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Titel
Cybernetic Government. Informationstechnologie und Regierungsrationalität von 1943–1970


Autor(en)
Seibel, Benjamin
Reihe
Frankfurter Beiträge zur Soziologie und Sozialpsychologie
Erschienen
Wiesbaden 2016: Springer VS
Anzahl Seiten
VI, 281 S.
Preis
€ 36,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Marcel Schmeer, Historisches Institut, Ruhr-Universität Bochum

„Was ist eigentlich aus der Kybernetik geworden?“ Diese Frage stellte der Wissenschaftsjournalist Gero von Randow 1994 anlässlich des 100. Geburtstags von Norbert Wiener, (Mit-)Begründer und Doyen der kybernetischen Denkschule. Er kam zu dem Schluss, dass „die“ Kybernetik im Sinne Wieners zwar nicht mehr existiere, jedoch „ein bestimmter Forschungsstil, ein spezifisches Aroma“ fortbestehe, dessen Ursprung und Blütezeit auf die Zeit zwischen dem Ende des Zweiten Weltkriegs und dem Beginn der 1970er-Jahre datiert werden könne.1 Tatsächlich gab es in dieser Phase kaum einen Forschungsbereich, der sich dem anregenden Odeur der neuen „Meta-Wissenschaft“ zu entziehen vermochte. Dies galt besonders für die im Umfeld der Kybernetik entwickelten Regierungstheorien, die den Untersuchungsgegenstand der hier zu besprechenden Monographie bilden.

Benjamin Seibels Studie geht auf seine 2014 im Rahmen des DFG-Graduiertenkollegs „Topologie der Technik“ an der Technischen Universität Darmstadt abgeschlossene Dissertation zurück. Sie untersucht aus technik- und wissenschaftshistorische Perspektive, welchen Einfluss kybernetische Menschen- und Gesellschaftsbilder sowie technische Regelungsphantasien auf eine Rekonfiguration politischer Rationalitäten in den Vereinigten Staaten zwischen 1943 und 1970 hatten. Seibel fragt nach der Genese einer „politischen Kybernetik“ und ihrem Versuch, „das Problem des ‚Regierens‘ auf eine neue technische Grundlage zu stellen“ (S. 9). Er geht dabei von der These aus, dass „sich am Beispiel der Kybernetik eine Transformation in der Technizität des Regierungsvorgangs selbst beobachten“ lässt (ebd., Hervorhebung im Original). Dies verfolgt er anhand dreier kybernetischer Schlüsselbegriffe: Kommunikation, Kalkulation und Kontrolle.

In Anschluss an Michel Foucault verortet sich die Arbeit – auch in der Wahl ihrer Analysebegriffe – offenkundig im vielgestaltigen Forschungsfeld der Governmentality Studies. Sie versteht sich darüber hinaus als Beitrag zu einer Kulturgeschichte der Kybernetik, wobei der Autor vor allem konkreten politischen Anwendungsfeldern und den Auswirkungen technologischen Regelungswissens nachspürt. Zuletzt fragt Seibel im Sinne einer „Vorgeschichte gegenwärtiger Problemkonstellationen“ (Hans Günter Hockerts) nach einem möglichen Fortwirken kybernetischen Denkens bis heute (S. 11).

Obschon die Geschichte der Kybernetik in den letzten Jahren (wieder) zunehmende Aufmerksamkeit gefunden hat2, liegt gerade in der Problematisierung einer von der Forschung bisher kaum beachteten „kybernetische[n] Gouvernementalität“ (Kap. 4) das innovative Moment der Studie. Dieser Zuschnitt und vermutlich auch der kulturwissenschaftlich geprägte Entstehungskontext der Dissertation mögen den für (Zeit-)Historiker/innen ungewöhnlich ausführlichen, gleichwohl konzisen Theorieteil zu Beginn des Buches erklären. Im zweiten Kapitel werden so zunächst die zentralen Analysekategorien („Technik“, „Macht“ und „Dispositiv“) durchdekliniert; daran anknüpfend wird eine dezidiert technikgeschichtliche Lesart einer Geschichte der Gouvernementalität vorgeschlagen, die nach den strukturellen Grundlagen fragt, die „Regierungshandeln auf je spezifische Weise als technisches Handeln“ (S. 20) ermöglichten – und an die kybernetisches Wissen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts andocken konnte. „Technik“ fungiert für Seibel nicht als bloßes Mittel von Regierungshandeln, sondern wirkt gleichermaßen darauf zurück, indem sie bestimmte Problemfelder und Möglichkeitsräume politischen Agierens aufzeigt, strukturiert und gelegentlich rekonfiguriert.

