M. Füssel u.a. (Hrsg.): Die Materialität der Geschichte

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Titel
Die Materialität der Geschichte.


Herausgeber
Füssel, Marian; Habermas, Rebekka
Reihe
Historische Anthropologie 23,3
Erschienen
Köln 2015: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
137 S.
Preis
€ 24,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jutta Wimmler, Vergleichende Europäische Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Europa-Universität Viadrina

Kann die Geschichtswissenschaft von einem Fokus auf materielle Kultur profitieren – und wenn ja, wie? Das Themenheft „Die Materialität der Geschichte“ der Zeitschrift Historische Anthropologie widmet sich in fünf Aufsätzen und einem Forumsbeitrag dieser Frage, wobei laut des Editorials von einer „konstitutiven Rolle der materiellen Kultur für die Herstellung sozialer Beziehungen, religiöser Kulturen, globaler Verflechtung oder allgemein von Machtprozessen“ ausgegangen wird (S. 334–335). Anhand von fünf Fallstudien aus Antike, Mittelalter, Früher Neuzeit, Neuzeit und Zeitgeschichte soll den „epochenspezifischen“ Mustern materieller Kultur nachgegangen werden (S. 332). Der Band, der aus einer Sektion auf dem 50. Deutschen Historikertag in Göttingen 2014 hervorgegangen ist, trägt der Tatsache Rechnung, dass die Erforschung materieller Kultur mittlerweile auch im deutschsprachigen Raum Fuß gefasst hat.

Einem chronologischen Aufbau folgend, beginnt der Band mit einem Beitrag von Beate Wagner-Hasel über die Rolle des Dreifußkessels im antiken Griechenland. Die Autorin erklärt, dass die soziale Symbolik des Dreifußkessels seit den 1980er-Jahren in den Fokus der Forschung gerückt ist, beklagt dabei aber eine fehlende „Reflexion der äußeren Form und des Materials des Dreifußes“ (S. 339). Basierend auf den Überlegungen der Anthropologin A.B. Weiner, wonach sich in der Materialität eines Objekts eine Botschaft über dessen Handlungszweck verbirgt, will Wagner-Hasel eine alternative Deutung des Dreifußkessels zur Debatte stellen. Sie betont dabei die große Bandbreite an Funktionen und Bedeutungen, die dieser allgegenwärtige Gegenstand in unterschiedlichen Kontexten annehmen konnte. Symbolisch konnte er Gastfreundschaft signalisieren, aber auch bei Leichenspielen als Siegespreis auftreten. Als Abgabe aus dem Volk an den Herrscher wiederum war der Dreifußkessel auch ein Symbol von Macht. Als mobiler Gegenstand symbolisierte das Objekt außerdem eine mobile Ökonomie – und sobald es zirkulierte, wurde auch sein materieller Wert relevant. Die Autorin erklärt damit den Dreifußkessel zu einem „Brennglas, über das sich eine Epoche erschließen lässt“ (S. 351). Der Beitrag macht allerdings auch deutlich, dass sich uns das Objekt nicht ohne zusätzliche Informationen erschließt, sodass eine Interpretation, die vollständig „aus dem Ding heraus“ abgeleitet wird, in diesem Fall nicht zielführend ist.

Das Mittelalter wird durch einen Beitrag von Hedwig Röckelein zu Bedeutung, Funktion und Rezeption von mittelalterlichen Sakralobjekten abgedeckt – ein Beitrag der sich meiner Meinung nach ausgezeichnet für den Einsatz im Unterricht eignet (und das ist keinesfalls abwertend gemeint). Die Autorin führt hier anschaulich in die wichtige Bedeutung von Objekten als Quelle für die Erforschung des Mittelalters ein und zeigt auf, wie und warum Objekte oft aussagekräftiger sind als die teils spärlich vorhandenen Schriftquellen. So lassen sich die Praktiken des Reliquienkultes an den erhalten gebliebenen Reliquien selbst – insbesondere an deren Aufbewahrung in Textilien oder Behältnissen – ablesen. Die Feststellung, dass die Trennung von heilig und profan, wie sie etwa E. Durkheim formuliert hat, an der religiösen Praxis scheitert, ist zwar nicht neu, wird von der Autorin aber anhand eines konkreten Beispiels sehr anschaulich illustriert: so wurden „heilige“ Reliquien durchaus in „profanen“ Alltagsgegenständen aufbewahrt. Röckeleins Beitrag thematisiert in weiterer Folge, warum nur die enge Zusammenarbeit mit anderen Disziplinen das volle Potenzial der Beschäftigung mit materieller Kultur freisetzen kann, macht gleichzeitig aber in sehr reflektierter Weise auf die Probleme und die Grenzen einer solchen Zusammenarbeit aufmerksam.

