F. Schmieder u.a. (Hrsg.): Ränder des Archivs

Cover
Titel
Ränder des Archivs. Kulturwissenschaftliche Perspektiven auf das Entstehen und Vergehen von Archiven


Herausgeber
Schmieder, Falko; Weidner, Daniel
Reihe
LiteraturForschung 30
Erschienen
Anzahl Seiten
240 S.
Preis
€ 24,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Katja Stopka, Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam

Im Zuge der Digitalisierung rücken Archive in ihrer Funktion als Speichermedium zunehmend in den Fokus der Wissensgesellschaft. Alles, was in Bits und Bytes zu zerlegen ist, so scheint es, unterliegt heute angesichts der technischen Möglichkeiten einer Pflicht zur Archivierung. Die Organisationseinheit „Archiv“ findet man nicht mehr nur in Behörden, Unternehmen, Bibliotheken und Museen, sondern mittlerweile nahezu auf jeder Website von Einrichtungen, deren Arbeitsbereiche Wissens- und Informationsgenerierung berühren. Daneben ist zu beobachten, dass der Begriff des Archivs seit geraumer Zeit durch die Konnotationen von Gedächtnis, Erinnerung, Wissen, Macht und Gesetz metaphorische Erweiterungen erfährt, die mit dem herkömmlichen Verständnis von Archiven als neutralen Ordnungssystemen und Orten der bloßen Bestandserhaltung nicht mehr viel gemein haben. Insofern ist erklärungsbedürftig geworden, worum es sich jeweils genau handelt, wenn man vom Archiv spricht.1

Die Pluralisierungen und Entdifferenzierungen „des“ Archivs sind der Ausgangspunkt des vorliegenden Sammelbandes, der die Reflexionen und Ergebnisse einer im Herbst 2013 am Berliner Zentrum für Literatur- und Kulturforschung (ZfL) veranstalteten Tagung über das Wesen und den Wandel von Archiven und Archivbegriffen zusammenträgt. Im Mittelpunkt stehen dabei die dynamischen Aspekte von Archiven, die, so die Herausgeber Falko Schmieder und Daniel Weidner, sowohl in konzeptioneller und diskursiver wie auch in institutioneller Hinsicht permanent im Übergang begriffen sind (S. 8). Deshalb seien es gerade diese „Übergänge, Ränder und Schwellen, von denen her ein anderer, dezentrierender Blick auf das Archiv möglich wird: auf seine historischen Entwicklungen, auf Praktiken des Archivs im engeren Sinne, aber auch auf deren epistemologische, politische, soziale und kulturelle Kontexte“ (ebd.). Besonders an den „Prozeduren des Ein- oder Austritts aus dem Archiv“ (ebd.) lässt sich Grundsätzliches und Charakteristisches, aber auch Problematisches und Überraschendes erschließen – etwa, dass die archivarischen Organisationsprinzipien und Zwecksetzungen nicht immer den Anforderungen der zu archivierenden Objekte entsprechen, denn das Material besitzt seine eigene, den Nachhaltigkeits- und Ordnungskriterien der Archivpraxis mitunter widerstrebende Natur- und Individualgeschichte. Ebenso zeigt sich in diesen Prozeduren, wie politisch und kulturell virulent die mit Archiven verbundene Vorstellung von Stabilität und Kontinuität ist, lassen sich Archive doch überwiegend durch die Verfahren des Ein- und Ausschlusses begründen. Zu jeder Bewahrung von Archivwürdigem gehört die Kassation von vermeintlich Archivunwürdigem.

