Cover
Titel
Was wäre wenn?. Alternative Gegenwarten und Zukunftsprojektionen um 1914


Herausgeber
Kranz, Isabel
Erschienen
Paderborn 2017: Wilhelm Fink Verlag
Anzahl Seiten
289 S., 35 s/w Abb.
Preis
€ 39,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Sabine Mischner, Historisches Seminar, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg

Kontrafaktik und Geschichte der Zeit – der von Isabel Kranz herausgegebene Sammelband „Was wäre wenn? Alternative Gegenwarten und Zukunftsprojektionen um 1914“ nimmt sich gleich zwei Kategorien vor, die in einem besonderen Verhältnis zur Geschichtswissenschaft stehen. Während sich kontrafaktische Geschichtsschreibung bereits seit einiger Zeit wachsender Beliebtheit (und Anerkennung) erfreut, haben deutsche Studien, die Zeit historisieren, erst seit Kurzem Konjunktur. Im deutschen Raum scheint dabei ‚Zukunft‘ besonderes Interesse hervorzurufen.1 Insofern schreibt sich dieser Sammelband auf doppelte Weise in eine rege Forschungslandschaft ein. Ebenso im Trend liegt der Angelpunkt, um den sich (fast) alles dreht: die Zeit um das Jahr 1914. Passenderweise hat die Konferenz, auf der dieser Band aufbaut, 2014 stattgefunden. Am Goethe-Institut in Prag diskutierten Teilnehmer/innen aus acht Ländern über „Alternative Gegenwarten und Projektionen in die Zukunft um 1914“. Im Sammelband schlägt sich diese nationale Vielfalt darin nieder, dass im Band neben deutschsprachigen drei tschechische Autor/innen vertreten sind.

So bekannt die übergreifenden Themen dieses Bandes auf den ersten Blick erscheinen mögen, so sehr sticht ihre Verknüpfung hervor. Kranz geht es dabei vor allem um die kontrafaktischen Geschichten. Kritikern wie Richard J. Evans, die kontrafaktischer Geschichtsschreibung vorwerfen, „keinen nennenswerten Beitrag“ zur Forschung (zitiert nach S. 13) zu leisten, setzt sie die Beiträge des Sammelbandes entgegen, die es zum Ziel haben, „dieses recht harsche Urteil zu widerlegen“ (S. 14). Dies geschieht, indem zwei Perspektiven eingenommen werden. Analysiert werden 1) aktuelle kontrafaktische Entwürfe, die sich auf die Zeit um 1914 beziehen, und 2) Zukunftsentwürfe um 1914. Gefragt wird, „wie die Dinge hätten anders verlaufen können“ (S. 14), mit der Absicht, „Fragen nach Kontingenz und Relativität neu zu stellen“ (S. 27), also die Offenheit von Geschichte stärker zu akzentuieren und historiographische Erzählmuster zu dekonstruieren. Kranz weist in diesem Zusammenhang mehrfach darauf hin, dass sich insbesondere kontrafaktische Geschichtserzählungen als „Prüfsteine für die epistemologischen Voraussetzungen von Geschichtsschreibung und -erzählungen verstehen“ (S. 22) lassen – eine nicht gerade neue, aber legitime Vorgehensweise.2

Insgesamt zeichnen sich die Beiträge durch eine beeindruckende Materialvielfalt aus. Historische Zukunftsromane, Science-Fiction-Filme aus dem Ersten Weltkrieg, verfilmte Relativitätstheorie, Romane aus den 2000er-Jahren, strenge geschichtswissenschaftliche kontrafaktische Studien, Computerspiele mit historischem Rahmen, Militärmuseen – jede/r, der/die sich für Kontrafaktik, Zeit oder die Imagination des Ersten Weltkriegs interessiert, dürfte in diesem Band eine bereichernde, überraschende Perspektive finden. Dabei fällt ins Auge, dass historischen Zukunftsprojektionen deutlich weniger Raum gegeben wird als Beiträgen zu kontrafaktischer Geschichte. Diese Asymmetrie trägt wie auch die Vielfalt der Perspektiven dazu bei, dass sich der Band (wie so viele Sammelbände) mehr wie eine faszinierende Sammlung liest denn als Werk aus einem Guss.

So findet sich in dieser Sammlung u.a. der anregende Aufsatz von Lucian Hölscher, der historische Zukunftsvorstellungen thematisiert, welche nicht eingetreten sind. Anhand von Zukunftsromanen und politischen Pamphleten analysiert Hölscher mehrere um 1900 formulierte Alternativen zur Gesellschaftsentwicklung, die im sozialistischen und im nationalistischen Bereich des politischen Spektrums angesiedelt waren. An dieser Stelle seien jedoch besonders seine theoretischen Leithypothesen zur Kontrafaktik hervorgehoben. So geht er davon aus, dass „[k]ontrafaktische Geschichtsannahmen […] historisch besonders dann aussagekräftig [sind], wenn sie schon in einer vergangenen Entscheidungssituation als zukunftsgerichtete Frage aufgeworfen wurden“ (S. 45). Auf dieser Grundlage resümiert er überzeugend, dass die alternativen Zukunftsvorstellungen um 1900 vieles enthalten, was uns heute unrealistisch oder nicht mehr erstrebenswert erscheint. Damit seien sie für (aussagekräftige) kontrafaktische Fragen nur begrenzt anknüpfungsfähig. Genau an solchen Stellen, wo beide Stoßrichtungen des Bandes produktiv aufeinander bezogen werden, tritt das ganze Potenzial dieser Herangehensweise deutlich hervor.

