M. Brenner: Israel. Traum und Wirklichkeit des jüdischen Staates

Cover
Titel
Israel. Traum und Wirklichkeit des jüdischen Staates. Von Theodor Herzl bis heute


Autor(en)
Brenner, Michael
Erschienen
München 2016: C.H. Beck Verlag
Anzahl Seiten
288 S., 24 Abb., 4 Karten
Preis
€ 24,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Stefan Vogt, Martin-Buber-Professur / Historisches Seminar, Goethe-Universität Frankfurt am Main Email:

Michael Brenner hat mit diesem Band eine konzise und äußerst gut lesbare Einführung in die Ideen- und Kulturgeschichte des Zionismus und Israels vorgelegt, die zugleich ein erfreulich differenzierter Beitrag zu der häufig unter Simplifizierung leidenden Diskussion um die Bedeutung dieser beiden historischen Phänomene ist. Brenner entwickelt diese Geschichte aus dem Spannungsverhältnis zwischen dem utopischen Charakter des Zionismus und der in ihm zum Ausdruck kommenden Sehnsucht der Juden nach Normalität, sowie aus dem Umstand, dass sich das Streben nach Normalität bis heute an den Besonderheiten der jüdischen Geschichte abarbeiten muss. Seine überzeugende These, dass dieses Normalitätsproblem bis heute gewissermaßen das Leitmotiv der Geschichte des Zionismus und Israels darstellt, bietet zugleich ein hervorragendes Gerüst, um diese Geschichte zu erzählen.

Brenner wendet sich mit seinem Buch nicht in erster Linie an ein spezialisiertes Fachpublikum, sondern an eine breite Leserschaft. Der Darstellung ist auch ohne allzu große Vorkenntnisse problemlos zu folgen, ohne dass dabei zu Vereinfachungen gegriffen werden würde. Zugleich bietet der Band auch Fachwissenschaftlern eine Reihe von interessanten Anregungen. Brenner macht gleich zu Beginn deutlich, dass sich das Buch „nicht mit der äußeren Bedrohung Israels und all seinen inneren Konflikten“ (S. 22) beschäftigt, sondern dass es ihm um eine Ideen- und Kulturgeschichte des Zionismus und Israels geht. Als solche ist die Studie brillant, nicht zuletzt weil es ihr gelingt, neben den Ideen selbst, die in großer Breite und Vielfalt dargestellt werden, auch die Stimmungen und Mentalitäten einzufangen, aus denen heraus die Ideen entstehen und in denen sie ihre Resonanz finden. In dieser Hinsicht ist der Band eine wertvolle Ergänzung und Korrektur zur Fixierung der öffentlichen Diskussion und eines Großteils der populärwissenschaftlichen Literatur auf den israelisch-palästinensischen Konflikt. Zugleich, soviel sei vorweg genommen, liegt darin aber auch eine Schwäche des Bandes.

In Kapitel 1 stellt Brenner ausführlich das kulturelle und intellektuelle Umfeld dar, in dem sich am Ende des 19. Jahrhunderts die zionistische Bewegung formierte. Er geht hier auf Theodor Herzls Aktivitäten in Wien und den ersten Zionistenkongress in Basel ein, aber auch auf alternative Überlegungen, wie sie in Berlin von Walther Rathenau, in Odessa von Simon Dubnow oder in Wilna von den Aktivisten des Allgemeinen Jüdischen Arbeiterbundes entwickelt wurden. Dabei wird nicht nur der sich verbreitende und vertiefende Antisemitismus in Europa ausführlich beschrieben, sondern auch die kulturelle Atmosphäre in diesen Zentren des jüdischen Lebens in Europa. In Kapitel 2 werden weitere zionistische Protagonisten wie Max Nordau und Ahad Haam (Ascher Ginsberg) vorgestellt. Wichtig, weil dies häufig ignoriert wird, ist dabei die Betonung der radikalen sozialreformerischen Ideen, die sich in den Vorstellungen Herzls finden. Brenner macht deutlich, dass auch hierin wieder die Spannung von Normalität und Utopie zu finden ist, wenn etwa der von ihm vorgesehene Siebenstundentag nicht nur die materielle Situation der Juden verbessern, sondern auch ein „Experiment zum Wohle der ganzen Menschheit“ (Herzl) sein sollte. Leider verzichtet Brenner allerdings hier wie anderswo darauf, das damit verbundene, aber keinesfalls eindeutige Spannungsverhältnis von Universalismus und Partikularismus eingehend zu diskutieren. In Ahad Haams Ablehnung von Herzls „europäischen“ und „unjüdischen“ Vorstellungen für die jüdische Gemeinschaft in Palästina steckte sowohl ein essentialistischer Partikularismus, als auch eine geradezu postkolonial anmutende Kritik an Herzls Eurozentrismus, der selbst ein als Universalismus verkleideter Partikularismus ist.

Das dritte Kapitel widmet sich sodann den Überlegungen zur konkreten Umsetzung der zionistischen Ziele. Hier kommen die lange von der zionistischen Führung favorisierte Idee einer begrenzten Autonomie unter britischer Oberhoheit ebenso zur Sprache wie die aus unterschiedlichen Gründen und mit unterschiedlichen Perspektiven vom linken und vom rechten Rand der zionistischen Bewegung geforderte Einstaatenlösung. Auch die Vorstellungen der vom Zionismus abgespaltenen Territorialisten, die eine wie auch immer geartete jüdische Souveränität in einem weniger konfliktträchtigen Teil der Welt anstrebten, werden thematisiert. Vor diesem Hintergrund verliert die schließlich vollzogene Gründung eines jüdischen Nationalstaates auf einem Teil des Territoriums Palästinas – die einer Zweistaatenlösung am nächsten kommende Variante – die Qualität der historischen Alternativlosigkeit.

