K. Thakur-Smolarek: Der Erste Weltkrieg und die polnische Frage

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Titel
Der Erste Weltkrieg und die polnische Frage. Die Interpretationen des Kriegsgeschehens durch die zeitgenössischen polnischen Wortführer


Autor(en)
Thakur-Smolarek, Keya
Erschienen
Berlin 2014: LIT Verlag
Anzahl Seiten
XVI, 638 S.
Preis
€ 69,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Daniel Benedikt Stienen, Humboldt-Universität zu Berlin

Es gehört zu den erfreulichen Begleiterscheinungen des Weltkrieg-Zentenariums, dass die Geschichtsforschung neben anderem auch zur Rolle Polens im „Großen Krieg“ Neues beizutragen weiß. Galt der östliche Kriegsschauplatz vor einem guten Jahrzehnt noch als „die vergessene Front“1, so kann der geneigte Leser heutzutage auf eine Vielzahl neuer Erscheinungen zurückgreifen, um sich über Kriegsverlauf und Besatzungsalltag im geteilten Polen zu informieren. Ein besonderes Augenmerk hat dabei die Presse erfahren. Zeitungen und Broschüren waren – der kriegsbedingten Zensur zum Trotz – die zeittypischen Kommunikationsmedien, um sich über eine politisch ungewisse Zukunft zu verständigen. Die deutschsprachige Presse, unter deren Protagonisten nicht wenige polnische Vertreter zu finden sind, hat Robert Spät in seiner 2014 veröffentlichten Studie ausgewertet.2 Sozusagen das polnischsprachige Pendant dazu stellt die im gleichen Jahr publizierte und bereits 2010 an der Ruprecht-Karls-Universität in Heidelberg eingereichte Dissertation von Keya Thakur-Smolarek dar.

Thakur-Smolareks Thema sind die in Zeitungen und Flugblättern verbreiteten Deutungsangebote des aktuellen Kriegsgeschehens durch führende Vertreter der polnischen Öffentlichkeit. Für diese sowohl regional als auch sozial fragmentierte Öffentlichkeit formuliert Thakur-Smolarek die Grundannahme, der Weltkrieg sei für die polnische Bevölkerung in allen drei Teilungsgebieten ein grenzüberschreitendes, Gemeinschaft stiftendes Erlebnis gewesen. Vier Fixpunkte werden ausgemacht, an denen sich die Zeitungsartikel orientierten: Diese sind das der Zeitung zugrundeliegende politische Programm, der aktuelle Kriegsverlauf, die Besatzungspolitik und zuletzt die Haltung der Mittelmächte und ihrer Kriegsgegner gegenüber den Forderungen der polnischen Nationalbewegung. Die Quellenauswahl erfolgt anhand qualitativer Kriterien. Sie erstreckt sich über alle drei Teilungsgebiete (Russland, Österreich-Ungarn, Deutsches Reich), besitzt aber einen unübersehbaren Fokus auf Kongresspolen. Dies erscheint insofern plausibel, als dass das russische Teilungsgebiet die größte polnische Bevölkerung umfasste und sich auch das Kriegsgeschehen auf dieses Gebiet konzentrierte.

Die Arbeit folgt in fünf chronologisch geordneten Kapiteln dem Kriegsverlauf. Als Zäsuren, an denen sich die Kapitelabfolge orientiert, dienen der Kriegsausbruch im Sommer 1914, die Eroberung Kongresspolens durch die Mittelmächte im August 1915, die Proklamation des Königreichs Polen im November 1916, die russische Februarrevolution 1917 und schließlich der Friede von Brest-Litowsk im Frühjahr 1918. Dass nicht erst das Kriegsende als Schlusspunkt des Untersuchungszeitraumes gewählt wurde, mag überraschen.

Zu Beginn des Krieges war eine loyale Haltung der Wortführer zu ihren jeweiligen Teilungsmächten vernehmbar. Doch die in allen drei Gebieten gehegte Hoffnung, mit Hilfe der eigenen Besatzungsmacht die polnische Nation zu einigen, erhielt durch das mitunter rücksichtslose Vorgehen gegen die polnische Zivilbevölkerung durch alle drei kriegführenden Staaten schon bald einen merklichen Dämpfer. Nachdem das russische Teilungsgebiet von den Mittelmächten erobert worden war, erhielten die dort zuvor unterdrückten sozialistischen Gruppen Aufwind, während die russlandfreundlichen Nationaldemokraten in die Defensive gerieten und sich abwartend verhielten. Die anschließende massive wirtschaftliche Ausbeutung Kongresspolens durch die Mittelmächte musste auf Kritik stoßen und ließ an dem Willen der Mittelmächte an einer Verbesserung der polnischen Lage zweifeln. Geringfügige Zugeständnisse in der Kulturpolitik und der kommunalen Selbstverwaltung, die in der Proklamation des Königreichs Polen gipfelten – jedoch ohne König und ohne klar definierte Grenzen – vermochten daran kaum etwas zu ändern. Hinzu trat die von polnischer Seite aufmerksam beobachtete Annexionsdebatte im Deutschen Reich und die nur widerwillige Aufhebung einiger antipolnischer Ausnahmegesetze in Preußen. Bis Mitte 1917 war auch der austropolnische Plan einer polnischen Teilautonomie im Habsburgerreich begraben worden. Stattdessen hatte sich die Forderung nach einem eigenständigen polnischen Staat allerorten durchgesetzt. Dass mit dem Frieden von Brest-Litowsk der Ukraine Gebiete zugesprochen wurden, die als polnisch angesehen wurde, stellte nur das letzte Glied in einer langen Reihe von Enttäuschungen dar.

