I. Trommer: Rechtfertigung und Entlastung

Cover
Titel
Rechtfertigung und Entlastung. Albert Speer in der Bundesrepublik Deutschland


Autor(en)
Trommer, Isabell
Reihe
Wissenschaftliche Reihe des Fritz Bauer Instituts 27
Erschienen
Frankfurt am Main 2016: Campus Verlag
Anzahl Seiten
367 S.
Preis
€ 34,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Heinrich Schwendemann, Historisches Seminar, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg

Albert Speer, Hitlers Architekt, der die megalomanen Bauphantasien seines „Führers“ in konkrete Planungen umsetzte, war ab 1942 zum Herrscher eines gigantischen Rüstungsimperiums aufgestiegen. Im Nürnberger Hauptprozess zog Speer seinen Kopf aber buchstäblich aus der Schlinge. Er, der sich mit seinem bürgerlichen Habitus deutlich von den Mitangeklagten unterschied, präsentierte sich als unpolitischer Technokrat und Organisator eines deutschen „Rüstungswunders“. Als einziger gestand er zwar eine allgemeine Verantwortung ein, zeigte sich allerdings keiner persönlichen Schuld bewusst; an den Verbrechen sei er nicht beteiligt gewesen. Im Gegenteil: Am Ende des Krieges habe er gegen Hitlers Zerstörungsbefehle opponiert und noch Schlimmeres verhindert. Mit seiner letztlich erfolgreichen Verteidigungsstrategie – er wurde nur zu 20 Jahren Haft verurteilt – begründete er seinen eigenen Mythos, der über Jahrzehnte hinweg wirkungsmächtig war. Erst vor wenigen Jahren hat sich in der Öffentlichkeit nun das Bild durchgesetzt, dass Speer keinesfalls der „gute Nazi“, sondern einer der hauptverantwortlichen NS-Täter war, unter dessen Ägide Millionen von Zwangsarbeitern ausgebeutet wurden, darunter Hunderttausende von KZ-Häftlingen, von denen viele zu Tode kamen. Auch an der Durchführung des Judenmordes hatte er mitgewirkt. Isabell Trommer untersucht in ihrer Dissertation, wie der Speer-Mythos entstand und sich hartnäckig halten konnte.

Als Speer 1966 aus dem Spandauer Gefängnis entlassen wurde – ein weltweit beachtetes Medienereignis –, wurde er von Verlagen umworben, galt er doch wegen seiner Vertrauensstellung zu Hitler als einzigartiger Zeitzeuge, von dem man sich Aufschlüsse über den Diktator und sein Umfeld erhoffte. Den Zuschlag erhielt der Propyläen-Verlag, ein Imprint von Ullstein, geleitet von Wolf Jobst Siedler. Dieser stellte Speer einen Lektor zur Seite, Joachim Fest, der eine Hitler-Biografie in Planung hatte. Trommer, die die Nachlässe von Speer und Fest gesichtet hat, kann nun nachweisen, was schon seit längerem vermutet wurde: dass die 1969 erschienenen „Erinnerungen“ ein Gemeinschaftsprojekt waren, das Ergebnis von zwei Jahren intensivster Zusammenarbeit der Beteiligten. Fest kürzte nicht nur Speers Konvolut von 1.300 auf lesbare 500 bis 600 Seiten und verbesserte es stilistisch, sondern Fest und Siedler hatten „weitreichend inhaltlich daran mitgewirkt und das Narrativ bestimmt“ (S. 80). Fest erhielt sogar – wie Volker Ullrich herausgefunden hat – aus dem Verkauf der „Erinnerungen“ Tantiemen, weil – so Speer – „Herr Fest […] in langen Diskussionen mit mir um Formulierungen gerungen [hat]“.1 Die Kooperation war auch sonst für beide Seiten von Nutzen, denn Speer las gleichzeitig Fests Kapitelentwürfe zur Hitler-Biografie, kommentierte diese und diente Fest als wichtigste Quelle. Inzwischen wissen wir, dass der Hitler aus Fests Biografie in vielem dem Hitler-Bild Speers entsprach.2

Die 1969 erschienenen „Erinnerungen“ wurden ein Riesenerfolg, sechs Jahre später dann auch die „Spandauer Tagebücher“ (1975). Trommer hat minutiös die Rezensionen zu Speers Erinnerungswerken gesichtet und die Elemente des Speer-Mythos herausgearbeitet. Sie zeigt, wie sehr die Rechtfertigungsformeln Speers von den Rezensenten als Topoi benutzt und variiert wurden. Als „Technokrat“, „Leistungsträger“ und „Widerständler“ hatte er sich schon in Nürnberg vorgestellt; jetzt kamen weitere Entlastungselemente dazu – etwa als Verführter, der das Dämonische in Hitler zu spät erkannt habe. Erneut legte Speer in epischer Breite dar, wie er immer mehr zu Hitler auf Distanz gegangen sei und im Frühjahr 1945 die totale Zerstörung Deutschlands verhindert habe.