Die Frühe Neuzeit besprechen Marian Füssel und Sven Petersen in einem gemeinsamen Beitrag zur materiellen Kultur globaler Kriege im 18. Jahrhundert. Beispiele aus dem Österreichischen Erbfolgekrieg und dem Siebenjährigen Krieg dienen zur Reflexionen über die Bedeutung von Dingen und den Handlungsspielraum, den diese ermöglichen. Die gewählten Beispiele sind durchaus interessant, doch ihre schiere Masse lässt den Artikel leider als Sammelsurium einzelner Funde erscheinen, die nur sehr lose zusammengehalten werden. Der Anspruch des Artikels ist sehr groß: Neben der Zusammenschau vieler Beispiele steht der Versuch, den Erinnerungswert von Dingen „für unser heutiges Bild dieser Kriege“ (S. 366) zu analysieren, dann wird – zusätzlich zu vielen anderen theoretischen Überlegungen – auch die Akteur-Netzwerk-Theorie ins Spiel gebracht (S. 379). Der Anspruch, dass die genannten „Beispiele materiellen Austausches […] auf den kulturellen Umbruchcharakter der hier behandelten Kriege [verweisen]“ (S. 271), wird meines Erachtens nicht eingelöst, obwohl ich ihnen das Potenzial dazu keinesfalls absprechen würde. Eine stärkere Fokussierung des Artikels wäre wünschenswert gewesen.

Ganz anders geht Rebekka Habermas in ihrem Beitrag über den Zusammenhang von materieller und politischer Kultur im Kontext kolonialer Debatten um 1900 vor. Am Beispiel eines einzigen Objekts – der Nilpferdpeitsche – erschließt sie ein größeres Diskursfeld. Habermas erläutert, wie die Nilpferdpeitsche – in den Kolonien Symbol der Unterdrückung und der Kolonialherrschaft – im Kaiserreich zu einem Symbol von Kolonialkritik wurde, indem die angeblich „willkürliche“ Gewalt einzelner Akteure gegenüber der Bevölkerung afrikanischer Kolonien an den Pranger gestellt wurde. Wichtiger ist allerdings die Schlussfolgerung, dass diese Form der „Kolonialkritik“ letztlich die strukturelle und alltägliche Gewalt des Kolonialsystems verschleierte, da die diskutierten Gewaltexzesse als Abweichung von der (verharmlosten) Norm konstruiert wurden (S. 393).

Anhand von Habermas‘ Beitrag möchte ich kurz zu einer Überlegung übergehen, die auch meine Auseinandersetzung mit den anderen Beiträgen begleitet hat: die in diesem Forschungsfeld häufig etwas zu kurz kommende Bedeutung von Rohstoffen und deren Verarbeitung für ein Verständnis der Objekte. Habermas geht auf diese Aspekte ein, wenn sie etwa die Spezifika einer aus Nilpferdhaut bestehenden Peitsche hervorhebt (S. 397–398) oder auf die Existenz von „Peitschendörfern“ im Reich verweist, die auf die Herstellung dieses Prügelinstruments spezialisiert waren (S. 395). Diese beiden Aspekte hängen allerdings augenscheinlich nicht zusammen, wurden doch offenbar in den „Peitschendörfern“ gänzlich andere Peitschen für den (übrigens auch thematisierten) Gebrauch in Europa hergestellt. Mir scheint naheliegend, dass sowohl der „Rohstoff“ Nilpferdhaut aus den afrikanischen Kolonien stammte als auch die Verarbeitung derselben ebendort erfolgte, vermutlich durch die kolonialisierte Bevölkerung. Auf dieser Basis ließe sich Habermas‘ Perspektive gleichzeitig erweitern und auf das eigentlich untersuchte Objekt fokussieren, kommen doch hier sowohl die Frage von Transferprozessen ins Spiel als auch jene nach der Nutzbarmachung lokaler Arbeitskraft für die Herstellung von Bestrafungsinstrumenten sowie schließlich jene nach der Ausbeutung afrikanischer Ressourcen (Nilpferde) durch das koloniale System. An dieser Stelle – Rohstoffe und Produktion – ist häufig die diskursarme Dimension materieller Kultur angesiedelt. So spricht man im Reichstag zwar, wie Habermas anschaulich ausführt, über den Einsatz der Peitschen, aber nicht über deren Produktion und die damit verbundene Ausbeutung afrikanischer Ressourcen und Arbeitskräfte. Diese bleiben diskursiv unsichtbar.