Um den Sammelband mit Gewinn zu lesen, sei es empfohlen, nach der knappen, aber instruktiven Einleitung die Texte von hinten nach vorn zu studieren – also mit dem letzten zu beginnen und mit dem ersten aufzuhören. Denn auf diese Weise erschließt sich am ehesten, was die Herausgeber bereits mit dem Titel ihres Bandes anzeigen. Wie Archive entstehen, sich transformieren oder auch vernichtet werden, darüber geben die von konkreten Sammlungen und deren Geschichten handelnden Beiträge von Siegfried Zielinski, Sigrid Weigel, Christina Pareigis und Franziska Thun-Hohenstein erhellende Einblicke. Zielinski widmet seinen Beitrag medienkünstlerischen Projekten unter anderem von David Larcher und Werner Nekes, die in ihren Kunstfilmen die Zeit zum Gegenstand haben und die Praxis des Archivierens inszenieren. Die kunstreflektorische Geste liegt darin, memoriale Strukturen und Strategien genauso sichtbar werden zu lassen wie eine Naturgeschichte des Zerfalls. Diese von Zielinski als An-Archive bezeichneten künstlerischen Prozeduren versteht er „als eine komplementäre Alternative zum Archiv“ (S. 234), gewissermaßen als dessen provokatives Gegenmodell, das keinen Anspruch auf Repräsentativität und Dauer erhebe, sondern autark, unbeständig und individuell sei. Weigel richtet am Beispiel des Geschehens um die Nachlässe von Harald Szeemann, Hermann Cohen und Walter Benjamin gleichfalls den Blick auf das (Wieder-)Zustandekommen von Archiven und die Transformation von Dokumenten zu Archivalien. Dabei folgt sie im Anschluss an Derridas Grammatologie verschiedenen Spurensuche(r)n von Materialien und Zeugnissen, die den Archivierungsprozeduren vorausgegangen sind, und formuliert damit das Erkenntnisinteresse an „Archivalien in der Latenz“ (S. 179). Der von Giorgio Agamben 1981 in der Bibliothèque Nationale aufgefundene Koffer mit Manuskripten Benjamins ist das wohl prominenteste Beispiel für eine solche Spurensuche nach und mit Archivalien, „die erst geworden sein werden oder sein könnten“ (ebd.).

Pareigis befasst sich mit der Genese des Archivs der amerikanischen Schriftstellerin und Philosophin Susan Taubes (1928–1969), das am ZfL unter anderem von ihr erschlossen wird. Sie bezieht sich gleichfalls auf Derrida, der in seinem einschlägigen Text „Mal d’Archive“2 betont hat, dass die technische Struktur des Archivierens immer auch die Struktur des archivierten Inhalts bestimme. Vor diesem Hintergrund dokumentiert Pareigis die Überführung des privaten Nachlasses in die Institution Archiv, um dann zu zeigen, wie auf Basis dieser Transformation der wissenschaftliche Umgang mit dem Material präfiguriert sei. Was sich fortan über Susan Taubes sagen lasse, „orientiert sich an der Aktenlage“ (S. 168), in die hinein die Hinterlassenschaften sortiert worden sind. Dieser durchaus resignative Blick auf die Effekte des Archivs entsteht allerdings vor allem dadurch, dass als Forschungsertrag aus dem Archiv eine Intellektuellenbiographie intendiert wird. Dass Archivgut mitunter ganz Anderes, bei seiner Archivierung und Erschließung nicht unbedingt Intendiertes zutage fördern kann, erweist sich hingegen als ein blinder Fleck dieses ansonsten überaus eindrücklichen Beitrags, der in einem zweiten Teil anhand von Taubes’ literarischen Texten die Reflexionen der Schriftstellerin über Verlust und Erhalt auf der Folie der Archivierung ihres Nachlasses darstellt. Franziska Thun-Hohensteins Aufsatz befasst sich mit der Verstaatlichung persönlicher Hinterlassenschaften bedeutender russischer Vertreter von Literatur und Kunst in der Sowjetunion. Ziel dieser Zwangsarchivierung unter dem Dach des „Zentralen Staatlichen Archivs für Literatur und Kunst“ (RGALI) war es, die künstlerischen Zeugnisse unter die ideologische Kontrolle der sowjetischen Sicherheitsbehörden zu bringen. Unter anderem an dem Nachlass des systemkritischen Autors Varlam Šalamov (1907–1982) werden die doktrinären Verschluss- und Zensurmaßnahmen der sowjetischen Archivpolitik dokumentiert.

