T. Bounas: Die Kriegsrechtfertigung in der attischen Rhetorik

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Titel
Die Kriegsrechtfertigung in der attischen Rhetorik des 4. Jh. v. Chr.. Vom Korinthischen Krieg bis zur Schlacht bei Chaironeia (395–338 v. Chr.)


Autor(en)
Bounas, Thomas
Reihe
Prismata 21
Erschienen
Frankfurt am Main 2016: Peter Lang/Frankfurt am Main
Anzahl Seiten
605 S.
Preis
€ 99,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Katharina Kostopoulos, Historisches Institut, Universität zu Köln

Thomas Bounas macht es sich in seiner Dissertation zur Aufgabe, die athenischen Reden im Zeitraum von 395 bis 338 v.Chr. hinsichtlich der Kriegsrechtfertigung und der Begründung der Aufforderung zum Krieg zu analysieren.1 Dabei erfolgt die Kategorisierung der unterschiedlichen Gesichtspunkte der Einteilung des Anaximenes von Lampsakos, der gefordert hatte, dass das Argument eines Redners dem díkaion, nómimon, sumféron, kalón, rádion oder dunatón entsprechen sollte. „In diesem Sinne konnte ein Krieg mit Bezug auf das formale Recht, das Gerechte im sozialethischen Sinne, den ethischen Aspekt, den zu gewinnenden materiellen und machtpolitischen Nutzen sowie mit Bezug auf die Durchführbarkeit und Erfolgsaussichten des Krieges begründet werden“ (S. 27). Weitere Teilfragen betreffen die Kriegsrechtfertigung gegenüber unterschiedlichen Adressaten, die „eigentliche Triebkraft“ (S. 28) hinter der Argumentation, die Rolle des jeweiligen historischen Hintergrunds, die persönliche bzw. politische Ausgangsposition des Redners, die Unterschiede hinsichtlich der Redegattungen sowie die zusammenfassende Frage, ob sich ein einheitliches Modell oder ein bestimmtes Konzept der Kriegsrechtfertigung ausmachen lasse.

Als Analysegrundlagen nutzt Bounas die epideiktischen und symbouleutischen Reden des Andokides, Lysias, Isokrates und Demosthenes, die einen Bezug zur gewählten Thematik aufweisen. Dies hat zur Folge, dass die Abschnitte zu den beiden erstgenannten Rhetoren sehr viel kürzer ausfallen und die Untersuchungen zu Isokrates und Demosthenes einen Großteil der Arbeit ausmachen (Andokides und Lysias: S. 35–95; Isokrates und Demosthenes: S. 97–459). Ob man auf dieser Grundlage von einem „repräsentativen Bild der attischen Rhetorik“ sprechen kann, wie Bounas es optimistisch formuliert (S. 29), darf man bezweifeln. Sicherlich können aber aufgrund der unterschiedlichen Tätigkeiten und den differenzierten politischen Einstellungen der vier Redner die verschiedenen Aspekte der Thematik deutlich werden.

Die vier Teile der Untersuchung beschäftigen sich jeweils mit der Argumentation eines Redners und behandeln die einzelnen Reden in chronologischer Folge. Lediglich die demosthenischen Reden sind unter thematischen und chronologischen Aspekten zu Gruppen zusammengefasst. Den Kapiteln vorangestellt sind kurze, prägnante Einführungen zu Biografie und politischer Einstellung des Redners sowie zum jeweiligen historischen Hintergrund der Rede. Diese sind so zugeschnitten, dass es trotz chronologischer Überschneidungen etwa zwischen den Reden des Isokrates und des Demosthenes kaum zu Wiederholungen kommt.

In der Friedensrede des Andokides werden durch die Argumente für den Frieden, aber auch durch die angenommenen Argumente der Kriegsbefürworter Möglichkeiten der Kriegsrechtfertigung deutlich. Dabei wird immer wieder die große Popularität der Argumente der Gegenseite augenscheinlich, denen die Fortsetzung des Korinthischen Krieges als „einziges Mittel zur Vernichtung der spartanischen Macht und zur Wiederaufrichtung der attischen Hegemonie“ (S. 65) galt. Dementsprechend konnte sich Andokides mit seinen Vorschlägen auch nicht durchsetzen.

