M. Carretero u.a. (Hrsg.): Research in Historical Culture and Education

Cover
Titel
Palgrave Handbook of Research in Historical Culture and Education.


Herausgeber
Carretero, Mario; Berger, Stefan; Grever, Maria
Erschienen
Basingstoke 2016: Palgrave Macmillan
Anzahl Seiten
856 S., 15 s/w Abb.
Preis
€ 189,98
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christine Gundermann, Historisches Institut, Universität zu Köln

Die vorliegende Publikation geht auf das internationale Forschungsseminar „New Perspectives on Historical Culture and Education“ zurück, das 2012 an der Autonomen Universität Madrid ausgerichtet wurde. Das Handbuch will mit 39 Beiträgen aus und über die USA, Kanada, Neuseeland, Australien, den Niederlanden, Deutschland, England, Belgien, Frankreich, Spanien, Dänemark, Portugal und Griechenland, aber auch Russland, der Ukraine, der Türkei, Marokko, Argentinien, China und Südkorea einen möglichst umfassenden internationalen Einblick in die neuesten Forschungen zur Geschichtskultur und Historischen Bildung leisten.

Die drei Herausgeber/innen haben sich der Herkulesaufgabe gestellt, diese verschiedenen Einsichten und die damit verbundenen unterschiedlichen Wissenschaftskulturen und aktuellen Forschungsfragen an Geschichtskultur und Historische Bildung in eine kohärente Form zu bringen, die der Titelbegriff „Handbuch“ als Kanonbildung evoziert. Dabei hilft vor allem die ausführliche Einleitung von über 30 Seiten, in der jeder Beitrag in seinen Thesen und teilweise im argumentativen Aufbau kurz vorgestellt wird.

Die „history education“ wird hier vor allem in Bezug zum Geschichtsunterricht untersucht. Dabei sehen die Herausgeber/innen einen deutlichen Konnex zwischen den Bedeutungen, die historischer Bildung in Gesellschaften zugedacht wird und den Ausformungen von Konzepten historischem Wissens und historischem Denkens. Beides wird jedoch nach Carretero, Berger und Grever noch viel zu oft ausschließlich innerhalb einzelner (geschichtswissenschaftlicher Sub-)Disziplinen verhandelt. Ziel der Herausgeber/innen ist es daher, den interdisziplinären Austausch zwischen Geschichtswissenschaft, Geschichtsphilosophie, Geschichtsdidaktik (history education) und populärer Geschichtskultur (popular historical culture) anzustoßen (S. 2). Dabei sollen neue Ansätze und Formen des Lehrens und Lernens von Geschichte, ebenso wie Forschungen zur Produktion und Rezeption von Lehrmaterialen wie Curricula, Geschichtsschulbücher, Webseiten oder andere neue Medien betrachtet werden. Die bereits angesprochenen vielfältigen geografischen Untersuchungsräume lassen dabei deutlich einen internationalen aber nur selten einen dezidiert vergleichenden, transnationalen oder verflechtenden Untersuchungsrahmen erkennen.

Die Herausgeber/innen haben sich für eine vierteilige Gliederung entschieden. Der erste Teil des Buches greift in zehn Beiträgen Konzepte und Theoretisierungen zentraler Begriffe wie Geschichtskultur, Geschichtsbewusstsein oder grundlegenden Phänomenen wie Zeit, Raum und Periodisierungen von Geschichte (Chris Lorenz) auf. Stefan Berger stellt in seinem Beitrag die Nation als maßgeblich strukturierendes Element der europäischen Geschichtswissenschaft seit ihrer Entstehung vor. Die damit entstehenden Meisternarrative, so die von ihm vertretene These, die auch eine Hauptinterpretationslinie des gesamten Bandes zu sein scheint, formen heute noch grundsätzlich historisches Lernen. Besonders spannend für Leser/innen, die im deutschen Sprachraum geschichtsdidaktisch sozialisiert wurden, sind die Beiträge von Maria Grever und Robbert-Jan Adriaansen zur Geschichtskultur oder Peter Seixas’ Explorationen des „Historical Consciousness and Historical Thinking“. Sie spiegeln (partikuläre) kritische Würdigungen, internationale Erweiterungen und Transformationen von Konzepten und damit Texten wider, die hier als Standardliteratur verstanden werden. Grevers und Adriaansens konzeptueller Entwurf einer eng mit erinnerungskulturellen Theorien verzahnten Geschichtskultur ist eine intensive Diskussion in der deutschsprachigen Geschichtsdidaktik zu wünschen. Leider widmet sich im ersten Teil kein Beitrag dem Kernbegriff des Handbuchs, der „historical education“, was für die Verortung des Handbuches hilfreich gewesen wäre, denn so bleibt offen, welchen Lern- oder „Vermittlungskonzepten“ von Geschichte eigentlich nachgegangen werden soll. Des Weiteren werden in diesem Abschnitt grundsätzliche Merkmale gegenwärtiger Geschichtskulturen herausgearbeitet und in diachrone Zusammenhänge gestellt, so etwa die Nutzung von Geschichte für „identity politics“ (Marisa Gonzáles de Oleaga) oder das in der Public History bisher vor allem unter Marketingaspekten diskutierte Konzept der „Viralität“ als Merkmal immer wieder aktualisierter Geschichte (Antonis Liakos und Mitsos Bilalis).

