H. Pöttker u.a. (Hrsg.): Mühen der Moderne

Cover
Titel
Mühen der Moderne. Von Kleist bis Tschechow – deutsche und russische Publizisten des 19. Jahrhunderts


Herausgeber
Pöttker, Horst; Stan’ko, Aleksandr I.
Reihe
Öffentlichkeit und Geschichte 9
Erschienen
Anzahl Seiten
546 S.
Preis
€ 34,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Arkadi Miller, Osteuropa-Institut, Freie Universität Berlin

Um mediale Prozesse besser verstehen zu können, hat die Geschichtsschreibung drei unterschiedliche Akteursgruppen ins Auge gefasst. Neben Medienkonsument/innen stehen politische Entscheidungsträger/innen und Medienproduzent/innen – Herausgeber/innen, Redakteur/innen, Journalist/innen und Publizist/innen – im Fokus der Forschung.1 Mit den Letzteren befasst sich der vorliegende Band. Dem Leser werden 14 Einzelportraits von schreibenden Intellektuellen aus den deutschen Staaten und dem Russländischen Imperium geboten. Die meisten dieser „Publizisten des 19. Jahrhunderts“, wie es im Untertitel heißt, sind vor allem als Schriftsteller bekannt. Heinrich von Kleist im ersten Beitrag (Gunter Reus) und Anton Čechov im letzten (Aleksandr Stan‘ko) markieren die Vorstellung der Herausgeber eines „langen“ 19. Jahrhundert. Abgesehen von diesen beiden werden Ludwig Börne, Heinrich Heine, Aleksandr Puškin, Karl Gutzkow, Aleksandr Gercen, Georg Büchner, Theodor Fontane, Fedor Dostoevskij, Georg Weerth, Michail Saltykov-Ščedrin, Lev Tolstoj sowie Vladimir Korolenko untersucht. Diese Aufzählung entspricht der chronologischen Anordnung der Portraits im Band. Alle Beiträge sind parallel auf Deutsch und Russisch nachzulesen, wobei jeder besprochene Autor mit einem Bild vorgestellt wird. Die Herausgeber verzichten auf eine Einleitung und versuchen ihre Text- und Themenwahl in einem knapp zweiseitigen Vorwort zu begründen, was ihnen allerdings misslingt: Die sehr unterschiedlichen Texte aus verschiedenen Disziplinen und die weite Zeitspanne lassen zu viele Fragen offen.

Die Ausgangsidee ist jedoch so simpel wie einleuchtend: biografisch soll untersucht werden, wie die einzelnen Schriftsteller ein „publizistisches Bewusstsein“ (S. 12) entwickelten und sich beruflich in der Gesellschaft positionierten. Die Entwicklung des Journalismus verorten die Herausgeber im Kontext der Modernisierung und sehen ihn gleichzeitig als Voraussetzung und Folge der Genese moderner Gesellschaften. Die Konzentration auf deutsche und russische Autoren wird durch den Verweis auf das einende Charakteristikum der „verspäteten Nationen“ (S. 14) begründet, wobei der Begriff unzureichend erläutert wird und lediglich als Label firmiert. Kein Beitrag stellt die Frage nach der Eigenwahrnehmung der Publizisten als Teilnehmer an vermeintlich verspäteten Nationalisierungsprozessen.

Die Zweisprachigkeit des Bandes macht die Forschungsarbeit einem breiteren Publikum zugänglich. Dadurch wird die wiederholte Forderung der area studies nach Forschung zu einer Region mit Wissenschaftler/innen aus derselben praktisch umgesetzt. Jedoch bleibt der Anspruch der Interkulturalität (S. 14) uneingelöst, wenn deutsche und russische Forscher/innen in ihren Texten nur Publizisten aus dem jeweils eigenen Raum fokussieren. Auch die beabsichtigte Interdisziplinarität (S. 14) kommt zu kurz, weil die Beiträge (auch angesichts der nicht vorhandenen Einleitung) nicht zueinander in Bezug gesetzt werden, sodass der Austausch zwischen ihnen ausbleibt.

Wenn die Herausgeber im Titel den Begriff „Publizisten“ benutzen, wird er in den Beiträgen durch „Journalisten“ (S. 20, 92), „Zeitschriftsteller“ (S. 72, 164) und „schriftstellerischen Journalismus“ (S. 172) ergänzt. Diese begriffliche Mehrdeutigkeit verweist einmal mehr auf die unklare berufliche Position der untersuchten Personen, wirft jedoch auch die Frage nach dem gemeinsamen Nenner und somit ihrer Auswahl für den vorliegenden Band auf. Auffällig ist der kanonische Status der besprochenen Schriftsteller-Publizisten, der in mehreren Texten zur Begründung für die Auseinandersetzung mit der jeweiligen Person dient (S. 218, 492). Dem ursprünglichen Ziel der Untersuchung von publizistischen Selbstverständnissen ist dies nicht dienlich, zumal die bestehende Forschung weitgehend außer Acht gelassen wird, wie die sehr kurzen Literaturverzeichnisse belegen. Zumindest im Falle der russischen Journalisten waren es weniger die im vorliegenden Band besprochenen Vertreter der Adelsschicht, sondern vielmehr Männer und Frauen (!) aus der verarmten Mittelklasse, die Mitte des 19. Jahrhunderts ein Berufsbewusstsein entwickelten und den Journalismus professionalisierten, um sozial aufzusteigen.2