Weiterhin aufschlussreich sind die Beiträge von Detlev Schöttker und Stefan Willer über Ernst Jünger und Johann Wolfgang von Goethe als Archivautoren. Beide Schriftsteller bereiteten schon zu Lebzeiten die eigenen Nachlässe für die Archivierung vor. Welche kulturellen und kanonischen Ermächtigungen sich aus Prozeduren der Selbstarchivierung ergeben, entfaltet Schöttker am Beispiel Jüngers, der mit seiner Konzeption von Archivstruktur und -ordnung nicht zuletzt das zwiespältige politische Image, das ihm zu Lebzeiten anhaftete, wenigstens postum zu revidieren hoffte. Willer erarbeitet hingegen die „Archivpolitik“ (S. 97) des ‚alten’ Goethe. Dabei zeigen sich Verbindungslinien zwischen Goethes praktizierter bzw. verfügter Archivierung des eigenen Schrifttums (die er nicht selbst durchgeführt, sondern beauftragt hat) und seiner vor allem in „Wilhelm Meisters Wanderjahre“ entworfenen Archivfiktion, der zufolge ein Archiv sich als ein nicht abschließbarer Prozess erweist, insofern jeder Nutzer bzw. dessen Befassung mit dem Archivierten wiederum zum Teil des Archivs werden.

Nach diesen sehr anregenden spezialisierten Schwellen-Lektüren verzeiht man den drei einleitenden Beiträgen eine gewisse Weitschweifigkeit. Sandra Richters Aufsatz geht äußerst umständlich der Frage nach, unter welchen Bedingungen die den Archivalien eigenen materiellen wie sinnstiftenden Charakteristika textwissenschaftlich gleichberechtigt einbezogen werden können. Herbert Kopp-Oberstebrink und Mario Wimmer befassen sich unter archivtheoretischen und archivhistorischen Vorzeichen mit den kulturellen bzw. historiographischen Zuschreibungen des Archivs als Begriff, Metapher und Erkenntnisinstrument, was zu wenig überraschenden Schlussfolgerungen führt. Beide Autoren plädieren wegen der Vielfalt archivarischer Beschaffenheit und Semantik dafür, das Archiv in seiner Pluralität zu reflektieren. So lasse sich auch die Spannung zwischen begrifflichem Verstehen, das meistenteils eng an die Archivierungspraxis gebunden ist, und den metaphorischen Zuschreibungen, die überwiegend philosophisch orientiert sind, vermittelnd produktiv machen.

Der Sammelband überzeugt vor allem dort, wo er Archive als „Labore der Geistes- und Kulturwissenschaften“ (Rückentext) betrachtet und deren konkrete Praktiken und Dynamiken erschließt. Die Arbeit am Archiv beschränkt sich nicht allein auf die allseits bekannten Facetten des Sammelns und Ordnens, Bewahrens und Bereitstellens, sondern enthüllt eine ganz eigene Historizität, die wiederum zu neuen Erkenntnissen über das Archivwesen und die Archivkultur führen kann, ohne den Archivbegriff vollends zu verwässern.

Anmerkungen:
1 Einen kulturwissenschaftlich interessierten und informierten Überblick, der ebenfalls die Pluralität des Archivs betont, bieten Marcel Lepper / Ulrich Raulff (Hrsg.), Handbuch Archiv. Geschichte, Aufgaben, Perspektiven, Stuttgart 2016; rezensiert von Sina Steglich, in: H-Soz-Kult, 16.06.2016, URL: http://www.hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuecher-19426 (29.04.2017).
2 Jacques Derrida, Mal d’Archive. Une impression freudienne, Paris 1995; dt.: Dem Archiv verschrieben. Eine Freudsche Impression, Berlin 1997.