U. Lappenküper u.a. (Hrsg.): Realpolitik für Europa

Cover
Titel
Realpolitik für Europa. Bismarcks Weg


Herausgeber
Lappenküper, Ulrich; Urbach, Karina
Reihe
Otto-von-Bismarck Stiftung, Wissenschaftliche Reihe 23
Erschienen
Paderborn 2016: Ferdinand Schöningh
Anzahl Seiten
281 S.
Preis
€ 34,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Frank Lorenz Müller, School of History, University of St Andrews

Vor lauter Luther-Erinnerung könnte man 2017 beinahe vergessen, dass man vor zwei Jahren noch eines anderen deutschen Heroen gedachte: 2015 jährte sich nämlich die Geburt Otto von Bismarcks zum 200. Mal. Aus diesem Anlass fanden seinerzeit im Deutschen Historischen Museum in Berlin ein Festakt und eine international besetzte wissenschaftliche Tagung statt. Die insgesamt 18 bei diesen Veranstaltungen gehaltenen Grußworte, Reden und Vorträge wurden nun von Ulrich Lappenküper und Karina Urbach unter dem Titel „Realpolitik für Europa – Bismarcks Weg“ in einem kompakten Band der wissenschaftlichen Reihe der Bismarck-Stiftung zusammengetragen.

Das Ergebnis ist ein abwechslungsreiches, mitunter lebhaftes Kaleidoskop zum Teil sehr unterschiedlicher Textsorten und Argumentationsformen. Insgesamt dokumentiert der Band eher den Blick auf Bismarck vor dem Hintergrund der europa- und geschichtspolitischen Situation des Jahres 2015, als dass er wirklich neue Erkenntnisse über die Ziele und Methoden des Reichsgründers anbietet. Dennoch dürften auch mit der Materie vertraute Leser an mehreren Stellen auf ihre Kosten kommen: etwa in Ulrich Lappenküpers Untersuchung der Rolle Asiens in Bismarcks Politik, bei Tanja Bührers Thesen zur „verantwortungslosen Expansionspolitik“ (S. 260) des Reichskanzlers bei der Aufteilung Afrikas oder in Jonathan Steinbergs kurzweiligen Blick auf die „eminent Americans“, die in Bismarcks Leben eine Rolle gespielt haben.

Angesichts der bei Bismarck-Studien häufig zu beobachtenden Vernachlässigung wirtschaftsgeschichtlicher Fragestellungen ist es weiterhin zu begrüßen, dass sich gleich zwei Autoren – Gerold Ambrosius und Guido Thiemeyer – mit dem Thema der Internationalisierung der deutschen Wirtschaft in der Bismarckzeit befassen. Hier stechen vor allem Thiemeyers Ausführungen zu Bismarcks Reaktionen auf münz- und währungspolitische Fragen hervor. Vor dem Hintergrund französischer Avancen in den späten 1860er-Jahren, die darauf abzielten, Preußen zum Beitritt zur Lateinischen Münzunion zu bewegen, hielt der damalige Bundeskanzler aufgrund des „fortschreitend in großem Maßstabe steigenden Verkehrs“ das Ende der „Verschiedenheit der Münzsysteme“ für unausweichlich. „Je früher Schritte dazu gethan werden, desto rascher werden die […] Wunden heilen und es werden sich desto eher die segensreichen Wirkungen fühlbar machen.“ (S. 196) Darüber, ob Finanzminister Wolfgang Schäuble, der bei dem Festakt als Hauptredner fungierte, gerade bei diesem Teil der Tagung noch anwesend war, kann allerdings nur spekuliert werden.

Das Gros der Beiträge lässt sich jedoch der von den Herausgebern formulierten Zielsetzung des Bandes zuordnen, nämlich „das Spannungsverhältnis zwischen den dem 19. Jahrhundert verhafteten und den ins späte 20. Jahrhundert weisenden Elementen des Bismarck’schen Europabildes und seiner Europapolitik nach der Reichsgründung neu auszuleuchten“ (S. 45). Dass die historisch akzentuierte Frage nach der Relevanz Bismarcks sich 2015 durchaus spannungsgeladen präsentierte, macht die Festrede des Bundesfinanzministers mehr als deutlich. Schäuble sprach von „Aktualisierungen Bismarcks, die mich ärgern“. Andere Varianten des „historisch unterlegten Vorwurfs“ Deutschlands Stärke schade den anderen, hätten ihm „noch nie eingeleuchtet“. Vielmehr halte er das Denkmodel der „halben Hegemonie“, „dieses ganze ‚zu stark – zu schwach‘ für schief“. Und auch dem Gedanken des anwesenden irisch-britischen Historikers Brendan Simms, ein „europäischer Bismarck“ müsste nun eine europäische Bundesstaatsgründung in die Wege leiten, müsse Schäuble „explizit widersprechen“ (S. 28–31). Auf Schäubles Appell, sich mit Bismarck zu beschäftigen, um „Preußen und Deutschland im 19. Jahrhundert“ zu verstehen (S. 32) folgen noch weitere, etwas weniger temperamentvoll vorgebrachten Einwände gegen eine effekthaschende Aktualisierung Bismarcks: etwa Lappenküpers und Urbachs Hinweise auf Bismarcks bekannte Europa-skeptischen Zitate (S. 43: „who is Europe“; „qui parle Europe a tort. Notion géographique“ [beide 1876]) oder Lothar Galls Verdikt, dass Bismarcks Betrachtungen „bis zu seinem Tode aus der Perspektive Preußens, genauer aus der Perspektive des Untertanen der preußischen Monarchie“ erfolgten (S. 56).

