: Helmut Schmidt. Der Weltkanzler. Aus dem Englischen von Werner Roller. Darmstadt 2016 : Theiss Verlag, ISBN 978-3-8062-3404-6 384 S., 17 SW-Abb. € 29,95

: Helmut Schmidt. Die späten Jahre. München 2016 : Siedler Verlag, ISBN 978-3-8275-0076-2 555 S. € 26,99

Rezensiert für H-Soz-Kult von
Claudia Hiepel, Historisches Institut, Universität Duisburg-Essen

Die geradezu kultische Verehrung, die Helmut Schmidt in seinen letzten Lebensjahren in der Öffentlichkeit erfuhr, kontrastiert merkwürdig mit dem doch eher kritischen Bild während seiner Kanzlerschaft in den Jahren 1974–1982. Zwei biographische Arbeiten über den 2015 verstorbenen Bundeskanzler a.D. Helmut Schmidt gehen diesem scheinbaren Widerspruch nun aus unterschiedlichen Perspektiven auf den Grund.

Kristina Spohr, Associate Professor für Internationale Geschichte an der London School of Economics, behandelt die acht Jahre seiner Kanzlerschaft und konzentriert sich dabei inhaltlich auf die globale Wirtschafts- und Sicherheitspolitik. Anhand umfangreicher Quellenrecherchen im Privatarchiv Helmut Schmidts wie in weiteren Archiven in Deutschland, Großbritannien und den USA liefert sie eine Analyse dieser beiden Pfeiler der Außenpolitik Schmidts. Sie setzt ihm postum ein Denkmal als „Weltkanzler“, der eine einflussreiche weltpolitische Rolle gespielt und Entwicklungen angestoßen habe, die in ihren Nachwirkungen bis in die Gegenwart hineinragen. Im Gegensatz zur positiven öffentlichen Wahrnehmung Schmidts werde seine Rolle jedoch von der wissenschaftlichen Forschung nicht hinreichend gewürdigt. Schon die zeitgenössische Rezeption seiner Kanzlerschaft fiel nicht uneingeschränkt positiv aus. Für den „SPIEGEL“ war Helmut Schmidt im Herbst 1982, kurz vor dem Misstrauensvotum im Bundestag, ein guter Kanzler mit schlechter Bilanz – sein ständiger Rivale Willy Brandt hingegen ein schlechter Kanzler mit guter Bilanz.1 Die Wissenschaft verwehrte Schmidt laut Spohr zu Unrecht den Platz in der „hall of fame“ (S. 11) der ganz großen Kanzler der Bundesrepublik. Den meisten galt er als ,bloßer‘ Macher und Krisenmanager, aber nicht als eigenständiger Denker und Stratege. Selbst sein politischer Freund Henry Kissinger schrieb ihm lediglich die Rolle eines „Übergangskanzlers“ (S. 299) in einem schwierigen Krisenjahrzehnt zu, der aber nichts Bleibendes, nichts historisch Herausragendes hinterlassen habe.

Aus Sicht Spohrs sind dies krasse Fehlurteile über einen Politiker, dessen Fähigkeiten und Qualitäten ihn weit über das Normalmaß hinaushoben. Schmidt war für die Autorin vielmehr einer derjenigen Kanzler, mit denen die kleine Bundesrepublik gleichsam in eine internationale Liga aufstieg, in der sie als nicht-nuklearer und halb-souveräner Staat eigentlich nicht als gleichberechtigter Mitspieler oder gar Spielführer vorgesehen war. Schmidts Expertise, seine außergewöhnliche Fähigkeit zu konzeptionellem Denken und die daraus resultierende politische Praxis weisen für Spohr „Merkmale echter Staatskunst“ auf (S. 16). Er habe als „Verteidigungsintellektueller“ und „Weltökonom“ brilliert; er sei der Zeit und den Zeitgenossen weit vorausgewesen, indem er die neuen Anforderungen erkannt habe, die die zunehmende Interdependenz der Staatenwelt in den 1970er-Jahren an die Nationalstaaten und ihre Akteure herantrug.

