Cover
Titel
Miseducation. A History of Ignorance-Making in America and Abroad


Herausgeber
Angulo, A. J.
Erschienen
Anzahl Seiten
384 S.
Preis
$ 32.95
Rezensiert für die Historische Bildungsforschung Online bei H-Soz-Kult von:
Jürgen Oelkers, Institut für Erziehungswissenschaft, Universität Zürich

Bildungsgeschichte wird zumeist von der Auffassung her geschrieben, dass Bildung etwas Gutes sei und nur auf den richtigen Weg gebracht werden muss. Tatsächlich ist das wohl interessanteste Phänomen dieser Geschichte die Verbreitung der Bildung. Aber der Blickwinkel „Bildung“ ist kein neutraler und so ist von besonderer Bedeutung, was er ausklammert und nicht sieht.

Die umfangreichste Darstellung der amerikanischen Bildungsgeschichte stammt von Lawrence Cremin. In seiner dreibändigen Studie American Education erwähnt er in einer kurzen Passage1 die Geschichte des Besuches von vier oder fünf Häuptlingen der Mohawks, die 1710 nach London kamen. Die beschwerliche Überreise hatte die Society for the Propagation of the Gospel in Foreign Parts organisiert. Die Häuptlinge waren nicht die ersten, die den Atlantik überquerten und sollten auch nicht die letzten bleiben. Aber solche Reisen waren extrem selten und hätten eigentlich große Aufmerksamkeit erzeugen müssen.

Wäre das so gewesen, hätte die Reise Eingang gefunden in das Bildungsgedächtnis und so die pädagogische Geschichtsschreibung. Cremin interessierte sich weder für die Bildung der Häuptlinge noch für die Irritationen, die sie in London ausgelöst haben. Sein Interesse war genau umgekehrt, nämlich wie die Ureinwohner Nordamerikas durch die evangelikalen Sekten nach der Besetzung der amerikanischen Ostküste „missioniert“ wurden und wie auf diesem Wege die religiöse Bildung verbreitet wurde (S. 184/185).

Das Beispiel führt ins Zentrum des vorliegenden Sammelbandes, den der Wissenschaftshistoriker A. J. Angulo, der an der Winthrop University Bildungsgeschichte lehrt, herausgegeben hat. Der Sammelband stellt nicht die Standardfrage der Pädagogik, nämlich wie sich die allgemeine Bildung nach der Aufklärung verbreitet und was sie behindert hat. Vielmehr geht es ihm um die ganz andere Frage, wie in der staatlichen Gesetzgebung und mit pädagogischen Projekten systematisch „Miseducation“’ erzeugt worden sei.

Miseducation ist ein schwer zu übersetzender Begriff. Englische Synonyme wären „faulty“ oder „improper education“, aber im wissenschaftshistorischen Kontext ist nicht die Abweichung von der Norm gemeint, sondern eher die Irreführung mit unkontrolliert guten Absichten. Konkret geht es um politische Entscheidungen, Überzeugungen, was die richtige Erziehung sei, und schließlich Institutionen, mit denen Ignoranz und Unwissen verbreitet wurden und werden.

Die systematische Untersuchung von Miseducation ist wesentlich beeinflusst worden von dem amerikanischen Historiker Robert Proctor.2 Er hat den Begriff „Agnotology“ geprägt, der dazu gedacht ist, die kulturelle Produktion von Ignoranz oder Dummheit systematisch zu erfassen. Es geht um den modernen Agnostiker, der nicht nur nicht weiß, wer oder was Gott ist, sondern der gar nichts mehr weiß.

Proctor unterscheidet angestammte Ignoranz, die einfach durch fehlendes Wissen entsteht, weiter passive Ignoranz, die Wissensgrenzen oder -selektionen hinnimmt, und schließlich aktive Ignoranz, die zielgerichtet hergestellt wird (S. 5/6). Die Beiträge in der Edition von Angelo haben vornehmlich mit dieser Variante zu tun, wobei ein Schwerpunkt ist, wie pädagogische Reformbewegungen dazu beigetragen haben.

Der vorliegende Sammelband umfasst 14 verschiedene Beiträge von Autorinnen und Autoren aus unterschiedlichen Ländern. Eine enge amerikanische Perspektive wird vermieden, obwohl amerikanische Probleme die Fragestellung überwiegend leiten. Der Band umfasst drei verschiedene Teile, die auf einleuchtende Weise unterschieden werden.

Im ersten Teil geht es um die Legalisierung von Ignoranz, also die gesetzliche Verbreitung von Unwissen und falschen Vorstellungen in fünf verschiedenen Bereichen, nämlich legale Sklaverei, die zensierte Sexualität in den Medien der Dreißiger Jahre, die Beziehungen zwischen den Geschlechtern, die Verbote der Evolutionstheorie und die Misinformationen zum Klimawandel.