Einen Katalog für die Einordnung von Publizisten als moderne Journalisten bietet der Beitrag zu Heinrich Heine von Horst Pöttker. Dies füllt zumindest teilweise die Lücke der fehlenden Einleitung. Im Kernpunkt seiner Argumentation steht die These, dass eine zunehmende Parzellierung der Gesellschaft im Prozess der Modernisierung die Herstellung einer Öffentlichkeit erforderte, was zur Professionalisierung von Journalisten führte, die im „Unabhängigkeitsstreben“ (S. 102) von anderen Interessen ihre Aufgabe darin sahen, Öffentlichkeit im Sinne einer „Transparenz der gesellschaftlichen Verhältnisse“ herzustellen. Dem modernen Journalisten stellt Pöttker den Gesinnungsjournalisten entgegen, der aus anderen Verdienstquellen schöpft, sich mit der Zensur arrangiert, sein Publikum als unmündig erachtet und deshalb Informationen vorenthält und letztendlich einem Wahrheitsbegriff folgt, der maßgeblich von Überzeugung und politischer Gesinnung geprägt ist. Zwischen diesen Polen verortet er Heinrich Heine, der zum Ende seines Lebens der Leserschaft immer mehr Respekt zollte und sich finanziell sowie stilistisch zunehmend professionalisierte und in diesem Sinne als Journalist immer moderner wurde.

Allerdings bleibt die Frage offen, ob dieser Katalog der Modernisierung durch Journalismus auch auf die Publizisten aus Russland zutrifft. Die bereits erwähnte Untersuchung des Werks von Aleksandr Puškin durch Stan‘ko zeigt, wie er in seinen Feuilletons moralische Fragen der publizistischen Arbeit sowie die „Beziehung des Schriftstellers zur Macht und zur öffentlichen Meinung“ (S. 150) verhandelte. Puškin erscheint so eher als Gesinnungsjournalist, der in seinen Texten eindeutige politische Meinungen vertrat und persönliche Rechnungen mit seinen Widersachern beglich. Da der Autor in seiner Analyse jedoch weniger auf Puškins Biografie eingeht, bleibt der titelgebende Aspekt des Verhältnisses von Modernisierung und Publizisten-Persönlichkeit außer Acht.

Der fehlende Bezug zum Thema der Modernisierung und der Entwicklung des journalistischen Betriebs lässt sich für fast alle Beiträge der russischen Forscher/innen feststellen. Der Beitrag zur satirischen Publizistik von Michail E. Saltykov-Ščedrin (Boris Esin) entpuppt sich gar als nahezu unveränderte Übernahme eines Kapitels aus einer bereits 1963 erschienenen Überblicksdarstellung zur Geschichte der russischen Journalistik, an der derselbe Autor mitgewirkt hat.3

Den nationalen Rahmen durchbricht die Untersuchung zu Aleksandr Gercen (Ludmila Gromova). Die Autorin untersucht ihn im Kontext des internationalen publizistischen Betriebs und zeigt, wie Gercen die informellen Publikationsmechanismen nutzte, um ungeachtet der Zensur an der russischen Öffentlichkeit teilzuhaben. Durch seine publizistische Tätigkeit für französische Zeitungen versuchte er Russland dem Publikum in Westeuropa näherzubringen und das „Besondere“ (S. 226) daran zu erklären. Aus verflechtungshistorisch-biografischer Sicht stellt sich die weiterführende Frage, inwiefern Gercen als Publizist Russland in den europäischen Modernisierungs- und Nationalisierungsprozess einzubinden vermochte.

Aus den im Buch versammelten Kurzbiografien wird die aktive Rolle der Protagonisten für eine entstehende Publizistik deutlich: In Modernisierungsprozessen waren sie nicht nur passive Marionetten, sondern gestaltende Akteure, die mit ihrem Wirken die Ausbildung einer gebildeten Öffentlichkeit förderten. Deshalb sei der Band vor allem denjenigen zur kritischen Lektüre ans Herz gelegt, die sich mit der Moderne, der Rolle der Medien und ihrer Macher/innen beschäftigen.

Anmerkungen:
1 Vgl. Julia Metger, Studio Moskau. Westdeutsche Korrespondenten im Kalten Krieg, Paderborn 2016; vgl. die Rezension von Jörn Happel, in: H-Soz-Kult, 27.10.2016, www.hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuecher-25530 (19.12.2016).
2 Louise McReynolds, The News under Russia’s Old Regime. The Development of a Mass-Circulation Press, Princeton 1991.
3 A. V. Zapadov (Red.), Istorija russkoj žurnalistiki XVIII – XIX vekov, Moskau 1963, hier S. 418–428.