Als Schmidt nach dem Rücktritt Brandts das Amt des Bundeskanzlers übernahm, war das drängendste Problem die globale Wirtschafts- und Währungskrise, verbunden mit dem Ende des Währungssystems von Bretton Woods 1973, dem Floating der Währungen, der Ölkrise 1973/74, Inflation und Arbeitslosigkeit. Die Krise der 1930er-Jahre vor Augen, sah Schmidt Demokratie und Weltfrieden gleichermaßen bedroht. Eine isolierte nationale Lösung hielt er angesichts der zunehmenden wechselseitigen Abhängigkeiten und Verflechtungen nicht für möglich. Weltwirtschaft wurde zur Kernaufgabe der Staats- und Regierungschefs der führenden Industrienationen, die erstmals 1975 in Rambouillet zu alljährlichen Gipfeltreffen zusammenkamen. Schmidt war maßgeblich an der Implementierung dieser Gipfel beteiligt, ein als Krisenmechanismus entstandenes multilaterales Forum, das bis heute Bestand hat und aus der internationalen Politik nicht wegzudenken ist. Das Europäische Währungssystem (EWS), das Schmidt mit dem französischen Staatspräsidenten Giscard d’Estaing initiierte und das die Wechselkursstabilität innerhalb der Europäischen Gemeinschaft sichern sollte, ist als Antwort auf die Krise der 1970er-Jahre zu sehen und zugleich als Vorgeschichte des Euro. Beides, G7-Gipfel und EWS, lassen sich mit einiger Berechtigung auf der Habenseite der Kanzlerschaft Schmidts verbuchen.

Aber auch bei den großen sicherheitspolitischen Themen der Zeit ist die Sache für Spohr klar: Die von Schmidt lancierte NATO-Doppelstrategie könne als Vorgeschichte der Abrüstungsverhandlungen zwischen Gorbatschow und Reagan betrachtet werden und als „wichtiger Beitrag zur Entschärfung des Kalten Krieges“ (S. 17). Die „Staatskunst“ Schmidts basierte demnach auf einer Kombination aus intellektueller Durchdringung eines komplexen Gegenstandes und einer den Realitäten angemessenen, im Prinzip alternativlosen Strategie, die er in politische Entscheidungsmacht transformieren konnte. Ähnlich wie in ökonomischen Fragen habe Schmidt auch hier auf seine Kompetenz bauen können. Seit den 1950er-Jahren gehörte er zu den wenigen sicherheitspolitischen Experten in der SPD. Spohr spart wiederum nicht mit Superlativen: Als „Vordenker in Verteidigungsfragen“ sei Schmidt in der Bundesrepublik „konkurrenzlos“ gewesen (S. 77).

Militärisches Gleichgewicht war das zentrale Credo von Schmidts sicherheitspolitischen Vorstellungen. Dieses sah er mit dem Beschluss der Sowjetunion zur Stationierung der SS 20-Raketen bedroht. Schon 1977 entwickelte er eine Doppelstrategie: Rüstungsbegrenzung war das Ziel, aber im Zweifel sollte die Aufstockung des Waffenarsenals erfolgen. Spohr kann anhand zahlreicher Äußerungen Schmidts nachweisen, dass dieser immer eine Null-Lösung bevorzugt hätte. Dennoch hielt er an einer „ziemlich mechanischen Vorstellung“2 von militärischem Gleichgewicht fest, wonach die strategische Parität bei den Mittelstreckenwaffen nicht mehr gewährleistet sei und daher die westliche Seite nachziehen müsse. Diese Auffassung teilte man in der US-Administration durchaus nicht. Antworten auf die Modernisierung des sowjetischen Waffenarsenals hätte es auch jenseits der Stationierung neuer Raketensysteme gegeben, und das strategische Gleichgewicht war nicht zwangsläufig aus den Fugen geraten. Der NATO-Doppelbeschluss vom Dezember 1979 war daher vor allem das Ergebnis der beharrlichen Interventionen Schmidts.

Neuland zu betreten ist bei diesem mittlerweile gut erforschten Thema schwierig. Spohrs Verdienst ist es, hier sehr tief in die Feinheiten der sicherheitspolitischen Implikationen einzelner Waffensysteme einzudringen. Die Autorin zeichnet zudem ein farbiges Bild der Gipfeldiplomatie, das mitunter beim Lesen das Gefühl hervorruft, mit am Verhandlungstisch zu sitzen. Allerdings birgt diese Erzählweise die Gefahr des Distanzverlustes, vor der Spohr leider nicht gefeit ist. Sie erzählt die Geschichte konsequent aus der Perspektive ihres Protagonisten. Der Bewunderung für Schmidt lässt sie dabei freien Lauf. Lediglich seine Launenhaftigkeit und Arroganz werden kritisch angemerkt (S. 312). Dass er damit maßgeblich für das zerrüttete Verhältnis zum US-Präsidenten Carter verantwortlich war, spricht nicht für seine „Staatskunst“.