Ausgehend vom intellektuellen Dunstkreis der für die Entwicklung der Kybernetik maßgeblichen „Macy-Konferenzen“ (1946–1953) widmet sich das dritte Kapitel der Herausbildung eines „kybernetischen Dispositivs“, das anhand früher Basistexte einiger Konferenzteilnehmer rekonstruiert wird. Dieses Dispositiv sei aus der Verflechtung dreier technisch-formaler „Modelle der Kommunikation, der Kalkulation und der Kontrolle“ (S. 74, Hervorhebungen im Original) erwachsen, die sich durch ihren jeweils hohen Grad an Formalisierung und die damit einhergehende Übertragbarkeit auf unterschiedlichste Anwendungsbereiche ausgezeichnet hätten. Maschinen und menschliche Organismen seien dabei erstens als „Kommunikationssysteme“ begriffen worden und ließen sich folglich in eine allgemeine Theorie der Informationsübermittlung integrieren, wie sie der Mathematiker Claude Shannon in den 1940er-Jahren entwickelt hatte. Inspiriert von Alan Turings Modellierung einer universalen Rechenmaschine entwarfen der Neurophysiologe Warren McCulloch und der Mathematiker Walter Pitts zweitens ein Neuronenmodell, das eine „analoge Beschreibung von Gehirn und Computer“ erst ermöglicht habe (S. 74). Beeinflusst von den Erfahrungen in militärischen Forschungseinrichtungen skizzierte schließlich drittens ein Team um Norbert Wiener das Modell eines durch „negative Rückkopplung“ kontrollierbaren bzw. selbstkorrigierenden Verhaltens. Seibel betont, dass solche techno-anthropomorphen Analogiebildungen keineswegs bloße Metaphern darstellten, sondern einen für die Kybernetik eigentümlichen funktionalen Zusammenhang repräsentierten, der eine „pragmatische Reduktion“ der Untersuchungsobjekte „auf technische Struktur- und Funktionsprinzipien“ ermöglichte – und kybernetisches Denken so politisch anschlussfähig machte (S. 72).

Im Hauptteil der Studie werden anknüpfend an diese Triade kybernetischer Modelle gouvernementale Funktionszusammenhänge und Problemhorizonte analysiert. Das dafür zusammengestellte Materialkorpus lässt sich als buntes Kaleidoskop bezeichnen, in dem einschlägige Texte aus Kommunikationswissenschaft und Stadtplanung ebenso vertreten sind wie aus Militärforschung und Verhaltenspsychologie. Der Autor räumt selbst ein, dass bei seinem breiten Forschungsdesign die analytische Mikroebene etwas aus dem Blick gerät; es geht Seibel aber darum, Spuren eines disziplinenübergreifenden technisch-kybernetischen Wissens offenzulegen, das sich auf die Regulierung menschlichen Verhaltens bezieht. Diese Konzepte hätten neue Anforderungen an die Regierungstätigkeit gestellt bzw. neue politische Interventionsbereiche geschaffen.

Das Kapitel „Bedeutungslose Botschaften“ thematisiert zunächst die Arbeiten der Soziologen Paul F. Lazarsfeld und Stuart C. Dodd, die Gesellschaften als mathematisch präzise beschreibbare Kommunikationsnetzwerke begriffen. Für Norbert Wiener und den Politikwissenschaftler Karl W. Deutsch stellten funktionierende Kommunikationsstrukturen gar die Grundlage liberaler Gesellschaftsordnungen dar. Von diesem Verständnis wurden auch die Modernisierungstheorien beeinflusst: Wie Seibel zeigt, beruhte die Unterscheidung zwischen „traditionellen“ und „modernen“ Gesellschaften etwa für den Soziologen Daniel Lerner wesentlich auf dem „Grad technisch vermittelter Kommunikation“ (S. 251). „Gutes“ Regieren offenbarte sich somit als Etablierung entsprechender Strukturen, unter denen störungsfreie „Kommunikation“ gelingen konnte.

Im Kapitel „Entscheidungsprobleme“ rücken sowohl die „Operations Research“ als auch die Spieltheorie in den Fokus. Beide Richtungen seien an der Herstellung eines technisch-mathematischen Modells beteiligt gewesen, das Menschen in Entscheidungssituationen als nutzenmaximierende Homines oeconomici betrachtete. Gegen diese idealtypischen Vorstellungen habe sich Herbert A. Simons Modell begrenzter Rationalität gewendet, das Fragen nach der „optimalen Gestaltung von Entscheidungssystemen“ (S. 189) aufwarf. Technisch wie politisch manifestierte sich dieser Ansatz in dem 1961 von Robert McNamara zunächst im US-Verteidigungsministerium eingeführten „Planning, Programming, Budgeting System“, das Kosten-Nutzen-Modelle auf breiter Datengrundlage später auch in unterschiedlichen Verwaltungsstrukturen verankerte. Die Herausforderung kybernetischer Regierung habe im Bereich der „Kalkulation“ folglich darin bestanden, eine „mathematische Lesbarkeit und potenzielle Berechenbarkeit“ von Gesellschaft zu ermöglichen (S. 251).

