E. Göransson u.a. (Hrsg.): The Arts of Editing Medieval Greek and Latin

Cover
Titel
The Arts of Editing Medieval Greek and Latin. A Casebook


Herausgeber
Göransson, Elisabet; Iversen, Gunilla; Crostini, Barbara; Jensen, Brian M; Kihlman, Erika; Odelman, Eva; Searby, Denis
Reihe
Studies and Texts 203
Anzahl Seiten
XIX, 452 S.
Preis
€ 65,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Franz Fischer, Cologne Center for eHumanities, Universität zu Köln

Der vorliegende Band stellt 18 Beiträge über diverse Editionsvorhaben lateinischer und griechischer Texte des Mittelalters zusammen, die in den Jahren 2008–2015 im Rahmen des Ars edendi Forschungsprogramm der Universität von Stockholm diskutiert und realisiert wurden. Überwiegend handelt es sich um vielschichtige und teils massenhaft überlieferte Gebrauchsliteraturen wie Kommentare, Liturgica, Predigten, Florilegien und enzyklopädische Werke, für die sich etablierte Methoden einer wissenschaftlichen Erschließung in Form historischer kritischer Druckausgaben nicht eignen. Der Band richtet damit seinen Blick auf in einschlägigen Handbüchern und traditionsreichen Editionsreihen tendenziell vernachlässigte Texte. Im Untertitel ist er als „Casebook“, als „Fallbuch“ ausgewiesen, wobei man sich hier einer für juristische oder medizinische Lehrbücher gebräuchlichen Bezeichnung bedient, die entsprechende Fachkenntnisse anhand konkreter Rechts- oder Krankheitsfälle und deren Lösungen auf anschauliche Weise vermitteln wollen. Denn auch hier sollen anhand von Einzelstudien die jeweils genre- oder materialspezifischen Eigenarten der zu edierenden Texte beispielhaft herausgearbeitet werden, um sie dann unter Anwendung ebenso spezifischer Methoden jeweils adäquaten und realisierbaren Editionsformen zuzuführen. Der präsentierten Methodenvielfalt entspricht der bewusst gewählte Plural im Titel „Arts of Editing“ – Artes edendi.

Das Abwenden von der Idee einer gleichsam universellen Kunst des Edierens, wie sie R. B. C. Huygens noch proklamiert hatte1, will man aber keineswegs als Kapitulation vor der Heterogenität der zu edierenden Gegenstände verstanden wissen. Um einen Mehrwert dieser Sammlung von Projektpräsentationen zu erzeugen, der über die Summe ihrer Einzelstudien hinausgeht, haben die Herausgeberinnen verschiedene nützliche Maßnahmen ergriffen. Den 18 Einzelstudien vorangestellt ist eine Leseanleitung (S. XV–XIX), die den Lesern eine praktische Übersicht über inhaltlich-thematische Überschneidungen der Beiträge verschafft. Einen Index verwiest darauf, welche Studien griechische oder lateinische Texte, Prosa oder Dichtung, geistliche oder weltliche Literatur zum Gegenstand haben; die literarische Form (Kommentar, biblische Paraphrase, Urkunde) und der jeweilige Verwendungsbereich (Philosophie, Theologie, Liturgie etc.) werden benannt; und die jeweils besprochene oder praktizierte editorische Methode wird angedeutet, letzteres auf einer angedeuteten Skala zwischen diplomatischem und textkritisch-rezensionistischem Ansatz, basierend auf einzelnen, wenigen oder vielen Textzeugen.

Jeder Fallstudie ist eine schematische Präambel vorangestellt, die stichwortartig Auskunft über das jeweils behandelte Textmaterial, dessen Datierung, die dem Editionsprojekt zugrundeliegenden Textzeugen, die methodologischen Probleme, den vorgeschlagenen Lösungsweg sowie Verweise zu inhaltlich-thematisch verwandten Studien des Bandes geben. Bibliographien schließen jede Einzelstudie ab.