In einem Anflug von Überidentifikation übernimmt Spohr bestimmte Feindbilder Schmidts. Egon Bahr wird hier zum „Quälgeist“ (S. 123), der aus Eitelkeit und Opportunismus einen Proteststurm gegen Neutronenbombe und Nachrüstung inszenierte, den es ohne ihn nicht gegeben hätte. Dass Bahr und andere Kräfte in der SPD aus Überzeugung und aus einem anderen Sicherheitsverständnis heraus handelten, zieht Spohr nicht einmal in Erwägung, wie überhaupt der linke Flügel in der SPD und die Friedensbewegung nur als lästige Störfaktoren wahrgenommen werden. Von einer kritisch-reflektierenden Zeitgeschichtsschreibung wären differenziertere Urteile zu erwarten.

Die Marginalisierung anderer Akteure gehört ebenfalls zu den Fallstricken biographischen Erzählens. Ohne die enge Kooperation und politische Freundschaft mit Giscard d’Estaing aber wären weder die G7-Gipfel zustande gekommen noch das EWS. Überhaupt waren Gipfeltreffen als Kriseninterventionsmechanismus nicht neu, sondern wurde bereits seit 1969 erfolgreich im Rahmen der Europäischen Gemeinschaft angewandt. Und auch bei der NATO-Doppelstrategie spielten Giscard und der britische Premierminister Callaghan auf der Konferenz von Guadeloupe 1979 eine wichtige Rolle, als sie gemeinsam auf den US-Präsidenten einwirkten.

Zuzustimmen ist Spohr, dass die „langen“ 1970er-Jahre keine bloße Übergangsperiode waren, sondern als eine Art Frühgeschichte der zweiten Globalisierung zu lesen sind, die von den Zeitgenossen wahrgenommen, aber noch nicht so bezeichnet wurde. Damit allerdings rennt man in der Forschung offene Türen ein. Helmut Schmidt spielte in diesem Kontext sicher eine wichtigere Rolle als bislang wahrgenommen. Ihn als „Weltkanzler“ derart herauszuheben schießt aber über das Ziel hinaus.

Thomas Karlaufs Schmidt-Biographie tappt nicht in die biographische Falle. Ihm gelingt es, sich seinen Helden „vom Leib zu halten“ (Christian Meier), obgleich er Schmidt als dessen langjähriger Lektor auch persönlich sehr gut kannte. Er genoss das Vertrauen des Altkanzlers und hatte uneingeschränkten Zugang zum Privatarchiv und zu Schmidt selbst, mit dem er in ständigem Kontakt stand. Trotz dieser Nähe ist ihm ein ausgewogenes, nüchternes und facettenreiches, mitunter auch kritisches Porträt Schmidts gelungen.

Es geht um die „späten Jahre“ vom Kanzlersturz 1982 bis zu Schmidts Tod, immerhin 33 Jahre, in denen Schmidt „außer Dienst“, aber in der Öffentlichkeit präsent war. Während dieser Zeit avancierte er zum Welterklärer und Idol der Deutschen, der sich gerade im letzten Jahrzehnt immenser Beliebtheit erfreute. Karlauf erzählt diese zweite Karriere Schmidts als Elder Statesman – ohne politisches Amt, aber nicht ohne politischen Einfluss. Karlauf sucht die Gründe und Hintergründe für diese einzigartige Rolle, die Schmidt als „Altkanzler“ in der Geschichte der Bundesrepublik auch nach seinem Sturz spielte. Der späte Ruhm speiste sich demnach aus zwei Quellen: zum einen aus der Sehnsucht der Deutschen nach Orientierung, zum anderen aus Schmidts besonderer Fähigkeit, auch komplizierte Dinge verständlich darzustellen und die langen Linien der Entwicklung im Blick zu haben.