Das letzte Kapitel „Regeln und regeln lassen“ befasst sich mit der Frage kybernetischer (Selbst-)„Kontrolle“. Individuum und Gesellschaft seien dabei als sich selbst regulierende Systeme wahrgenommen worden, deren Steuerung ein weiteres Regierungsproblem dargestellt habe. Nur auf einer – erst zu etablierenden – umfassenden Informationsgrundlage sei eine „höherstufige Regelung sozialer Selbstregelungen“ (S. 252) denkbar gewesen. In den verhaltenspsychologischen Studien Kurt Lewins oder den managementkybernetischen Arbeiten Peter F. Druckers und Stafford Beers sei nach „humaneren“ Regierungsmöglichkeiten gefragt worden; Regierte sollten zur selbstständigen Problemlösung ermuntert werden – rückgekoppelt an übergeordnete Regelungsinstanzen. Auch die von Karl W. Deutsch imaginierte demokratisch-kybernetische Regierungsmaschine war von Feedbackschleifen zur Aufrechterhaltung ihrer „Lernfähigkeit“ abhängig, die ihm als „Leistungsindikator“ politischer Ordnungen galt (S. 227).3 Die umfassende Datenverarbeitungskapazität des Computers sei eine entscheidende Voraussetzung für diese Vorstellung gewesen, die sich realpolitisch in den Plänen für ein zentralisiertes „National Data Center“ äußerte.

Das präzise Fazit führt die zentralen Argumentationsstränge zusammen. Es ist die Ironie der Geschichte der Kybernetik, dass sie immer auch von ihrem Niedergang her gedacht wird. Was bleibt also von der „Maschinendämmerung“4 und den sie begleitenden politischen Wissensordnungen, die während der 1970er-Jahre scheinbar in der Versenkung verschwanden? Folgt man Seibel, sollte die politische Kybernetik nicht als „letztlich wirkungslose[r]“ historischer Irrtum begriffen werden; im Gegenteil könne man sie als wichtige „machttechnische Verschiebung“ bezeichnen, deren fortwirkende Bedeutung in der „Produktion“ spezifisch technisch „zu bearbeitender ‚Probleme‘“ liege (S. 248–250). Inwiefern diese „vergangene Zukunftsvision“ auch als „ambivalentes Diagramm einer kommenden Gegenwart“ (S. 255) gedeutet werden kann, bliebe freilich zu diskutieren. Die mit einem „E-Government“ verbundenen Hoffnungen und Befürchtungen wären in diesem Kontext zu nennen.

Benjamin Seibel ist es gelungen, auf lediglich 255 Seiten eine dichte, gut lesbare und im besten Sinne genealogische Geschichte der politischen Kybernetik zu schreiben, die weder den ideologiekritischen Zeigefinger hebt noch einen überholten technologischen Determinismus wiederbelebt. Das Buch dürfte Neulinge wie auch Expertinnen und Experten im Feld der Kybernetikforschung und der Gouvernementalitätsstudien gleichermaßen ansprechen. An einigen Stellen hätte man sich bei diesem explorativen wissenschaftsgeschichtlichen Streifzug eine empirische Tiefenbohrung gewünscht, die jenseits der ausgewerteten (Höhenkamm-)Literatur den Blick hätte erweitern können – auf die Ebene institutioneller wie individueller Aneignungsformen und alltäglicher Konflikte bei der Implementation kybernetischer Regierungstechniken. Das tut dem positiven Gesamteindruck jedoch keinen Abbruch und mag als Impuls für weitere Forschungen dienen.

Anmerkungen:
1 Gero von Randow, Der Regler des Zustands des Systems, in: ZEIT, 25.11.1994, http://www.zeit.de/1994/48/der-regler-des-zustands-des-systems/komplettansicht (03.08.2017).
2 Vgl. zum „Comeback“ der Kybernetik etwa Thomas Rid, Rise of the Machines. A Cybernetic History, New York 2016 (dt.: Maschinendämmerung. Eine kurze Geschichte der Kybernetik, Berlin 2016); Ronald R. Kline, The Cybernetics Moment. Or Why We Call Our Age the Information Age, Baltimore 2015; Andrew Pickering, The Cybernetic Brain. Sketches of Another Future, Chicago 2010; Philipp Aumann, Mode und Methode. Die Kybernetik in der Bundesrepublik Deutschland, Göttingen 2009.
3 Siehe dazu auch Benjamin Seibel, Berechnendes Regieren. Karl W. Deutschs Entwurf einer politischen Kybernetik, in: Zeithistorische Forschungen / Studies in Contemporary History 9 (2012), S. 334–339, http://www.zeithistorische-forschungen.de/2-2012/id=4706 (03.08.2017); ders., Staat am Draht, in: Zeitschrift für Ideengeschichte 11 (2017), Heft 1, S. 5–12.
4 So die eher zweideutige Übersetzung des Titels von Thomas Rid (siehe Anm. 2), die viel stärker die Tendenz älterer und neuerer Forschungen adressiert, die Geschichte der Kybernetik in den narrativen Kategorien von Aufstieg und Niedergang zu erzählen.