Der zweite Teil des Buches führt unter dem Titel „the Appeal of the Nation in History Education of Postcolonial Societies“ Stefan Bergers These fort und fragt nach den Bedeutungen der Nation in der historischen Bildung postkolonialer Gesellschaften. In vielen Beiträgen geht es vor allem um die Fragen, seit wann und in welchen Formen in den Bildungsmedien ehemaliger Kolonialstaaten postkoloniale Perspektiven zu erkennen sind, wie Susanne Grindel mit einer diachronen Skizze britischer und deutscher Schulgeschichtsbücher des letzten Jahrhunderts oder Nicole Tutiaux-Guillon mit einer Studie zur Veränderung französischer Curricula seit den 1970er-Jahren. Ebenso wird der Umgang dekolonialisierter Gesellschaften mit ihrem Kolonialerbe thematisiert, so etwa Norah Karrouche zur Konstruktion nationaler und ethnischer Identitäten im Maghreb und deren geschichtspolitischer Funktionen in marokkanischen Schulgeschichtsbüchern oder Sun Joo Kang über Veränderungen der südkoreanischen Erinnerungspolitik und Historiografie im 20. Jahrhundert, die als Konsequenz die Herausbildung eines „postcolonial consciousness“ (S. 346) fordert. Hercules Millas widmet sich mit einem verflechtungsgeschichtlichen Ansatz dem „Nation-Building“ Griechenlands und der Türkei über die Konstruktion historischer Identitäten am Beispiel von Schulgeschichtsbuch-Diskursen in beiden Staaten seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Dieser Teil präsentiert also vor allem historiografische Studien und damit einen internationalen Blick auf Rahmenbedingungen historischen Lernens im 20. Jahrhundert.

Den dritten Teil des Buches „Reflections on History Learning and Teaching“ widmen die Herausgeber/innen laut Einleitung (S. 16) vor allem Prozessen des „historical thinking“, also auch zentralen Konzepten wie historischer Problemlösung oder der „historical literacy“ als historischer Kompetenz. So diskutieren Alberto Rosa und Ignacio Bresco die Aufgaben historische Lernens in sozial instabilen Regionen/Situationen („fluid times“, S. 426) und identifizieren zentrale Fähigkeiten (skills), die historische Bildung in demokratischen Gesellschaften ausbilden soll. Helen Haste und Àngela Bermúdez folgen in ihrem Beitrag dem schwierigen Verhältnis von historischer und bürgerlicher Identität und argumentieren für eine starke Verbindung von „history education“ und „civic education“, die das Konzept des „New Civic“ für das historische Lernen erschließen soll. Keith C. Barton strebt ebenso einen transdisziplinären Dialog an, in dem er fünf Prinzipien exploriert, die Geschichts- und Sozialwissenschaften teilen. María Rodríguez-Moneo und Cesar Lopez stellen Forschungen zum „Conceptual Change“ (S. 467) vor, der aus intuitiven historischen Konzepten solche zweiter Ordnung werden lässt und plädieren überzeugend für die Stärkung des „concept learning“. Mario Carretero untersucht die Bedeutung nationaler Meistererzählungen für historisches Lernen und skizziert den Zusammenhang zwischen historischem Narrativ und der Konstruktion der (eigenen) Nation als vermeintlich naturalisierte, statische Entität. Lis Cercadillo, Arthur Chapman und Peter Lee fragen mit Hilfe des Begriffs des „historical account“ nach kognitiven Dispositionen bei Schüler/innen, die ihr grundlegendes Verständnis von Geschichte bestimmen.

Der vierte und letzte Teil des Buches widmet sich schließlich „Educational Resources: Trends in Curricula, Textbooks, Museums and New Media“. Hier sind neun Beiträge versammelt, die auf ausgewählte Medien historischen Lernens fokussieren. Side Wang, Yueqin Li, Chencheng Shen und Zhongjie Meng stellen für China und Hohwan Yang für Südkorea Veränderungen in der Schulbuchproduktion vor, Robert Maier diskutiert Konzepte und Umsetzungen binationaler Schulbücher und deren Wirksamkeit für Versöhnungsprozesse und die Friedenserziehung (peace education, S. 676) und Tatyana Tsyrlina-Spady und Michael Lovorn untersuchen geschichtspolitische Instrumentalisierungen von bildlichen Darstellungen in russischen Schulgeschichtsbüchern. Explizit widmen sich zwei Beiträge den neuen Medien: Stephan Klein stellt pädagogische Websites zum Thema Sklaverei in Europa vor und untersucht, inwiefern sich dadurch Lernende postkoloniale Perspektiven erschließen können und Terry Haydn sowie Kees Ribbens thematisieren in ihrem Beitrag vor allem generelle „Mythen“, die auf die neuen Technologien im Rahmen von Lehr- und Lernprozessen projiziert wurden. Mikel Asensio und Elena Pol stellen schließlich die sich verändernden Rollen des Museums im Laufe des 20. Jahrhunderts in den Fokus ihres Beitrages.