Lysias setzt sich in zwei Reden mit der Kriegsrechtfertigung auseinander (or. 2 und 33). Während im Epitaphios eine Fortsetzung des Korinthischen Krieges vor allem auf der Grundlage einer „überzeitlichen Mission Athens“ (S. 85) befürwortet wird, die besonders in der Hilfe für die Unrecht Leidenden bestehe, so wird im Olympiakos vor dem Hintergrund einer veränderten historischen Ausgangslage ein schnelles Ende dieses Krieges gefordert. Gerechtfertigt seien aber (zukünftige) Kriege gegen auswärtige Feinde zum Ziele der Rettung und Verteidigung der eigenen Freiheit und – wie im Falle der Perser – unter Anwendung des Vergeltungsprinzips für das in den Perserkriegen des 5. Jahrhunderts erlittene Unrecht.

Im Abschnitt zu Isokrates werden acht Reden untersucht, deren zentrale Aussagen an dieser Stelle nur kursorisch wiedergegeben werden können. Ein zentrales Anliegen des Isokrates ist die Beförderung eines panhellenischen Krieges gegen die Perser, auch zum Zweck der Herstellung der Einheit zwischen den griechischen Poleis. Die Notwendigkeit dieses Krieges wird durch seine Darstellung als Befreiungskrieg sowie als Hilfeleistung für Schwächere mit Bezug auf mythische und historische Ereignisse begründet. In einem zweiten Schritt werden als Rechtfertigung oft auch konkret materielle und machtpolitische Vorteile genannt, insbesondere die erneute Hegemonie Athens. Darüber hinaus können die moralische Notwendigkeit eines Krieges als ethischer Aspekt der Argumentation und die guten Erfolgsaussichten eine Rolle bei der Kriegsrechtfertigung spielen. Als methodisch problematisch ist Bounas’ Versuch zu werten, konkrete Auswirkungen dieser Argumente auf das politische Tagesgeschehen zu ermitteln. Gerade in Hinblick auf Isokrates, dessen Reden nur schriftlich publiziert wurden, ist es schwierig, Schlussfolgerungen dieser Art zu ziehen, zumal die genaue Verbreitung dieser Reden nicht nachvollzogen werden kann. So ist es beispielsweise fraglich, ob Isokrates durch den Panegyrikos „bewusst oder unbewusst die Voraussetzungen für das Entstehen des Zweiten Attischen Seebundes im Jahre 378/7 zu Gunsten Athens beeinflusst“ hat (S. 166). Aufgrund der Quellenlage kann die Frage, ob bestimmte Reden entscheidend dazu beigetragen haben, Kriege zu führen oder zu vermeiden, meist nicht beantwortet werden. Schlüssig gelingt Bounas dies indes für die Rhodierrede des Demosthenes (S. 345).

Gerade die frühen Volksversammlungsreden des Demosthenes orientieren sich an der „Realpolitik“ und argumentieren vor allem mit dem Nutzen für Athen, insbesondere in Hinblick auf eine erneute Vormachtstellung der Polis. Diese Argumentation richtet sich dann in den weiteren Reden zunehmend gegen Philipp von Makedonien, in denen der Krieg gegen den König als „unausweichlich, nützlich und moralisch“ dargestellt wird (S. 376). In den Reden, die zwischen 344 und 341 gehalten wurden, ist vor allem der formell-sachliche Bezug zum Philokratesfrieden auffällig, der entweder inhaltlich kritisiert oder zum Gegenstand eines Vertragsbruchs durch Philipp gemacht wird. Darüber hinaus sind aber machtpolitische Fragen entscheidend. Als berechtigter Kriegsgrund wird immer wieder der Kampf um die Suprematie zwischen Athen und Makedonien genannt, der unter dem Schlagwort der prostasía für Athen entschieden werden muss. Der Verfassungsgegensatz zwischen (athenischer) Demokratie und (makedonischer) Tyrannis wird zusätzlich zur Kriegsrechtfertigung eingesetzt.