Es ist im Nachhinein verblüffend, wie kritiklos die Rezensenten Speers Selbstdarstellung übernahmen. Die Autorin betont zu Recht, dass das von Speer so betonte Etikett seiner Bürgerlichkeit und eine damit einhergehende Distanzierung von Hitlers Paladinen wesentlich zu seiner Glaubwürdigkeit beitrugen. Bei der Konstruktion dieses apologetischen Bildes war wohl Fest beteiligt, der schon 1963 über Speer – noch ohne ihn persönlich zu kennen – geschrieben hatte: „Stets wirkte er fremd in ihrem Kreis, als sei er versehentlich unter all diese machiavellistischen oder beutehungrigen Kleinbürger geraten.“ (zit. auf S. 173) Dass Speer in seiner bürgerlichen Seriosität eine Ausnahmeerscheinung gewesen sei, schien seine Büßerattitüde zu bestätigen, denn der Grundtenor der „Spandauer Tagebücher“ lautete, dass er mit der Haft eine Sühne geleistet habe.

Große Zustimmung fand seine Selbststilisierung als unpolitischer Technokrat, als Architekt des deutschen „Rüstungswunders“, der trotz des alliierten Bombenhagels den Rüstungsausstoß permanent gesteigert habe. Mitunter wurde die Ära Speer zwischen 1942 und 1945 sogar als Voraussetzung für das Wirtschaftswunder der 1950er-Jahre gedeutet: Die deutsche Industrie habe einen Modernisierungsschub durch Rationalisierungsmaßnahmen und die Stärkung der Privatwirtschaft erfahren. Kritische Stimmen, dass die Rüstungssteigerung primär durch die drastische Drosselung der Zivilproduktion und den rücksichtlosen Einsatz von Zwangsarbeitern erfolgt sei, drangen nicht durch. Über die Verbrechen des NS-Regimes und den Judenmord hatte Speer allerdings auffallend geschwiegen, in Interviews mimte er den Unwissenden. Seine Glaubwürdigkeit beeinträchtigte dies nicht.

Der Verkaufserfolg seiner Bücher und die positive Resonanz zeigen – stellt die Autorin zu Recht fest –, dass Speer für viele Deutsche seiner Generation die perfekte Entlastungsstrategie lieferte. Gerade die „Hitlerwelle“ der 1970er-Jahre, an der Speer und Fest beide maßgeblich mitwirkten, war Ausdruck eines weit verbreiteten Rechtfertigungsmusters: Verführt von Hitler habe man im „Dritten Reich“ zwar mitgemacht, sei selbst aber integer geblieben und habe nichts von den Verbrechen gewusst. Dass dies möglich gewesen sei, zeige schließlich die Biografie des engen Hitler-Vertrauten Albert Speer. Dessen Behauptung, er habe nichts vom Judenmord gewusst, traf in einer Gesellschaft auf Verständnis, die mehrheitlich den Holocaust nicht näher zur Kenntnis nehmen wollte. Trommers Resümee der damaligen Entlastungsformeln: „Er wusste nichts“, „er hätte es wissen können und müssen“, „er wusste es und hat es verdrängt“ (S. 191).

Berechtigt ist ihre Kritik an den Historikern, die Speers Darstellung seinerzeit nicht überprüften. Denn schon Anfang der 1960er-Jahre hatte es in der Fachliteratur Belege zu Speers Kooperation mit der SS beim Arbeitseinsatz von KZ-Häftlingen (Enno Georg) und seiner Beteiligung am Ausbau von Auschwitz-Birkenau (Raul Hilberg) gegeben. In den 1970er-Jahren beschäftigten sich die Historiker jedoch vor allem mit dem Übergang von Weimar zum Nationalsozialismus oder stritten über die Interpretation des NS-Herrschaftssystems. Der Holocaust spielte kaum eine Rolle.

Über das, was Speer verschwiegen hatte, nämlich seinen Anteil an den Verbrechen, erweiterte die Forschungsarbeit ab den 1980er-Jahren sukzessive die Kenntnisse. Die Autorin stellt diese Etappen detailliert dar, zeigt aber zugleich, wie lange es noch dauerte, bis die Ergebnisse öffentlich wahrgenommen wurden. Hatte Speer in seinem letzten Buch, „Der Sklavenstaat“, 1981 kurz vor seinem Tod erschienen, noch versucht, sich mit einer „völlig übersteigerten Apologie“ (Trommer, S. 80) als Opfer der Machenschaften Himmlers und der SS zu präsentieren, so legte 1982 Matthias Schmidt in der Studie „Albert Speer. Das Ende eines Mythos“ erstmals Details über die Rolle Speers bei der „Entjudung“ Berlins offen. Allerdings waren die Reaktionen auf Schmidts Arbeit überwiegend kritisch, da diese nicht dem gewohnten Speer-Bild entsprach. Weitere Marksteine waren 1985 Ulrich Herberts Studie über die Zwangsarbeiter, in der unter anderem Speers Rolle beim Arbeitseinsatz thematisiert wurde, und 1993 ein Aufsatz von Florian Freund, Bertrand Perz und Karl Stuhlpfarrer, der belegte, dass Speer 1942 Bauplan und Baumaterial für die Erweiterung von Auschwitz-Birkenau zum Vernichtungslager genehmigt hatte. Auch diese Erkenntnisse fanden nicht den Weg in die breite Öffentlichkeit. Im Gegenteil: Zwischen 1995 und 1999 erschienen nochmals drei „große Biografien“ von Gitta Sereny (1995), Dan van der Vat (1997) und Joachim Fest (1999) – „Rückschritte“, wie Trommer zu Recht feststellt (Kap. VII), da sie den Forschungsstand ignorierten. Sereny und Fest stützten sich auf ihre Gespräche mit Speer und strickten an dessen Legende weiter. Vor allem bei Fest trat die apologetische Tendenz offen zu Tage.