Die größte synthetische Leistung aber wird über den abschließenden Beitrag der Hauptherausgeberin Elisabeth Göransson erbracht (S. 400–429). Gemeinsamkeiten und Unterschiede der einzelnen Fallstudien werden hier anhand eines eigens eingeführten editorischen Kreismodells herausgearbeitet, demgemäß jede editorische Situation durch (a.) externe Faktoren, (b.) Problemlage, (c.) Methode und (d.) Präsentationsform bestimmt sei. Neben finanziellen, zeitlichen, personellen und institutionellen Rahmenbedingungen gelte es, zunächst die Fragen der Autorschaft und Überlieferungslage zu klären. Daraufhin müsse die jeweils eingenommene editorische Perspektive auf das identifizierte Textmaterial und die forschungsspezifische Fragestellungen erläutert werden. Nur auf dieser Basis könne dann eine bewusste Wahl aus dem Methodenarsenal der alten und neuen Philologien zwischen Lachmann und Cerquiglini erfolgen. Die Wahl der Methode determiniere schließlich im Wesentlichen die Form der Präsentation – in der Regel entweder als einzelner Text mit Apparatanmerkungen oder als synoptische Wiedergabe unterschiedlicher Textfassungen, wobei gleichen Präsentationsformen durchaus unterschiedliche Methoden der Texterstellung zugrunde liegen können.

Ein Sach- und Personenregister, ein Handschriftenregister sowie ein kommentierendes Glossar aller verwendeten Fachbegriffe komplettieren den Band als ein ebenso handhabbares wie lehrreiches Fallbuch einer mediävistischen Editionswissenschaft. Nicht unerwähnt soll hier die schlichte Schönheit des rostroten Leineneinbands bleiben.

Caroline Macé prophezeit das Ende der Buchedition – auch wenn Editoren und Nutzer kritischer Textausgaben noch nicht dafür bereit zu sein scheinen (S. 264f.). Wenn das aber stimmt, dann muss man als eine Schwäche dieser Publikation sicherlich festhalten, dass digitalen Ansätzen nur wenig Raum gegeben wird. Dabei halten digitale Methoden und Formate gerade für massenhaft und in unterschiedlichen Fassungen überlieferte Gebrauchsliteratur neue Möglichkeiten bereit, Texte umfassend zu dokumentieren, in fortschreitender Tiefe zu erschließen und mit alternativen Zugängen zu versehen und zu publizieren. Für viele in den einzelnen Studien identifizierte methodische Probleme gibt es im Digitalen bereits vielversprechende Lösungsansätze. In den Katalogen von Patrick Sahle und Greta Franzini wachsen die Einträge zu digitalen Editionen lateinischer oder griechischer Texte des Mittelalters.2 Dedizierte Untersuchungen im Bereich der Digital Humanities und
Publikationen zu einer digitalen Mediävistik nehmen ebenfalls beständig
zu.3 Und so vermisst man auch im editorischen Kreismodell von Elisabeth Göransson die für die digitale Editorik konstitutive Trennung von Inhalt und Form. Denn zwischen Methodenwahl (c.) und Textpräsentation (d.) erfolgt die textuelle Erfassung und Anlagerung allen editorischen Wissens in Form von Daten und Datenmodellen, die unabhängig von jedweder möglichen Visualisierung oder Auswertung als Wissensrepräsentation vorgehalten werden.

Es sei der Triumph des Kodex am Beginn des Mittelalters gewesen – so Gunilla Iversen im Vorwort (S. IX–XI) – der den kommentierenden und interpretierenden Umgang mit autoritativen Werken begünstigte und die Produktion vor allem hermeneutischer Gebrauchsliteratur steigerte. Es mag in der Ironie der Geschichte oder – wahrscheinlicher noch – in der Natur der Sache begründet liegen, dass erst der Triumph digitaler Editionsformen über die des Buchformats eine adäquate dokumentarische und hermeneutische Erschließung komplexer in mittelalterlichen Kodizes überlieferter Texte ermöglichen wird.

Anmerkungen:
1 Robert Burchard Constantijn Huygens, Ars edendi. A Practical Introduction to Editing Medieval Latin Texts, Turnhout 2000.
2 Patrick Sahle, A Catalog of Digital Scholarly Editions, v 3.0, snapshot 2008ff, http://www.digitale-edition.de (09.11.2017); Greta Franzini, A Catalogue of Digital Editions, https://github.com/gfranzini/digEds_cat (09.11.2017).
3 Zuletzt etwa in dem Sonderband „The Digital Middle Ages“ der Zeitschrift Speculum, 92/S1 (Oktober 2017), freie Onlinefassung: http://www.journals.uchicago.edu/toc/spc/2017/92/S1 (09.11.2017); demnächst in dem Themenheft „Digitale Mediävistik“ der Zeitschrift Das Mittelalter, siehe hierzu die Ankündigung: http://www.hsozkult.de/event/id/termine-35249 (09.11.2017).

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