Damit ist der Übergang zu den vorrangig historisch argumentierenden Beiträgen gestaltet, die verschiedene Aspekte der europäischen Dimension von Bismarcks Handeln und Denken kenntnisreich und routiniert beleuchten: Brendan Simms‘ Überlegungen zur Politik des Reichskanzlers innerhalb eines globalen, wenn auch Europa-zentrierten Mächtesystems; Michael Gehlers Ausführungen zum Kontrast zwischen Bismarck und den dezidiert europäisch ausgerichteten Politikkonzeptionen einiger seiner Zeitgenossen; Holger Afflerbachs Analyse der militärischen Dimension von Bismarcks Umgang mit der nach 1870 entstandenen „halben Hegemonie“ des Reiches; Andreas Fahrmeirs Frage, ob die Reichsgründung per se ein erhöhtes Konfliktrisiko für die europäische Staatenwelt bedeute; und Georges-Henri Soutous knappe Kritik an Bismarcks „Kissinger Konzept“, das eine Teilung Europas in zwei Allianzsysteme zur Folge hatte.

Einen dezidierter Bezug auf die Frage nach der aktuellen Relevanz des „Eisernen Kanzlers“ – die auch kurz in den Grußworten des Ministerialdirektors Rüdiger Kass (S. 15–17) und in der Rede Joachim Gaucks (S. 19–22) aufflackert – bietet vor allem der von Schäuble kritisierte Schlussteil des Beitrags von Brendan Simms (S. 82–86). Der Cambridger Historiker zieht eine Parallele zwischen dem deutschen Reich Bismarcks mit seinem preußischen (Vor-)Herrschaftskern und der EU von 2015 – wo die einstmalige Rolle Preußens nun von Deutschland wahrgenommen werde. Auch zwischen dem Deutschen Bund der 1860er-Jahre und der Eurozone erkennt Simms ausreichend Ähnlichkeiten, um die Frage zu stellen, wie Bismarck heute agieren würde. Laut Simms würde der Reichskanzler flexibel und je nach Interessenlage mal mit diesem und mal mit jenem paktieren – mit Großbritannien in Fragen der Wettbewerbsfähigkeit, mit Frankreich zur Regulierung der Finanzmärkte, mit dem Norden gegen den Süden zugunsten von Austerität; und als „Russlandversteher“ hätte er Putin die Annexion der Krim durchgehen lassen. Doch dieses Vorgehen – die Jonglierkünste des späten Bismarck – berge zu viele Gefahren. Am Ende würden dem ermüdeten Jongleur die Bälle nämlich aus den Händen gleiten. Daher ruft Simms den frühen Bismarck, den Reichsgründer, zu Hilfe. Er müsste nämlich die Eurozone – wohlgemerkt, nicht die ganze EU! – nach dem Vorbild der USA in eine „volle föderale Union mit einem einzigen strategischen Ziel“ umformen. Es sei tragisch, so Simms, dass das heutige Europa weder einen Bismarck noch einen Abraham Lincoln aufweisen könne, um einen solchen Gründungsakt zu vollziehen.

Es sei dahingestellt, wieviel „Realpolitik“ in diesem europäischen Gedankenspiel steckt. Simms‘ klare Einschränkung eines solchen Gründungsprojekts auf die Eurozone ist inzwischen allerdings durch die Brexit-Entscheidung des vergangenen Jahres auf bedauerliche Weise als realistisch bestätigt worden. Hier jedenfalls wäre Bismarck mit Simms d’accord gewesen. Der realpolitische Blick des Kanzlers auf Großbritannien erscheint daher heute sogar schmerzhafter aktuell als noch zu seinem 200. Geburtstag. „Ich habe, was das Ausland angeht, in meinem Leben nur für England und seine Bewohner Sympathien gehabt und bin stundenweis noch nicht frei davon“, schrieb er Ende der 1850er-Jahre; „aber die Leute wollen sich ja von uns nicht lieben lassen“. Trotz all der in diesem Band versammelten Hinweise darauf, wie sehr Bismarck in das Preußen, Deutschland und Europa des 19. Jahrhunderts gehört, ist also zu konstatieren, dass der Reichsgründer in einigen europäischen Fragen aktuell geblieben ist. Leider.