Cover
Titel
Eigensinn im Einheitsstaat. NS-Schulpolitik in Württemberg, Baden und im Elsass 1933–1945


Autor(en)
Finger, Jürgen
Reihe
Historische Grundlagen der Moderne. Moderne Regionalgeschichte
Erschienen
Baden-Baden 2016: Nomos Verlag
Anzahl Seiten
603 S.
Preis
€ 119,00
Rezensiert für die Historische Bildungsforschung Online bei H-Soz-Kult von:
Andreas Hoffmann-Ocon, Zentrum für Schulgeschichte, Pädagogische Hochschule Zürich

Auf gut 600 Seiten wird von Jürgen Finger, Historiker für Neuere und Neueste Geschichte, in sechs wiederum in sich stark untergliederten Kapiteln die NS-Schulpolitik in Württemberg, Baden und im Elsass mit jeweils unterschiedlichen Fokussierungen beleuchtet. Finger hat in sechs französischen und deutschen Archiven nach Spuren einer spezifisch nationalsozialistischen Bildungspolitik in der Region gesucht und ist fündig geworden. Das Ergebnis ist einerseits ein quellengesättigtes, facettenreiches und vielschichtig argumentierendes Werk, andererseits ein thematisch etwas zerklüftet wirkender Zugriff.

Die Einleitung beschäftigt sich mit der modernen zeithistorischen Regionalgeschichte als Bildungsgeschichte und verortet die eigene Studie zwischen zwei Forschungskonjunkturen: Zum einen die Perspektive auf Mittelinstanzen im NS-Regime, hier im konkreten Fall auf einzelne Länder und ihre bürokratischen Apparate, und zum anderen der Blick auf die ‚Vorgeschichte‘ aktueller Ministerien in Bund und Ländern. In dem Bewusstsein, sich gegen das Narrativ vom Niedergang der Bildung nach 1933 und der ‚NS-Unpädagogik‘ zu stellen, wendet sich Finger einer Neubewertung der Rolle der Länder in der NS-Schulpolitik zu (S. 22). Finger zufolge bedeutete das Ende der föderalen Ordnung im Deutschen Reich nicht das Ende der Länder als politische Machtzentren. Daher lautet die vom spatial turn inspirierte These, dass föderale Machtzentren trotz staatsrechtlicher Degradierung als historisch gewachsene Einheiten unangetastet blieben (S. 23). Die These wird um die Überlegung erweitert, dass die Volksgemeinschaftsutopie Leitbilder für Verwaltungshandeln und politische Entscheidungen, Anstöße zur Selbstmobilisierung und zu nicht-hierarchischem Handeln lieferte. Das Interesse an regionalen Eigendynamiken folgt der Annahme, dass die ab Frühjahr 1933 nationalsozialistisch regierten Länder in einem auf Gleichschaltung ausgerichteten politischen System nach eigenen Wegen suchten (S. 25). Konkret fragt Finger danach, ob regionale Dynamiken bis in die Entwicklung schulischer Infrastruktur hineinwirkten, insbesondere in diejenige des vielgestaltigen weiterführenden und höheren Schulwesens.

Dieser Einstieg erzählt bereits viel über das konzeptionelle Selbstverständnis der Studie, die dem Pfad einer kulturwissenschaftlich orientierten Geschichtswissenschaft und der „Praxeologisierung“1 folgt. Demnach ist auch gegenüber einer NS-Alltagspraxis zugleich von einer Reproduktion der Machtstrukturen und partieller Widerständigkeit sowie temporärer Subversion auszugehen. Finger beachtet damit einen Forschungsaspekt, der viel diskutiert wird: Was für Spielräume sind in der NS-Zeit in den alltäglichen Handlungen in unterschiedlichen Feldern vorhanden gewesen?2 Dafür nimmt Finger Forschungsstimmen auf, die in der Verwaltungsgeschichte einen hohen Nutzen für die Bildungsgeschichte sehen, auch, um strukturelle Beharrungskräfte von Bildungssystemen als regional identitätsstiftenden und regimestabilisierenden Beitrag der mittleren Verwaltungsebene zu verstehen.

