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Titel
Deserteur-Denkmäler in der Geschichtskultur der Bundesrepublik Deutschland.


Autor(en)
Dräger, Marco
Reihe
Geschichtsdidaktik diskursiv – Public History und Historisches Denken 4
Erschienen
Frankfurt am Main 2017: Peter Lang/Frankfurt am Main
Anzahl Seiten
705 S.
Preis
€ 110,95
Rezensiert für den Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung bei H-Soz-Kult von:
Bernd Bühlbäcker, Fakultät für Geistes- und Kulturwissenschaften, Bergische Universität Wuppertal

Marco Dräger geht der Frage nach, „warum Deserteure ab den 1980er Jahren ‚denkmalswürdig‘ wurden, wie und von wem dieser historische Wandel eingefordert sowie begründet wurde und wie sich solche Denkmäler im Laufe der Zeit etablieren konnten – oder auch nicht.“ (S. 21) Basierend auf den Forschungsansätzen Generation und Gedächtnis lautet seine These, dass unterschiedliche Generationen unter den jeweiligen historisch-sozialen Bedingungen nicht nur eigene Geschichtsbilder besitzen, sondern diese im Feld der Geschichtskultur einschreiben, ihnen Dauerhaftigkeit und Legitimität verleihen und auch jenseits der eigenen Lebenszeit gegenüber etablierten konkurrierenden Geschichtsbildern quasi als neues historisches Paradigma durchzusetzen versuchen.

Folgerichtig diskutiert der Verfasser zunächst die Theorieangebote der Generationen-, Gedächtnis- und Denkmalforschung, ordnet danach seinen Gegenstand in den historisch-politischen Kontext der Bundesrepublik der späten 1970er- und frühen 1980er-Jahre ein und entwickelt anhand von zwei lokalen Fallstudien, Kassel und Göttingen, exemplarisch die kontroversen Auseinandersetzungen um ehemalige „Kriegerdenkmäler“ und ihre Transformation zu „Deserteur-Denkmälern“. Anschließend spürt der Verfasser auf Bundesebene dem mentalitätsgeschichtlichen Wandel anhand der Auseinandersetzung um die Wiedergutmachung von „Kriegsdeserteuren“ unter Berücksichtigung der fachwissenschaftlichen Kontroversen in den 1990er-Jahren nach. Hierbei kommt der Verfasser meines Erachtens zu bemerkenswerten Ergebnissen:

Insgesamt handelt es sich um eine methodisch und theoretisch äußerst innovative Untersuchung von Deserteur-Denkmälern hinsichtlich ihrer Entstehungsbedingungen und den sie leitenden Diskursen im Rahmen der Wiedergutmachungsthematik der sogenannten „Kriegsdeserteure“. Theoretisch innovativ, da die Studie sinnvoll Ansätze der Generationenforschung sowie der Diskussion über das kollektive Gedächtnis in die Untersuchung einbaut und die Frage nach den Ursachen, der Entstehung und der Wirkung solcher Denkmäler präzise in den historischen Kontext einordnen kann. Methodisch innovativ, da in der Studie anhand von zwei dicht beschriebenen Fallstudien (Kassel und Göttingen) die Geschichte ehemaliger „Kriegerdenkmäler“ und ihre Transformation zunächst auf lokaler Ebene, schließlich auch die sie leitenden Diskurse auf nationaler Ebene im Rahmen einer subtilen Diskursanalyse mustergültig analysiert werden. Darüber hinaus auch da die Veränderungen, aber auch erheblichen Widerstände gegen eine Aufwertung beziehungsweise Entschädigung dieses Personenkreises anhand der entsprechenden Protokolle des Bundestages und seiner Ausschüsse zuverlässig und präzise nachgezeichnet werden.