In den Kapiteln 4 und 5 wendet sich Brenner der Entwicklung des Staates Israel seit 1947 zu, wobei der Sechstagekrieg von 1967 die Zäsur bildet. Wiederum geht es im Wesentlichen um die intellektuellen Debatten und die Veränderungen in der politischen Kultur. Besonders sichtbar wurde die Spannung zwischen Normalität und Besonderheit nach dem israelischen Sieg 1967. Während dieser einerseits die ständige Existenzbedrohung Israels zumindest deutlich verringerte und so dessen Bewohner eine gewisse Normalisierung ihrer Lebensumstände ermöglichte, produzierte er zugleich eine enorme nationalistische, messianische und religiöse Euphorie, die unter anderem in der Radikalisierung der nationalreligiösen Partei und der dauernden Anormalität des Besatzungsregimes mündete. Demgegenüber stellen sowohl der Oslo-Friedensprozess, als auch die Vision eines „neuen Nahen Ostens“ gescheiterte Versuche dar, wieder die Entwicklung zur Normalität ins Zentrum zu rücken. Etwas zu einfach hingegen macht es sich Brenner, wenn er die Verantwortung für die Radikalisierung und das Besatzungsregime allein auf der politischen Rechten, die Auslöser der Friedensprozesse hingegen allein auf der politischen Linken verortet. So war die Siedlungspolitik anfangs durchaus auch ein Versuch, das im Schwinden begriffene sozialistisch-zionistische Pionier-Ethos wiederzubeleben und damit die Macht der Arbeitspartei zu erhalten, während der Oslo-Prozess nicht erst unter der Regierung Yitzak Rabins begann.

Im sechsten und letzten Kapitel untersucht Brenner die Debatten um die Entwicklung Israels in den letzten zwei Jahrzehnten. Im Zentrum steht dabei die Frage der Ein- und Auswanderung und damit der Verortung Israels in den Prozessen der Globalisierung. Zu Recht weist er darauf hin, dass das Phänomen einer Auswanderung von Israelis genauso alt ist wie das der jüdischen Einwanderung nach Palästina und nach Israel. Im Epilog schließlich geht Brenner ausführlich auf die Dynamik des Auseinanderdriftens zwischen den säkularen und den religiösen Teilen der israelischen Gesellschaft ein, die er am Beispiel des Verhältnisses von Tel Aviv und Jerusalem sehr gut veranschaulicht.

Brenners Studie überzeugt nicht nur durch seine breite und anschauliche Darstellung der ideologischen und kulturellen Debatte um das zionistische Projekt und um den Staat Israel. Es gelingt ihm auch immer wieder, anhand von Schlüsselszenen der Geschichte des Zionismus und Israels die Atmosphäre lebendig werden zu lassen, in der diese Diskussionen stattfanden. Besonderes Verdienst erwirbt sich die Studie darin, dass sie die ganze Spannbreite dieser Debatte und viele ihrer Verästelungen in die Darstellung einbezieht. Indem eine große Zahl teilweise wenig bekannter Akteure vorgestellt wird, ergibt sich ein sehr viel pluralistischeres Bild dieser Debatten, als dies üblicherweise der Fall ist. Vor allem argumentiert die Studie dadurch mit großem Nachdruck für eine nicht-teleologische Sicht auf die Geschichte Israels. Sie verhilft so nicht nur den vielen alternativen und dissidenten Positionen im Zionismus zu ihrem Recht, sondern trägt auch dazu bei, eine traditionelle nationalgeschichtliche Perspektive auf die israelische Geschichte zu überwinden. Gleichzeitig wird deutlich, dass sich diese Geschichte keinesfalls zufällig so entwickelt hat, wie dies dann tatsächlich geschehen ist.

Vor allem am Ende des Bandes wird ein grundlegendes Problem von Brenners Darstellung allerdings sehr deutlich. Obwohl die Israel betreffenden Migrationsprozesse im Zentrum des sechsten Kapitels stehen, werden sowohl die Arbeitsimmigranten als auch die politischen Flüchtlinge, die in Israel leben, jeweils nur in einem kurzen Absatz behandelt. Auch in einer ideengeschichtlichen Studie müsste dies mehr Raum einnehmen, da in den letzten Jahren die Frage, was Israel ist und was es sein soll, ganz häufig in Bezug auf diese Migranten diskutiert wurde. Noch gravierender ist es, dass die arabischen Israelis ebenfalls nur in einem Absatz Erwähnung finden. Während das Ausblenden der realen politischen und sozialen Konflikte durchaus gerechtfertigt werden kann, ist dies eine Lücke, die sich gerade für die Frage nach dem Selbstverständnis Israels und der Israelis, und nach dem Verhältnis von Normalität, Besonderheit und Utopie, negativ bemerkbar macht.

Sicherlich ist es für eine wirkliche Diskussion dieser Frage und ihrer Bedeutung auch unerlässlich, nicht nur deren ideologische und kulturelle Ausprägungen zu berücksichtigen, sondern auch die konfliktreiche Realität, in der sie sich stellt. So ist es empfehlenswert, Brenners Buch zusammen mit kritischen Analysen der israelischen Politik und Gesellschaft zu lesen. Vor diesem Hintergrund wird jedoch deutlich, dass die These des Buches, wonach das Streben nach Normalität immer wieder mit utopischen und partikularistischen Vorstellungen, aber auch mit den sehr besonderen Bedingungen in Konflikt gerät, unter denen das zionistische Projekt entstanden ist und der israelische Staat existieren muss, auch für die politischen und sozialen Konflikte innerhalb Israels und zwischen Israel und seinen Nachbarn große Erklärungskraft besitzt.