Cover
Titel
Wer einmal war. Das jüdische Großbürgertum Wiens 1800–1938: L–R


Autor(en)
Gaugusch, Georg
Reihe
Jahrbuch der Heraldisch-Genealogischen Gesellschaft "Adler", Dritte Folge, 17
Erschienen
Anzahl Seiten
XXVI, 1429 S.
Preis
€ 148,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Dieter J. Hecht, Institut für Kulturwissenschaften und Theatergeschichte, Österreichische Akademie der Wissenschaften

Mit dem zweiten Band seines dreiteiligen Werks „Wer einmal war“ erschließt Georg Gaugusch der Forschung das soziale Netzwerk jüdischer Familien in Wien für die Zeit von 1800 bis 1938. Mit diesem Band belegt der Autor eindrucksvoll, dass jüdische Genealogieforschung wieder Teil des wissenschaftlichen Diskurses im deutschsprachigen Raum ist. Für sein Werk recherchierte er tausende von Daten in Archiven und Museen, in Matrikenämtern, auf jüdischen Friedhöfen (auch jenseits des Territoriums der Habsburgermonarchie) und im Internet. Zur Organisation dieser Information stattete Gaugusch sein Buch mit einem übersichtlichen Handapparat aus. Neben einer genealogischen Anleitung finden sich auch ausführliche Quellenangaben, ein detailliertes Abkürzungsverzeichnis und eine Übersicht der für die Forschung essentiellen Internet-Datenbanken, die in den letzten Jahren wichtige Archivbestände online gestellt haben. Gaugusch spart auch nicht mit Kritik, wenn die Benützung von Archiven eingeschränkt wurde bzw. Quellen nicht mehr zugänglich sind (S. LXIII). Die Einführungen und Erklärungen sind etwas knapper gehalten, weil sich der Band L–R als Fortsetzung von A–K versteht. Das Namensregister ist wie schon beim ersten Band online zugänglich.1 Dem dritten Band soll dann ein vollständiges Namensverzeichnis beigegeben werden. Im ersten Band formulierte Gaugusch im Vorwort sein Ziel folgendermaßen: „Dieses Buch versucht, durch das detaillierte genealogische Rekonstruieren der tragenden jüdischen Familien Mitteleuropas die handelnden Personen und ihr familiäres Verhältnis zueinander zu dokumentieren. Es geht hier um Individuen und deren Leistungen, eingebettet in ein großes Netzwerk.“2

Wie im Folgenden gezeigt werden soll, hat Gaugusch dieses Ziel weitgehend erreicht. Mit ausführlichen sozialhistorischen Einführungen zu jeder Familie eröffnet er wertvolle kulturwissenschaftliche Ansatzpunkte für die Erforschung der jüdischen Geschichte. Gaugusch ist somit als Nachfahre früherer Genealogen zu sehen. Verwiesen sei hier etwa auf das Vorwort der Gebrüder Zweig, die in einem 1932 publizierten Familienstammbaum auf die Spannung zwischen genealogischer Forschung und Familiengeschichte verwiesen: „Dieser Stammbaum ist noch keine Familiengeschichte. Er kann ihr bloß Rückgrat sein, die erste Voraussetzung dafür bilden. Denn diese Geschichte hat das Leben und Wirken der Familienmitglieder und Gruppen aufzuzeichnen und, höheren Flugs, die Familienschicksale in ihrer lebendigen Verflechtung mit der physischen und geistigen Umwelt, mit den nationalen und religiösen Gemeinschaften, den politischen und Wirtschaftsverbänden, mit den sozialen und kulturellen Bestrebungen der Zeitgenossen zur Darstellung zu bringen.“3 Im vorliegenden Band (L–R) spiegelt sich dieser Ansatz der Familie Zweig in der Arbeit von Georg Gaugusch wider. So findet sich zum Beispiel die Familie Zweig im Eintrag über die Zuckerindustriellenfamilie May aus Lundenburg (S. 2213–2224) und bei der aus Preßburg stammenden Juweliers und Großhändlerfamilie Ratzersdorfer (S. 2845–2854). Der Eintrag über die Familie May veranschaulicht, wie bei vielen der behandelten Familien, den sozialen und ökonomischen Aufstieg ab Mitte des 19. Jahrhunderts. Marie May (1859– nach 1918) heiratete durch die Ehe mit Moritz Zweig (1851–1934) in die aufstrebende Prossnitzer Malzfabrikantenfamilie Zweig ein. Die Verbindung zur Familie Ratzersdorfer war für die Familie Zweig nicht minder bedeutend. Die Schwestern Emma (1842–1921) und Melanie Ratzersdorfer (1851–1939) heirateten die Cousins Adolf Zweig (1839–1917) und Eduard Zweig (1840–1906). Gleichzeitig verschwägerten sich die Familien Ratzersdorfer und die Familie Zweig mit der Textilindustriellenfamilie Doctor aus Nachod.4 Ein weiteres Verwandtschaftsverhältnis der Familie Zweig bestand zur Familie Kantor/Thorsch (S. 2309–2311).