Des Weiteren erschließt die Studie im Bereich der Auseinandersetzung mit Denkmälern neuartige Herangehensweisen auf diesem zentralen geschichtskulturellen Feld, indem sie zum einen das zeitgenössische Selbstverständnis des Bürgertums bei der Auseinandersetzung mit den millionenfachen Kriegstoten zweier Weltkriege und ihrer Kontinuitäten für die Geschichte der Bundesrepublik und ihrer Streitkräfte mit den Umdeutungsbemühungen einer jüngeren Generation seit den späten 1970er-Jahren konterkariert; zum anderen indem sie die Spannungen, Differenzen und (neuartigen) Sinnstiftungsbemühungen in der Spätphase des Kalten Krieges reflektiert rekonstruiert. Hierbei unterliegt der Verfasser keineswegs dem Hang, seinen Untersuchungsgegenstand im Sinne der Aktivisten der Friedensbewegung zu idealisieren und zu glorifizieren. Vielmehr kommt er auf Grundlage der einschlägigen Forschungsliteratur zu einem differenzierten Urteil über diesen Personenkreis, der weder aus Helden noch aus Verrätern bestand.

Die Arbeit bewegt sich an der Schnittstelle zwischen zeitgeschichtlicher sowie geschichtsdidaktischer Forschung und setzt insbesondere im Bereich des Forschungsfeldes Generationen- und Gedächtnisgeschichte, aber auch im Feld der Geschichtskultur neue Akzente, die sich beispielsweise an den Erweiterungen des Konzeptes der „Generationalität“ (Jürgen Reulecke) im Bereich der Generationenforschung durch den Begriff der generationellen „Wahlverwandtschaften“ sowie einem eigenen plausiblen Periodisierungsvorschlag für den mentalitätsgeschichtlichen Wandel in den späten 1990er-Jahren zeigen. Des Weiteren erschließt diese Untersuchung nicht nur fast lückenlos die inzwischen ausufernde Literatur zum Thema, sondern besticht durch die eigenständige Erschließung von neuen Materialien und Quellen aus dem Umfeld der neuen sozialen Bewegungen der 1970er-Jahre, vor allem der Friedensbewegung, einzelner Initiativen und Aktivisten.

Natürlich kann man auch an solchen umfangreichen Studien Kritik äußern, die freilich immer auch das Geleistete berücksichtigen sollte. So sehr der Verfasser bei seiner Untersuchung sich um ein differenziertes Urteil der Wiedergutmachungsthematik im Deutschen Bundestag bemüht, wie es sich beispielsweise bei der Berücksichtigung einer jungen Parlamentariergeneration innerhalb der Regierungskoalition aus CDU/CSU/FDP und ihrer abweichenden Haltung gegenüber den Altvorderen zeigt, können die Motive der eigentlich treibenden Kräfte von Grünen/Alternativer Liste und Linken sicherlich nicht ausschließlich rein generationell aus der Nicht-Kriegsteilnahme erklärt werden. Hierbei spielen doch, wie es gelegentlich auch angedeutet wird, neben der sicherlich für einige Grüne und Linke wichtigen Prägung durch die Friedensbewegung, parteipolitische, ideologische, familiäre und persönliche Motive eine erhebliche Rolle, die freilich im Rahmen einer Diskursanalyse auf Grundlage von Bundestagsprotokollen nicht befriedigend beantwortet werden können. Diese erfahrungsgeschichtliche Dimension, die durch lebensgeschichtliche Interviews hätte erzielt werden können, wird leider nicht erschlossen, und bleibt zukünftigen Forschungen und der damit verbundenen Erschließung (neuer) Nachlässe der in den 1990er-Jahren handelnden Akteure vorbehalten.

Darüber hinaus stellt sich schließlich die Frage, ob die von Dräger untersuchten Phänomene der Auseinandersetzung mit „Kriegsdeserteuren“ nicht viel mehr einem urbanen akademischen Umfeld geschuldet sind und die Diskussionen im ländlichen Raum nicht traditionellen Formen der Gedenkkultur folgten. Schließlich wird man möglicherweise auch den geographischen Raum dieser Diskussion stärker nördlich den Mains verorten müssen, zumal in den konservativen Bastionen des deutschen Südwestens und Südostens die erinnerungspolitischen Beharrungskräfte militärischer Traditionen nicht unterschätzt werden sollten. Dies schmälert die Ergebnisse dieser höchst produktiven, reflektierten und sprachlich gelungenen Studie nicht, die im Feld der Zeitgeschichte und der Geschichtskulturforschung hoffentlich eine breite Leserschaft finden wird.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit dem Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung. (Redaktionelle Betreuung: Jan Hansen, Alexander Korb und Christoph Laucht) http://www.akhf.de/