Letztlich gab Fests Speer-Biografie jedoch den Anstoß für eine Wende in der öffentlichen Wahrnehmung. Kritische Artikel etwa in der FAZ (deren Mitherausgeber Fest 1973–1993 gewesen war) und der ZEIT sowie Fernsehdokumentationen machten den Forschungsstand einem breiten Publikum zugänglich – zur Kooperation Speers mit der SS beim Arbeitseinsatz von KZ-Häftlingen (z.B. Jan Erik Schulte, Jens-Christian Wagner, Hermann Kaienburg), zu Speers Rolle bei der Deportation der Berliner Juden (Susanne Willems) und sein Agieren in der Endphase des Krieges, als derjenige, dessen Rüstungsimperium dafür sorgte, dass der Krieg bis Mai 1945 mit seinen gigantischen Menschenverlusten und Zerstörungen auf dem Reichsgebiet weiter geführt werden konnte (Heinrich Schwendemann). Nach dem Doku-Spielfilm „Speer und Er“ von Heinrich Breloer im Jahr 2005 und dem sich anschließenden medialen Echo hatte der Speer-Mythos sein Ende gefunden – fast 40 Jahre nach der Spandauer Haftentlassung.

Der Nachweis, dass die spät einsetzende kritische Auseinandersetzung mit Albert Speer, einer der mächtigsten und skrupellosesten NS-Führungspersönlichkeiten, paradigmatisch den Umgang der deutschen Gesellschaft mit dem Nationalsozialismus widerspiegelt, ist Isabell Trommer gelungen.3 Mithilfe von Siedler und Fest konnte Hitlers Architekt und Rüstungsminister einen geschönten Lebenslauf konstruieren, der der Erwartungshaltung seiner Generation so perfekt entsprach, dass „Quellen und Forschungsergebnisse das positive Bild Speers jahrzehntelang nicht tangiert haben“ (S. 330). Statt kritische Fragen zu stellen, beschränkten sich Rezensenten und Biografen auf weitschweifige Mutmaßungen über Schuld, Bekenntnis, Reue, Sühne, Läuterung und Buße. Joachim Fest hat sich noch 2005 geweigert zu akzeptieren, dass ihm die Deutungshoheit längst entglitten war. So schrieb er, dass seit den frühen 1970er-Jahren „nur wenige weiterführende Arbeiten erschienen“ seien und sich am damaligen „Kenntnisstand“ nicht viel geändert habe.4 Er hatte sich gründlich geirrt.

Anmerkungen:
1 Volker Ullrich, Zum Dank ein Bild vom Führer. Bislang unveröffentlichte Dokumente zeigen, wie umfassend der Verleger Wolf Jobst Siedler und der Journalist Joachim Fest dem „guten Nazi“ Albert Speer zu Diensten waren, in: ZEIT, 19.05.2016, S. 19, http://www.zeit.de/2016/22/albert-speer-wolf-jobst-siedler-joachim-fest/komplettansicht (09.11.2016).
2 Heinrich Schwendemann, Zwischen Abscheu und Faszination. Joachim C. Fests Hitler-Biographie als populäre Vergangenheitsbewältigung, in: Jürgen Danyel / Jan-Holger Kirsch / Martin Sabrow (Hrsg.), 50 Klassiker der Zeitgeschichte, Göttingen 2007, S. 127–131.
3 In dieselbe Richtung argumentiert laut Verlagsankündigung Magnus Brechtken, Albert Speer. Eine deutsche Karriere, Berlin 2017 – das Buch soll im Mai bei Siedler (!) erscheinen. Siehe zuvor bereits Martin Kitchen, Speer. Hitler’s Architect, New Haven 2015; rezensiert von Kim Christian Priemel, in: H-Soz-Kult, 18.05.2016, http://www.hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuecher-25222 (09.11.2016).
4 Joachim C. Fest, Die unbeantwortbaren Fragen. Gespräche mit Albert Speer, Reinbek bei Hamburg 2005, S. 11f.