Das Beispiel der Familie Zweig zeigt bereits deutlich die hohe soziale Mobilität jüdischer Familien, ihre Verschwägerung und Vernetzung von Lundenburg und Prossnitz über Preßburg und Nachod bis nach Wien. Die Familiennetzwerke vieler der dargestellten Familien gingen aber auch über den geografischen Raum der Habsburgermonarchie hinaus, weshalb Gaugusch für den vorliegenden Band nicht nur Friedhöfe in Österreich, Ungarn, Kroatien, der Slowakei, Tschechien und Rumänien besuchte, sondern auch in Belgien, Großbritannien, Deutschland, Frankreich, Italien, Serbien und in der Schweiz (S. LVIII–LX). Gaugusch beschreibt in seinem Buch sowohl bis heute prominente jüdische Familien als auch weniger bekannte, die dem Großbürgertum zuzuzählen sind. Diesem können laut Gaugusch Familien aufgrund ihres ökonomischen und sozialen Status sowie kraft ihrer familiären Verbindungen angehören. Ohne denselben zu nennen, reproduziert Gaugusch somit Pierre Bourdieus These vom „sozialen Kapital“. Wesentlich ist ihm auch ein deckungsgleicher Wertekanon innerhalb der Verwandtschaft (ähnlich dem Bourdieuschen „kulturellen Kapital“), der einem ständigen Transformationsprozess unterlag, mit dem das Individuum mithalten musste (S. LII). Nobilitierte jüdische Familien zählen für ihn ebenfalls zum Großbürgertum, weil sie nicht dem Hochadel aufsteigen konnten, der einer eigenen, nahezu impermeablen gesellschaftlichen Schicht angehörte.

Neben einer umfassenden Genealogie und Quellenangaben sowie einer Beschreibung des Wappens bei nobilitierten Familien bietet Gaugusch seiner Leserschaft in diesem Band ausführliche sozialhistorische Familiengeschichten. Eine heute weitgehend vergessene Familie ist die aus Prag stammende Eisenhändler- und spätere Industriellen-Familie Merores (S. 2283–2293). Bereits Markus Merores (1785–1847) legte durch seine Hochzeit mit Marianne Bondy (1787–1861) in Prag die Grundlage für den wirtschaftlichen Aufstieg der Familie. Der jüngste Sohn, Salomon Merores (1818–1869), heiratete die ebenfalls aus Prag stammende Charlotte Lea Itzeles (1825–1896). Dieses kinderlose Ehepaar wohnte in ihrem Haus, in Wien 9., Währingerstraße 24. Charlotte Merores-Itzeles stiftete nach ihrem Tod ihr umfangreiches Vermögen für israelitische Mädchen. Ein imposantes Stiftungshaus, auf dem heute noch ihr Name zu lesen ist, wurde in der Währingerstraße 24 anstelle des ursprünglichen Wohnhauses errichtet. Ein zweites großes Stiftungshaus entstand in Wien 19., Bauernfeldgasse 40. Letzteres ist nicht mehr erhalten.5 Zur Familie Merores gehörte auch der spätere israelische Politiker Wolfgang Ze‘ev Weisl (1896–1974), dessen Großmutter Franziska Merores (1840–1908) war, eine Nichte von Salomon Merores.

Als weiteres Bespiel, das die Komplexität der Familiennetzwerke gut veranschaulicht, dient hier die Familie Przibram, deren Name zumindest noch einem kleinen Kreis bekannt ist. Die ebenfalls aus Prag stammende Familie verfügte bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts über ein großes Textilimperium und ein umfangreiches Familiennetzwerk, das sie zu den bedeutendsten Familien Prags werden ließ. Gustav Przibram (1844–1904) heiratete 1871 mit Charlotte Schey von Koromla (1851–1939) in eine arrivierte jüdische Familie Wiens ein. Um 1900 besaß die Familie zwei Palais auf der Ringstraße sowie ein Zinshaus und weitere Immobilien in Wien.6 Die Familie war aber nicht nur wirtschaftlich erfolgreich, einzelne Mitglieder leisteten auch Bedeutendes in den Naturwissenschaften. Karl Przibram (1878–1973), ein Sohn von Gustav und Charlotte, war bis zum „Anschluss“ stellvertretender Leiter des Instituts für Radiumforschung an der Akademie der Wissenschaften in Wien. Sein Bruder Hans Przibram (1874–1944 Theresienstadt), ein Zoologe, wandelte das Wiener Vivarium im Prater gemeinsam mit den ebenfalls aus jüdischen Familien stammenden Botanikern Leopold von Portheim (1869–1947) und Wilhelm Figdor (1866–1938) ab 1902 in eine biologische Versuchsanstalt um. Im Jahr 1914 übergaben die Gründer das Institut der kaiserlichen Akademie, der späteren Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Nach dem „Anschluss“ im März 1938 durfte Przibram die Versuchsanstalt nicht mehr betreten.7 Nach 1945 erhielten überlebende Familienmitglieder und ihre Nachkommen einen Teil des Besitzes zurück, den sie später verkauften. Eine führende Rolle in der Wiener Gesellschaft konnten jene Familienmitglieder, die wieder in Österreich lebten, nicht mehr spielen. Heute erinnert kaum mehr etwas an die Familie Przibram, abgesehen von einer monomentalen Grabanlage in der jüdischen Abteilung am Wiener Zentralfriedhof (1. Tor) und einer Gedenktafel für das Vivarium, die von der Österreichischen Akademie der Wissenschaften 2015 im Prater errichtet wurde, an dem Platz, wo einst das Vivarium stand. Gleichzeitig wurde eine Büste für Hans Przibram in der Aula der Österreichischen Akademie der Wissenschaften enthüllt, die dessen Bruder, Karl Przibram, der Akademie bereits 1947 gestiftet hatte.