Das zweite Kapitel bietet eine Auseinandersetzung mit den Aspekten der Selbstgleichschaltung und des Eigensinns im Bildungsbereich und befasst sich mit dem zunächst reichsfreundlichen Agieren der Länder im Sommer 1933, die dennoch nicht gewillt gewesen seien, die eigene Initiative aufzugeben. Hier wird aufgezeigt und als damaliger common sense markiert, wie sehr das föderale Schulsystem der Weimarer Republik als zersplittert wahrgenommen wurde und eine Vereinheitlichung notwendig erschien. Die Belege, die Finger für eigensinniges bildungspolitisches Handeln der badischen, württembergischen und preußischen Kultusministerien zusammenträgt, sind zahlreich. Bei genauerem Hinsehen fällt jedoch vereinzelt auf, dass die Beispiele sich einmal auf die Reform der Volksschullehrerausbildung beziehen (S. 65), auf den Umgang mit Privatschulen (S. 67) oder auf die Volksschulunterstufe (S. 70), obgleich in den folgenden Kapiteln ohne rechte Hinführung auf das höhere Schulwesen fokussiert wird. Auch wenn Finger diese Sondierungen schlüssig in Konzeptionen des länderspezifischen Eigensinns einzuordnen versteht, geraten in der Deutung die Bezugsebenen etwas durcheinander. Denn in den freilich immer irgendwie zusammenhängenden bildungspolitischen und schultypenspezifischen Feldern wirkten ebenfalls je spezifische Prägefaktoren – etwa ‚institutioneller Eigensinn‘, eine nicht nur in der NS-Zeit instrumentalisierte Verfestigung von Bildungsmustern und -pfaden sowie ein organisationales Regelwerk, welches mit einer Interpretationsfolie im Anschluss an die „Grammar of Schooling“3 hätte zur Sprache gebracht werden können. Besonders eindrücklich bleibt dagegen in diesem Kapitel die Auseinandersetzung mit der „Deutungsbreite der NS-Weltanschauung“ (S. 77), die durch den nach der Machtergreifung beibehaltenen revolutionären Habitus des württembergischen Kultministers [!] Christian Mergenthaler repräsentiert wurde. Dieser gab vor, den Willen des Führers erahnen und in eine bildungspolitisch-administrative Eigeninitiative umsetzen zu können und bietet ein plausibles Bild für argumentative Scharniere zwischen Führerglaube und polykratischem System.

Mit dem dritten Kapitel wird die Verlagerung der Perspektive in die südwestdeutschen Schulsysteme eingeleitet. Hier wird gezeigt, dass der Schultypenwandel weit vor 1933 Anhaltspunkte birgt, um die Befunde zur antigymnasialen und antihumanistischen NS-Schulpolitik zu ergänzen. Die Aufweichung des gymnasialen Strukturtyps fand mit der Einrichtung des Realgymnasiums und der Deutschen Oberschule bereits in der Weimarer Republik statt, und die Stärkung der deutschkundlichen Fächer blieb nur eine weitere Vielfalt reduzierende Akzentsetzung der neuen Machthaber (S. 131). Die Sinnmitte dieses Kapitels liegt in einer quantitativ-topographischen Analyse, die auf die badischen und württembergischen Schulsysteme zielt, wobei unklar bleibt, warum die elsässischen ausgespart werden: Aus systematischen oder aus forschungspragmatischen Gründen? Absicht dieses Kapitels ist es, in einem vermessenden Horizont auf Pfadabhängigkeiten aufmerksam zu machen, die sich im Einzelfall auf die kommunalen und politischen Strukturen der Frühmoderne zurückführen lassen (S. 137). In der Funktionszuschreibung haben sich die badischen von den württembergischen Mittelschulen unterschieden, die nicht zur Mittleren Reife führten, ohne formalen Abschluss endeten und sich mit ihrem ‚Angebot‘ hauptsächlich an Mädchen richteten (S. 160). Trotz der antigymnasialen Stoßrichtung der NS-Schulpolitik fand diese Schulform immer wieder Unterstützer – in der Lokalpolitik sowie in der badischen Unterrichtsbehörde. Insgesamt gleicht dieses Kapitel – je nach Blickwinkel – einer Fundgrube oder einem Steinbruch; für Interessierte an Exkursen zu Privatschulen, Hochschulzugängen und dem Zusammenhang von Konfession und Bildungsweg ist es zu empfehlen.

