichte aufzudecken. Diese Mikrogeschichte ist wichtig für die Forschung und Vermittlung – bei Bernbecks Betrachtung der Entstehungsgeschichte der Begriffe „Totalitarismus“ und „Lager“ im fünften Kapitel wird klar, wie folgenreich eine Verwissenschaftlichung von Begriffen sein kann, wenn dabei eine Nivellierung von unvergleichbaren Kontexten entsteht. Eine Untersuchung der Alltagsgeschichte entziehe sich solchen Großvergleichen.

Das letzte Kapitel (vor dem Epilog) schließt mit einer Kritik der „Vergangenheitsbewältigung“ und „Erinnerungskultur“ in Deutschland. Der derzeitige Heritage-Boom und der Begriff der Erinnerungskultur mache oftmals Täter und Opfer zu allgemeinen Opfern des Krieges. Zudem würden aus den Geschehnissen des NS-Terrors identitätsstiftende Elemente abgeleitet. Archäologische Untersuchungen an den Orten ehemaliger Konzentrationslager dürften nicht zur Reproduktion von Befindlichkeiten oder zu Identitätspolitiken genutzt werden: „Dies würde die Opfer der Nazis zu Mitteln heutiger kollektiver Selbstfindung machen, in der Tat eine ethisch unzulässige Instrumentalisierung.“ (S. 368) Bernbeck beschreibt den politischen Konflikt im Zuge seiner Grabungen, bei dem sich verschiedene Interessengruppen um die Hegemonie über die Ausgestaltung des Tempelhofer Feldes stritten. Kritisch diskutiert er seine eigene Öffentlichkeitsarbeit und eine Umfrage während der Grabung. Zudem stellt er Überlegungen zu filmischen und digitalen Vermittlungsmöglichkeiten an.

Das Buch mit seinen sieben Kapiteln und zahlreichen Farbabbildungen ist flüssig zu lesen. Sprachlich können im ersten Moment Worte wie „Nazis“ und „Nazi-Zeit“ auffallen, welche jedoch begründet werden (S. 21). Der Autor fordert die Lesenden auch heraus, da trotz eines klaren Aufbaus einige Themenstränge über mehrere Kapitel verwoben sind. Hier wäre ein Index hilfreich gewesen. Selbst wenn Reinhard Bernbeck sein Werk nicht als Lehrbuch sehen möchte, sind seine Anregungen doch richtungsweisend. Neben den einschlägigen Arbeiten Claudia Theunes2 gibt es nun erstmals eine ausführliche deutschsprachige Monographie zur Archäologie des 20. Jahrhunderts – mit Schwerpunkt auf den dinglichen Überresten der NS-Zeit und dem heutigen Umgang mit ihnen, aber auch darüber hinausführend. Bernbeck bezeichnet sein Buch im Untertitel als eine „Archäologie der Zeitgeschichte“, doch erwähnt er die derzeit intensiven Diskussionen der englischsprachigen Archäologie der Zeitgeschichte nur am Rande.3

Empfehlenswert ist dieses Buch zum einen für ZeithistorikerInnen, die neue Diskussionsanregungen für Studien zur NS-Herrschaft und Einblicke in die umfangreichen Möglichkeiten der derzeit wachsenden Archäologie der Moderne erhalten wollen. Zum anderen ist das Buch lesenswert für historische ArchäologInnen, welche die methodische und theoretische Diskussion bei der archäologischen Erforschung des Nationalsozialismus vertiefen möchten.

Anmerkungen:
1 Mary C. Beaudry, Ethical Issues in Historical Archaeology, in: Teresita Majewski / David Gaimster (Hrsg.), International Handbook of Historical Archaeology, New York 2009, S. 17–29, hier S. 23.
2 Siehe u.a. Claudia Theune, Archäologie an Tatorten des 20. Jahrhunderts, Darmstadt 2014, 2., durchgesehene und erweiterte Aufl. 2016; dies., A Shadow of War. Archaeological Approaches to Uncovering the Darker Sides of Conflict from the 20th Century, Oxford 2018 (angekündigt für Mai).
3 Paul Graves-Brown / Rodney Harrison / Angela Piccini (Hrsg.), The Oxford Handbook of the Archaeology of the Contemporary World, Oxford 2013.