Das Zusammenspiel dieser Faktoren ergab sich nicht von allein, und Karlauf verfolgt die Genese in seiner chronologischen Darstellung. Nach dem Schock des Kanzlersturzes und dem Verlust der politischen Ämter gab es zunächst „Jahre der Zurückhaltung“ (1982–1990, Teil I), in denen Schmidt versuchte, mit sich und der Partei ins Reine zu kommen. Die Tätigkeit als Herausgeber bei der ZEIT half ihm, über den Bedeutungsverlust hinwegzukommen und die Basis für seine zweite Karriere zu legen. Es folgten „Jahre der Einmischung“ (1991–2003, Teil II), in denen Schmidt seine vielfältigen internationalen Netzwerke ausbaute und in verschiedenen Organisationen und Diskussionsforen Einfluss nahm auf die politischen Debatten. Erst spät beschritt er dann die „Wege des Ruhms“ (2003–2015, Teil III), die ihn zu dem unantastbaren Status führten, den er bis zu seinem Tod innehatte. Er besaß eine Autorität wie kaum ein anderer ehemaliger Politiker. Am ehesten wäre Brandt zu nennen, der aber als Parteivorsitzender noch lange nach seiner Kanzlerschaft auf ganz andere Weise in den politischen Betrieb eingebunden war. Sicher spielte auch Kohls Gegenwart eine Rolle, die Schmidts Vergangenheit gleichsam vergoldete (S. 199). Als „Kanzler der Einheit“ hätte Kohl seinem Vorgänger dennoch Konkurrenz machen können. Bezeichnenderweise aber begann der Aufstieg des einen Altkanzlers mit dem Abstieg des anderen im Zuge der CDU-Spendenaffäre um das Jahr 2000.

Dass Schmidt sehr konsequent an seinem Bild für die Geschichtsbücher arbeitete, hat man immer schon geahnt. Wie intensiv, mit welchen Finessen und welcher Beharrlichkeit, das erhält man hier kenntnisreich und überzeugend belegt. Seine mehrbändigen, vielgelesenen Memoiren, die in jahrelanger sorgfältiger Arbeit entstanden, sollten ebenso dazu beitragen wie alle anderen schriftlichen und mündlichen Äußerungen Schmidts. Seine Geschichtsdeutung begann bereits mit seinem Sturz 1982. Schon hier ließ er sich, obwohl in der Defensive, das Heft des Handelns nicht aus der Hand nehmen und arbeitete an dem Bild vom „Verrat“ der FDP. Tatsächlich waren es die auseinanderdriftenden wirtschaftspolitischen Vorstellungen in der Krise, die den sich lange ankündigenden Sprung der FDP begründeten. Vor allem aber ging es Schmidt darum, die SPD unbeschädigt aus der Krise herauszubringen. Es war die Version der CDU, dass der Kanzler an seiner eigenen Partei gescheitert sei – eine Auffassung, die im Übrigen bei Kristina Spohr durchklingt. Das Leiden an der störrischen, von Linkskräften dominierten SPD, die dem eigentlich vernünftigen und alternativlosen Kurs des Kanzlers nicht habe folgen wollen, ist bei Spohr eine ständig durchklingende Melodie. Karlauf dagegen weist in diesem Zusammenhang auf eine Selbstverständlichkeit hin: Die Partei ist ein Ort der politischen Willensbildung und insofern nicht zu übergehen oder abzutun. Das war auch Schmidt bewusst, der intensiv für seinen Kurs warb – mit dem Ergebnis, dass die SPD ihm auf dem Parteitag im April 1982 durchaus (noch) folgte. Die eigentliche Zerreißprobe blieb Schmidt erspart, denn die definitive Entscheidung über den zweiten Teil des Doppelbeschlusses, die Stationierung, stand erst im Herbst 1983 an. Hier wäre die Partei Schmidt vermutlich in der Tat nicht mehr gefolgt. Dass die SPD aber auch später das Ende des Kalten Krieges nicht ihm, sondern der Friedenspolitik Brandts zuschrieb, schmerzte ihn sehr.

Schmidt wollte nicht als Krisenmanager oder Übergangskanzler in die Geschichte eingehen, sondern als Europapolitiker, als Weltökonom und Sicherheitsexperte. Kristina Spohr leitet dieses Bild aus der „realen“ Außenpolitik seiner Kanzlerjahre ab. Thomas Karlauf macht hingegen deutlich, wie sehr diese Sicht das Ergebnis einer retrospektiven Geschichtskonstruktion ist. Ob das Krisenmanagement bei der Sturmflut in Hamburg 1962 oder Schmidts Geradlinigkeit gegenüber dem Terror der Roten Armee Fraktion dieses gewünschte Narrativ nicht doch am Ende überlagern werden, muss die Zukunft zeigen.

Anmerkungen:
1 Wolfram Bickerich, Dreizehn Jahre geliehene Macht, in: SPIEGEL, 27.09.1982, S. 40–56, hier S. 40, http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-14353616.html (07.06.2017).
2 Wilfried Loth, Die Rettung der Welt. Entspannungspolitik im Kalten Krieg 1950–1991, Frankfurt am Main 2016, S. 205.