Zur Kritik: Die Nation(en), so zeigen die hier versammelten Beiträge, nehmen im Bereich des Historischen Lernens heute anscheinend weltweit einen Dreh- und Angelpunkt ein. Die von den Herausgeber/innen einleitend präsentierte These, „the idea of an eroding national framework still evokes fierce emotions and concerns for politicians, policymakers and the public at large“ (S. 2), positioniert das Verhältnis von Nation und Identität als gegenwärtig dringliches und problematisches, wobei gerade die Geschichtswissenschaft nicht nur als Erforscherin dieses Phänomens in historischer Perspektive verstanden wird, sondern ebenso als „major pillar“ der Konstruktion dieses nationalen Fokus in den Beiträgen präsent ist. So wird deutlich, warum die Nation als interpretative Rahmung einzelner Beiträge so wichtig ist. Dennoch bleiben Fragen offen, die sich einerseits um die hier beleuchteten Akteure und andererseits um die Kontur der Geschichtskultur drehen, die so in der Gesamtschau des Buches skizziert wird. So wird zwar das Konzept der „New Civics“ eingeführt, zivilgesellschaftliche, politische oder ökonomische Akteure und deren formelle und informelle Bildungsangebote werden aber in den einzelnen Beiträgen faktisch nicht beleuchtet. Die Struktur der „historical education“ bleibt damit zu einem großen Teil auf eine staatlich finanzierte begrenzt. Die Schulgeschichtsbuchforschung nimmt viel Raum im Buch ein, dennoch widmet sich nur ein Beitrag grenzüberschreitenden Projekten, und Leuchtturmprojekte wie das europäische Geschichtsbuch werden nicht beleuchtet.

Der Band widmet sich zu großen Teilen der Diskussion von Geschichtspolitik in Curricula und Geschichtsschulbüchern. Die damit einhergehende Beschränkung auf Schüler/innen als Zielgruppe historischer Bildung erscheint so als implizit gegeben und damit außerhalb eines Reflexionsprozesses. Warum im Band populäre Formen von Geschichte einen so geringen Raum bei der Konstruktion von Geschichtskultur einnehmen, wird auch mit dem Verweis auf formelle historische Bildung nicht wirklich nachvollziehbar, nutzen doch immer mehr Träger historisch-politischer Bildung spezifische Medien, um Geschichte gemeinsam mit Lernenden zu kommunizieren und zu rekonstruieren. Auch werden Lernorte jenseits der Schule wie etwa Gedenkstätten nicht systematisch betrachtet. Eine deutlich herausgestellte Reflexion auf das Verhältnis von Medien historischen Lernens und deren Materialität wäre ebenso wünschenswert gewesen. Das verweist international auf eine immer noch deutliche Beschränkung der Erforschung der „historical education“ auf schulische Kontexte und den impliziten Fokus auf Gedrucktes. Dafür sprechen nicht zuletzt die in vielen Beiträgen zu findenden Verweise auf Erinnerungskulturen und Erinnerungspraxen, wenn Prozesse außerhalb dieses formalen Lernens angesprochen werden.

Die hier genannten Kritikpunkte entzünden sich daher vor allem an einer fehlenden Begründung der Auswahl der genannten Beiträge, die auch die viergliedrige Teilung des Buches nicht zu leisten vermag. Wenn gegenwärtig vor allem politische und die Identität betreffende Themen im Fokus (inter)nationaler Diskurse stehen, so bleibt die Frage offen, wie hier jenseits von nationalen und postkolonialen Fragestellungen zum Beispiel mit Diversität und Genderfragen und in pädagogischer Konsequenz mit Inklusion umgegangen wird.

Das Handbuch vermag einen guten Einblick in die vielfältigen Forschungen zu Geschichtspolitik, Geschichtsdidaktik und Schulbuchforschung in den verschiedensten Teilen der Welt zu geben und erschließt einführend vor allem durch seinen dritten Teil internationale Diskurse zu Konzepten und Prinzipien historischen Lernens für die deutsche Geschichtsdidaktik und Public History. Aus diesen Gründen ist es eine große Bereicherung für die in Deutschland geführten Diskurse, die in den letzten Jahren ebenso eine internationale Öffnung anstreben und an den im Buch geleisteten transdisziplinären Analysen positiv partizipieren können. Eine Kanonbildung, wie sie der Titel des Handbuches evoziert, können jedoch weder die Herausgeber/innen noch die einzelnen Beiträge leisten.

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