Orientiert an den vorherigen Kapiteln verarbeitet Finger im zentralen vierten Kapitel die Forschungsliteratur und Quellenfunde zum Elsass, zu welchem das NS-Regime die Annexion nie formell ausgesprochen hatte, das Territorium wie eigenes Staatsgebiet behandelte und nicht wie militärisch besetztes (S. 241). Fingers Studie besticht dort, wo er auf die immer noch reaktivierbaren Meistererzählungen eingeht, seien es Studien zu NS-Deutschland, in denen das Elsass ausgeklammert und mithilfe einer Glättung unter das „Großdeutsche Reich“ subsumiert wird oder die Linien einer Geschichtsschreibung von „occupation, collaboration und résistance“ (S. 243). Mit diesen etablierten Demarkationslinien wird verständlich, dass die Erfahrungen der 1940 annektierten Bevölkerung im Anschluss einer nach dem Ersten Weltkrieg erfolgten deutschen repressiven Germanisierungspolitik, nach dem Nationalitätenwechsel und Optionszwang von 1919 und den Minderheitenkonflikten der 1920er- und 1930er-Jahre in einen größeren Kontext gesetzt werden müssen. In diesem im Vergleich zu den Meistererzählungen weitaus komplizierteren Geflecht wird zur Beschreibung und Analyse die Schulverwaltung miteinbezogen. Das Elsass sollte als Grenzraum Teil eines neuen „Oberrhein“-Gaues werden und bot sich damit für schulpolitische NS-Akteure aus der zweiten Reihe für eine gleichzeitig beabsichtigte regionale Struktur- und Germanisierungspolitik an. Dabei sollte eine Personalpolitik der wechselseitigen Versetzung von badischen und elsässischen Lehrpersonen zum wichtigen Instrument werden. Nach einer politischen Überprüfung sollte ein Großteil des elsässischen Lehrpersonals übernommen werden, jedoch beabsichtigten unerwartet viele Elsässer gar nicht, Deutsche zu werden. Wird die Schulverwaltung in einem breiteren Rahmen kontextualisiert, gelangt in den Fokus, dass von den rund 6.000 elsässischen Volksschullehrpersonen lediglich 1.600 an einem deutschen Lehrerseminar ausgebildet wurden. Die Abordnung badischer Lehrpersonen für den Schuldienst im Elsass stieß ebenfalls kaum auf Begeisterung (S. 267). Trotz Widerständen verzeichnete der Ordnungsentwurf für eine „Germanisierung“ durch Sprachpolitik, der Einführung des deutschen Schulsystems, der Anpassung der Unterrichtsinhalte und der Schulung des Lehrpersonals zumindest auf der Verwaltungsebene im Sinne einer äußerlichen Gleichschaltung Erfolge, welcher auch die Brechung der fest verankerten konfessionellen Strukturen im Bildungsbereich beinhaltete (S. 323).

Das fünfte und letzte Kapitel vor dem Reflexionsfinale widmet sich der Schulverwaltung während der Kriegszeit, die oftmals durch Mangel geprägt war. Die administrative Herausforderung bestand darin, unter den Bedingungen eines Nebeneinanders der Maßnahmen von Kinderlandverschickung, Luftwaffenhelfern, durch den BDM organsierten Kriegsbetreuungsdienst etc. Schulunterricht zu ermöglichen (S. 418). Rechtssicherheit ließ sich so kaum herstellen. Alltagspraktiken der Verkürzung der Dienstwege, der kommunalen „Selbstverwaltung“ und die Aufhebung von Berichtspflichten mischten sich mit diffusen Vorstellungen einer „Verwaltungsvereinfachung“ (S. 441).

Nach der Lektüre von Fingers Werk ergibt sich ein feinkörniges Bild der NS-Schulpolitik und der Rolle der Länder, die Gelegenheit hatten, eigene und eigensinnige Akzente zu setzen. Die Strukturierung der Studie ist plausibel, gelegentlich, wenn das Handeln der subalternen Akteure aus den archivalischen Dokumenten anhand von zahlreichen Fällen erschlossen wird, spürt der Autor dem Eigensinn regelrecht fesselnd nach. Schade nur, dass Finger sich durch die opulente Quellenlage streckenweise zu langfädigen Exkursen hinreißen lässt, unter denen die Stringenz des Textes leidet. Aber darf man von einem Historiker, der den in letzter Zeit häufig genutzten Begriff des Eigensinns am Themenfeld der historischen Bildungspolitik schlüssig aufzeigt und deutet, erwarten, dass er den inhaltlich eigensinnigen Überraschungen, die manche Archivalien bereithalten, nicht erliegt? Die angeführten Einwände können den Gesamteindruck nicht schmälern. Finger leistet einen wesentlichen Beitrag zur Geschichte der NS-Schulpolitik, der bildungshistorisch relevante Studien sowohl der fachgeschichtlichen als auch erziehungswissenschaftlichen Provenienz konsequent für die eigenen Forschungsbefunde auswertet. Wenn die vorliegende Arbeit weitere derartige regionalhistorische Studien zur NS-Zeit anregt, so erfüllt sie ihren Zweck.

Anmerkungen:
1 Marian Füssel, Die Praxis der Theorie. Soziologie und Geschichtswissenschaft im Dialog, in: Arndt Brendecke (Hrsg.), Praktiken der frühen Neuzeit. Akteure – Handlungen – Artefakte, Köln 2015, S. 21–33, bes. S. 22.
2 Christian Meier, Der Historiker und der Zeitgenosse. Eine Zwischenbilanz. München 2014.
3 David Tyack / William Tobin, The „Grammar“ of Schooling. Why Has it Been so Hard to Change?, in: American Educational Research Journal 31 (1994), S. 453–479.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit der Historischen Bildungsforschung Online. (Redaktionelle Betreuung: Philipp Eigenmann, Michael Geiss und Elija Horn). https://bildungsgeschichte.de/
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