Bounas kommt zu dem Schluss, dass trotz aller Unterschiede hinsichtlich der innen- und außenpolitischen Verhältnisse, der sozio-ökonomischen Lage der Polis, der machtpolitischen Ziele und Interessen, der Person und Intention des Redners sowie der Redegattung und der konkreten Ausrichtung der Rede ein weitgehend einheitliches Modell der Kriegsrechtfertigung ausgemacht werden könne. Dieses könne in zwei Oberkategorien eingeteilt werden, nämlich einerseits die formal und sachlich abgesicherten und andererseits die situativ bedingten und einseitigen Begründungen. Die formal und sachlich abgesicherten Begründungen basierten vor allem auf bestehenden Friedens- und Symmachieverträgen sowie auf ungeschriebenem Recht und Rechtsgefühl. Die Argumente reichten von der Ungerechtigkeit eines bestehenden Vertrages bis hin zum Vertragsbruch. Gefordert werden konnten in diesem Zusammenhang die Zurückeroberung ursprünglichen eigenen Territoriums, der Schutz der Freiheit Athens bzw. aller Hellenen sowie die Hilfeleistung für andere Poleis. Maßgebendes Argument der situativ bedingten, einseitigen Begründung einer Kriegsrechtfertigung war der Nutzeffekt des Krieges, daneben der Rache- oder Verteidigungskrieg gegen Barbaren, der Rachekrieg gegen Hellenen, der Krieg um die Vormachtstellung in Hellas, der Erhalt des Mächtegleichgewichts, die Durchführbarkeit und der erhoffte erfolgreiche Ausgang des Krieges sowie Ruhm und Ehre, die durch den Krieg gewonnen werden konnten. Gerade hier spielte die Argumentation mit mythischen und historischen Ereignissen und die Aufforderung zur Nachahmung der Vorfahren eine tragende Rolle. Bei der Frage nach der Reaktion auf die Argumente sei neben dem konkreten Einfluss auf Gremien und Staatsmänner – der aufgrund der Quellenlage auch nicht immer ausgemacht werden kann – insbesondere wichtig, dass durch die genannten Inhalte der „Zeitgeist des athenischen Publikums“ aufgenommen und widergespiegelt werde (S. 533).

Ein umfangreiches Literaturverzeichnis und ein Quellenregister runden die Untersuchung ab. Etwas verwunderlich ist, dass die grundlegende Untersuchung von Josiah Ober zur attischen Rhetorik keine Aufnahme in die Literaturliste gefunden hat.2 Terminologisch problematisch ist die Aussage von Bounas, die Kriegsrechtfertigung „anhand historischer Exempla“ (S. 33) analysieren zu wollen, auch die Zusammenfassung und Auswertung soll laut Überschrift auf diese Weise erfolgen. Da aber der Begriff des historischen Exemplums gerade in der (römischen) Rhetorik eine bestimmte Argumentationsweise mit Ereignissen und Personen der Vergangenheit meint, wäre hier zumindest eine Erklärung notwendig, wie genau der Begriff verstanden werden soll.

Insgesamt handelt es sich aber um eine inhaltlich stimmige, argumentativ überzeugende Untersuchung, die einen wichtigen Aspekt der Reden des 4. Jahrhunderts v.Chr. beleuchtet und allen mit der Thematik Vertrauten zur Lektüre empfohlen werden kann.

Anmerkungen:
1 Hierbei stützt Bounas sich vor allem auf Peter Hunt, War, Peace and Alliance in Demosthenes’ Athens, Cambridge 2010, der sich auf Basis der attischen Reden von 354 bis 330 mit den Einstellungen der Athener gegenüber Krieg und Frieden befasst. Auf die Bedeutung der Thematik weisen auch zahlreiche Sammelbände hin, stellvertretend seien hier genannt: Philip De Souza / John France (Hrsg.), War and Peace in Ancient and Medieval History, Cambridge 2008; Kurt Raaflaub (Hrsg.), War and Peace in the Ancient World, Oxford 2007. Weitere Titel bei Bounas 2016, S. 23, Anm. 23.
2 Josiah Ober, Mass and Elite in Democratic Athens, Princeton 1989. Auch zum Thema der Vergangenheitsbezüge fehlen einige Untersuchungen: Karl Jost, Das Beispiel und Vorbild der Vorfahren bei den attischen Rednern bis Demosthenes, Paderborn 1936; Maria Osmers, „Wir aber sind damals und jetzt immer die gleichen“. Vergangenheitsbezüge in der polisübergreifenden Kommunikation der klassischen Zeit, Stuttgart 2013; Bernd Steinbock, Social Memory in Athenian Public Discourse. Uses and Meanings of the Past, Ann Arbor 2012.

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