Der zweite Teil ist der Mythologisierung von Ignoranz gewidmet. Am Beispiel der progressiven Pädagogik der Zwischenkriegszeit wird auf die Janusköpfigkeit von Alternativschulen hingewiesen, die im Namen der pädagogischen Freiheit Bildungsanforderungen gesenkt haben und für gesellschaftliche Konflikte zwischen Rassen oder Klassen kein Augenmerk hatten. Deutsche Beispiele könnten hier ohne weiteres angeschlossen werden.

Die anderen Themen in diesem Kapitel sind pädagogisch favorisierte Identitätsmodelle für Minderheiten, die deren Bildungschancen massiv beschnitten haben. Weiter wird die christliche Sektenerziehung in den Vereinigten Staaten bearbeitet und schließlich die pädagogische Geschichtsschreibung, die allzu lange an einer linearen Fortschrittsvorstellung festgehalten hat.

Der dritte Teil bezieht die leitende Fragestellung auf die Nationalisierung und Globalisierung von Ignoranz. Lisa Jarvinen etwa untersucht die Rhetorik und die Politikstrategien hinter dem Ausdruck „schooling“, mit dem die pädagogische Kolonisation etwa in Kuba, Puerto Rico und in den Philippinen während und nach dem Krieg von 1898 betrieben wurde.

Zwei Fallstudien richten sich auf die totalitäre Erziehung vor und nach dem Zweiten Weltkrieg. Lisa Pine beschreibt die Entwicklung der nationalsozialistischen Propaganda und ihrer Folgen für die Bildung in Deutschland und E. Thomas Ewing analysiert den vergleichbaren Vorgang für die Sowjetunion. Die beiden jüngsten Beispiele beziehen sich auf totalitäre pädagogische Bewegungen in Israel und die Staatserziehung in China.

Der Wert der Studien liegt darin, dass sie gegen den Trend fragen und die gängige Geschichtsschreibung massiv in Frage stellen. Wer von Fortschritt in der Bildung spricht, sollte immer vor Augen haben, was ausgeschlossen, vernachlässigt oder einfach umgedeutet worden ist. Die Gewinner der Geschichte haben immer auch die Verlierer zu verantworten.

Aber nicht nur das, die Frage richtet sich auf den paradoxen Wert pädagogischer Innovationen, die sich selbst nicht begrenzen können, politische Akzeptanz gewinnen und hinterher dann sehen müssen, was alles schief gelaufen ist. Das wäre aber nur eine liberale Form der Bewältigung der Folgelasten. Viel wahrscheinlicher ist die beharrende Kraft von Ideologien, die sich durch überhaupt nichts belehren lassen.

Insofern passt dieser Band auch in die Debatte des „Populismus“. Pädagogische Bewegungen sind auf eine erschreckende Weise immer „populär“, also finden Anklang, politische Rückendeckung und bestimmt irgendeine Form von Finanzierung. Und die Ideologien verschwinden nicht, wie sich an der Debatte um Disziplin in amerikanischen Charter-Schools zeigen ließe.3

In den Beiträgen des Sammelbandes wird man belehrt über eine ignorante Forschung, die den Nutzen des Rauchens empirisch feststellen wollte. Man erfährt, welche Widerstände die Evolutionstheorie bis heute hat und dass fundamentalistische Pädagogen in Ländern wie Israel Anklang finden können. Man wünscht sich ähnliche Studien für die ständigen Projektserien zur Erneuerung der Schulsysteme in Europa, für die vielfältigen Versprechungen immer neuer pädagogischer Modelle und warum damit eigentlich gesellschaftliche Erwartungen gesteuert werden können.

Die Aufklärung war in größeren Teilen deistisch und konnte so das Gottvertrauen auf den Fortschritt lenken. Heute sollte man von unsicheren Projekten mit offenem Ausgang ausgehen und auch davon, dass der wahrscheinlichste Ausgang die Rückkehr zum Gewohnten ist, demokratische Verhältnisse vorausgesetzt. Aber es scheint, als ob auch das ein knappes Gut wird. Abschließend muss man die Frage stellen, was „education“ ist, wenn wie im vorliegenden Falle eine überzeugende Geschichte der „miseducation“ geschrieben werden kann. Hier wartet man auf gute Beispiele, die auch wirklich einen historischen Test bestehen können und nicht in der Empirie untergehen.

Anmerkungen:
1 Lawrence Cremin, American Education. The Colonial Experience, 1607–1783, New York 1970, S. 136, 349/350.
2 Robert N. Proctor, Agnotoloy. A Missing Term to Describe the Cultural Production of Ignorance (and its Study), in: Robert N. Proctor / Londa Schiebinger (eds.), Agnotology. The Making and Unmaking of Ignorance, Stanford, CA 2008, S. 1–36.
3 Rebecca Mead, Two Schools of Thought, in: The New Yorker (December 11th 2017), S. 34–41.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit der Historischen Bildungsforschung Online. (Redaktionelle Betreuung: Philipp Eigenmann, Michael Geiss und Elija Horn). https://bildungsgeschichte.de/
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