Die beinahe unüberschaubare Polyphonie der polnischen Meinungsführer schlug sich auch in immer wieder neuen Zusammenschlüssen und Spaltungen der politischen Organisationen nieder, deren Sprachrohre die Zeitungen gewesen sind. Bei allen Unterschieden glichen sie sich darin, dass die einigenden Momente der Koalitionäre betont wurden, während die Aushandlung des Trennenden auf die Zukunft verschoben wurde. Dabei wird deutlich, dass die programmatischen sozialpolitischen Anschauungen der jeweiligen Akteure lediglich einen Aspekt darstellen, der die Entscheidung für den kooperativen „Aktivismus“ oder den oppositionellen „Passivismus“ gegenüber den Teilungsmächten beeinflusste. Als mindestens genauso einflussreich muss die keineswegs geradlinig verlaufende, sondern um dilatorische Lösungen ringende Besatzungspolitik angesehen werden. Wog bei Kriegsausbruch noch die Hoffnung auf eine Einigung Polens unter Vorherrschaft der jeweiligen Teilungsmacht vor, hatte sich – so die Kernaussage der Arbeit – durch das gemeinsam erlebte Kriegsleiden bei allen polnischen Gruppierungen bis zum Frieden von Brest-Litowsk die Forderung nach staatlicher Unabhängigkeit nicht nur als fernes Wunschziel, sondern als Notwendigkeit durchgesetzt.

Die Arbeit ist nah an den Quellen geschrieben und greift auf eine breite Materialbasis zurück. Insgesamt wurden 29 politisch gebundene Zeitungen und eine ungenannte Zahl von Flugblättern ausgewertet. Die konsequente doppelte Wiedergabe der Zeitungsartikel im polnischen Original und in der deutschen Übersetzung erleichtert den Zugang zum Quellenmaterial. Gleichwohl hätte sich hier und da eine Straffung der detailreichen, bisweilen redundanten Ausführungen positiv auf die Lesbarkeit ausgewirkt. Einen besonderen Gewinn stellt die Arbeit an den Stellen dar, an denen sie Techniken der Zeitungen offenlegt, die Kriegszensur zu umgehen (z.B. S. 107f., 231). Ein Glossar mit Schwerpunkt auf den verschiedenen Organisationen und Publikationsorganen erleichtert dem Leser die Orientierung angesichts der im untersuchten Zeitraum häufig stattfindenden Fusionen und Sezessionen polnischer Organisationen; ein Register hätte die Orientierung zusätzlich erleichtert. War die Idee der polnischen Nation als eine grenzüberschreitende Schicksalsgemeinschaft ein reines Elitenprojekt oder erfasste sie breitere Bevölkerungsschichten? Vermutlich letzteres, wie beispielsweise anhand der Lieferung von Hilfsgütern zwischen den Teilungsgebieten nahegelegt wird. Dennoch hätte man sich eine tiefergehende Analyse der Wirkmacht solcher Solidarisierungsappelle gewünscht. Bis zum Schluss bleibt unklar, wie Thakur-Smolarek die von ihr untersuchte Personengruppe der „Wortführer“ definiert und sie von anderen Gruppen abgrenzt. Wenn sie zu Beginn ihrer Arbeit nach längeren Ausführungen zum Begriff der „öffentlichen Meinung“ festhält, dass „die Träger der öffentlichen Meinung, darunter die Wortführer und Meinungsmacher, […] wichtige Teile einer politisch fungierenden Öffentlichkeit [sind]“ (S. 22), muss man zu dem Schluss gelangen, dass es weitere Trägergruppen gibt. Doch bleibt das Verhältnis dieser Wortführer zu anderen politischen Akteuren und ihre wechselseitige Beeinflussung bisweilen unscharf. Es muss ferner offenbleiben, inwiefern der mediale Diskurs lediglich eine regionale Integration zu leisten vermochte, während soziale Differenzen über die Ausgestaltung des neu zu errichtenden Staates weiterhin desintegrativ wirkten. Gleichwohl belegt die Untersuchung, mit welch hoher Sensibilität die polnische Öffentlichkeit das wechselnde Kriegsglück der Teilungsmächte verfolgte und die Pläne für eine mögliche polnische Autonomie dementsprechend anpasste.

Insgesamt ist Thakur-Smolarek eine überzeugende und beeindruckend materialreiche Analyse des breiten politischen Spektrums der polnischen Öffentlichkeit gelungen. Jedes Kapitel wird mit einer kurzen Darstellung der Kriegshandlungen und der Besatzungspolitik eingeführt, ehe anschließend die sich darauf beziehenden Zeitungsartikel analysiert werden. Dadurch ist die Arbeit auch für Einsteiger in das Thema „Polen im Ersten Weltkrieg“ geeignet. Man darf hoffen, dass diese Studie weitere Untersuchungen dazu anregt, wie die vermittelten Deutungsangebote in den unterschiedlichen Rezipientenkreisen der Öffentlichkeit auf- und angenommen wurden.

Anmerkungen:
1 Gerhard P. Groß (Hrsg.), Die vergessene Front. Der Osten 1914/15. Ereignis, Wirkung, Nachwirkung (= Zeitalter der Weltkriege 1), Paderborn 2006.
2 Robert Spät, Die „polnische Frage“ in der öffentlichen Diskussion im Deutschen Reich, 1894–1918, Marburg 2014.

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