Schließlich thematisiert Reinhard Bernbeck die Erforschung materieller Kultur in der Zeitgeschichte. Spannenderweise lieferte mir gerade dieser Aufsatz zur NS-Zeit die größten Anknüpfungspunkte zu meiner eigenen Forschung zur Frühen Neuzeit, was wiederum das Potenzial der in diesem Themenheft verfolgten Strategie des epochenübergreifenden Blicks verdeutlicht. Der Archäologe reflektiert anhand von Grabungen in Konzentrations- und Zwangsarbeitslagern der NS-Zeit über den historiographischen Status von Dingen. Der Beitrag zielt auf die Nutzbarmachung archäologischer Forschung für die Untersuchung von Alltagskultur und plädiert dabei für die bewusste Akzeptanz der Ambiguität, die durch eine Auseinandersetzung mit Dingen entsteht. Das Beispiel des undokumentiert „verschwundenen“ Zements illustriert anschaulich die Lücken, die selbst in der vergleichsweise dicht dokumentierten Zeitgeschichte vorzufinden sind. Gerade die Beschäftigung mit der Lebensrealität der Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter kann Bernbeck zufolge von einer archäologischen Perspektive profitieren und die Möglichkeit der Agency von Opfern ins Bewusstsein rücken. Was der Autor hier anspricht ist ein grundlegendes Problem historischer Forschung: Die „Befangenheit“ des schriftlichen Quellenmaterials, auf dem Historikerinnen und Historiker ihre Narrative aufbauen, macht die Untersuchung bestimmter Themen zu einem großen Interpretationsakt. Dies gilt im Besonderen für gesellschaftlich marginalisierte Gruppen wie eben Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter. Eine Auseinandersetzung mit materieller Kultur – und eine Zusammenarbeit mit der Archäologie – kann gerade an dieser Stelle sehr fruchtbar sein.

Abschließend verweist Andreas Ludwig in seinem Forumsbeitrag auf ein Problem, das ich auch durch die gelieferten fünf Beiträge nicht als gelöst betrachten würde. Wie der Autor pointiert formuliert: „Was fehlt, ist ein gemeinsamer Fokus, also eine Verständigung darüber, was Dinge in der Geschichte bedeuten und wie sie untersucht werden können.“ (S. 433) So wird Ludwig zufolge in der Regel eben gerade nicht aus den Dingen heraus argumentiert, sondern die Dinge sind „Platzhalter“ (S. 431) oder „Stellvertreter“ (S. 439) für nicht-dingliche Narrative – Narrative, die man sich durch andere Objekte oder gar ganz ohne Objekte genauso erschließen könnte. Wiederum erscheint mir die Einbeziehung von Rohstoffen und Produktion sinnvoll, um besser „aus den Dingen heraus“ argumentieren zu können. Hier setzt die Beziehung zwischen Ding und Mensch ein. Warum werden aus Nilpferdhaut Peitschen für die kolonialisierte Bevölkerung hergestellt und nicht Pferdesattel oder Damenhandtaschen? Hängt das mit dem Material zusammen, ergibt es sich also aus dem Ding? Oder spielen ganz andere Faktoren, namentlich die herrschenden Machtstrukturen, eine gewichtigere Rolle?

Ein Ziel des von Marian Füssel und Rebekka Habermas herausgegebenen Themenhefts ist es offensichtlich, eine möglichst breite Zeitspanne abzudecken. Sie wollen auf diese Weise „historische Signaturen“ identifizieren, um die Bedeutung materieller Kultur historisieren zu können und damit den „analytischen Kurzschluss[…] von materieller Kultur und industrialisierter westlicher Moderne“ aufbrechen zu können (S. 332). Die Erforschung materieller Kultur soll zu einer Perspektive innerhalb der Geschichtswissenschaften werden, die „epochenübergreifend“ und nicht mit einer bestimmten Zeit und einem bestimmten Ort verbunden ist. Diesen Anspruch des Themenheftes halte ich durchaus für gelungen umgesetzt, wenn auch die im Editorial aufgeworfene Idee „historischer Signaturen“ etwas vage bleibt. Zweitens wird davon ausgegangen, dass sich in Dingen nicht einfach bereits existente Strukturen abbilden, sondern Dinge diese Struktur beeinflussen (die oben genannte „konstitutive Rolle“ von Dingen). Ich bin unschlüssig, ob diese Annahme wirklich in den Beiträgen konsequent verfolgt wird, namentlich auf Grund des von Ludwig festgestellten „Stellvertreter“-Problems. Ob sich dieses Problem ausschalten lässt bzw. ob es überhaupt ausgeschaltet werden sollte, ist eine Frage, die das Forschungsfeld sicherlich auch in den nächsten Jahren noch weiter begleiten wird.