Abschließend sei noch auf den Eintrag Neuda verwiesen (S. 2379–2389). Zur weitverzweigten Familie Neuda gehörten Rabbiner, Rechtsanwälte, Schriftsteller, Journalisten, ein österreichisch-ungarischer Generalkonsul in Port-au-Prince (Haiti) und eine Opernsängerin. Wie bei vielen großen und erfolgreichen Familien ließ sich ein Teil taufen, ein anderer Teil blieb jüdisch. Besondere Erwähnung verdient Fanny Neuda, geb. Schmidl (1819–1894). Als Witwe nach dem Loschitzer Rabbiner Abraham Neuda (1812–1854) verfasste sie 1855 als erste Frau ein jüdisches Frauengebetbuch, das aufgrund des großen Erfolgs in vielen Auflagen erschien.8 Die Vielschichtigkeit der Familie Neuda steht somit auch für das Buch von Georg Gaugusch, das enorme Datenmengen über viele Familien aus allen Teilen der Monarchie in ein konzises Werk und einen Kontext zueinander brachte. Mit dem noch ausstehenden 3. Band (S–Z) wird ein Projekt vollendet, das einen wichtigen Beitrag zur (Wiener) jüdischen Geschichte liefert.

Anmerkungen:
1http://www.genteam.at (04.05.2017).
2 Georg Gaugusch, Wer einmal war. Das jüdische Großbürgertum Wiens 1800–1938, A–K, Wien, Amalthea Verlag 2016, S. IX.
3 Felix Zweig (Hrsg.), Stammbaum der Familie Zweig, Olmütz 1932, S. 6.
4 Vgl. zur Familie Doctor Georg Gaugusch, Wer einmal war. Das jüdische Großbürgertum Wiens 1800–1938, A–K, Wien, Amalthea Verlag 2016, S. 407–410; Dieter J. Hecht, Der Weg des Zionisten Egon Michael Zweig. Olmütz-Wien-Jerusalem, Baram 2012, S. 19 und 33f.
5 Vgl. zur Charlotte Lea Merores-Itzeles Stiftung und dem Mädchenwaisenhaus: Shoshana Duizend-Jensen, Jüdische Gemeinden, Vereine, Stiftungen und Fonds: "Arisierung" und Restitution, Österreichische Historikerkommission 21/2, Wien 2004; Dieter J. Hecht, Eleonore Lappin-Eppel, Michaela Raggam-Blesch, Topographie der Shoah. Gedächtnisorte des zerstörten jüdischen Wien, Wien 2015.
6 Zu den Przibrams vgl. Martina Niedhammer, Nur eine „Geld-Emancipation“? Loyalitäten und Lebenswelten des Prager jüdischen Großbürgertums 1800–1867, Göttingen 2013. Gabriele Kohlbauer-Fritz (Hrsg.), Ringstraße. Ein jüdischer Boulevard, Wien 2015.
7 Vgl. Klaus Taschwer, Vertreiben, verbrannt, verkauft, vergessen und verdrängt. Über die nachhaltige Vernichtung der Biologischen Versuchsanstalt und ihres wissenschaftlichen Personals, in: Johannes Feichtinger, Herbert Matis, Stefan Sienell, Heidemarie Uhl (Hrsg.), Die Akademie der Wissenschaften in Wien 1938 bis 1945. Wien 2013, S. 105–115 und 240.
8 Louise Hecht, „Stunden der Andacht“: Fanny Neuda’s Gebetbuch für Frauen, in: Bet Debora Journal 1 (2014), S. 34–42.

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