Präsenter ist ein anderer Strang der Auseinandersetzung, der sich mit der Wirkung kontrafaktischer Überlegungen und den Motiven ihrer Autor/innen befasst. Analog zu den Zeitgenoss/innen um 1914, deren Vorstellungen von der Zukunft gegenwärtige Zukünfte darstellten, äußern sich aktuelle kontrafaktische Szenarien explizit oder implizit über unsere Gegenwart. Letztere beinhalten aber genauso Annahmen darüber, wie offen oder wie determiniert der Weg zu unserer Gegenwart war. Angela Schwarz argumentiert in ihrem Beitrag über kontrafaktische Gedankenexperimente im Computerspiel präzise und überzeugend, dass Medien wie Computerspiele dabei helfen können, Geschichte weniger linear zu begreifen und die Dekonstruktion von Narrativen anzustoßen. Ähnlich macht sich Nina Engelhardt in ihrem Beitrag zu Thomas Pynchons „Against the Day“ dafür stark, Literatur als Möglichkeit ernst zu nehmen, offene Zukunftsprojektionen vor dem allgegenwärtigen Argument der ‚Alternativlosigkeit‘ seit 9/11 zu retten. Gekonnt arbeitet sie heraus, wie Pynchon die Vorkriegszeit als eine darstellt, in der sich Handlungsmöglichkeiten immer mehr verengen, also die ‚Zukunftsmöglichkeiten‘ (S. 141) abnehmen. Obwohl Naturwissenschaft und Technik bei Pynchon eine ambivalente Stellung einnehmen, tragen sie in seiner Erzählung dennoch das Potenzial in sich, „Möglichkeiten zu Pluralität zu bewahren“ (S. 157).

Schließlich sei noch auf den souveränen, bisweilen polemischen Beitrag von Elena Messner hingewiesen, der die ideologischen Grundlagen von kontrafaktischen Geschichtsentwürfen zum Ersten Weltkrieg im öffentlichen Diskurs (Militärmuseum, Geschichtswissenschaft, Zeitung, Roman) um 2014 untersucht. Auch wenn die ein oder andere Interpretation recht weit gehen mag, bringt Messner ein berechtigtes Unbehagen fundiert auf den Punkt. Denn es ist in der Tat auffällig, welche politischen Implikationen in vielen kontrafaktischen Szenarien stecken: In den skizzierten Alternativverläufen fällt der Erste Weltkrieg aus, meist auch gleich der Zweite inklusive Holocaust – allein das ist hochproblematisch. Europa wird von konservativ-monarchischen Großmächten beherrscht, zu denen Deutschland gehört, das sich entsprechend selbstbewusst als Weltmacht etablieren kann, ohne sich vom nationalsozialistischen Makel zurückhalten lassen zu müssen. Messner unterzieht solche Szenarien nicht nur einer methodologischen Kritik, sondern weist vor allem darauf hin, wie gefährlich die Form ist, in der sie veröffentlicht werden. Oftmals als Feuilletonartikel verfasst und damit im Gewand der privaten, melancholischen Gedankenspielerei, seien sie schwer diskutier- und angreifbar. Da insbesondere die Entlastungsthesen zum Ersten Weltkrieg so gefährliche Implikationen haben können, sollten sie wie von Messner gegen den Strich gelesen werden, um ihre Leerstellen aufzudecken und ihre politisch keineswegs neutralen alternativen Gegenwartsentwürfe kritisch zu beleuchten.

Zusammengefasst bietet der Sammelband viele interessante und weiterführende Beobachtungen. In diesem Rahmen kann leider nicht auf alle anderen lesenswerten Beiträge eingegangen werden, auf die klugen, konzisen kontrafaktischen Szenarien von Dagmar Hájková und Marcus Mühlnikel; auf Oldřich Tůmas hervorragenden Überblick über die Konjunkturen tschechischer kontrafaktischer Geschichtsschreibung; auf Britta Langes erhellenden Einblick in Sci-Fi-Filme aus dem Ersten Weltkrieg; und auf die anderen Texte des Sammelbandes. Ein Kritikpunkt betrifft das Lektorat: Während das Buch ästhetisch aufwendig und ansprechend gestaltet worden ist, so hätte es doch wie viele wissenschaftliche Publikationen von einem sorgfältigeren Lektorat von Verlagsseite profitiert. Stilistisch hätte bspw. manchen der Übersetzungen eine Überarbeitung nicht geschadet. In diesem Zuge wäre vermutlich auch aufgefallen, dass ‚Deutsches Heer‘ die gängige Bezeichnung für die Landstreitkräfte im Ersten Weltkrieg war, und nicht „Wehrmacht“ (S. 163); ebenso gibt es eine Reihe kleiner Fehler und Uneinheitlichkeiten, die leicht zu beheben gewesen wären.

Ist davon auszugehen, dass ein Kritiker wie Richard J. Evans sich nach der Lektüre dieses Sammelbandes komplett widerlegt sähe? – Vermutlich nicht, nicht zuletzt, weil der Band theoretisch und methodisch nicht diszipliniert genug argumentiert, wie überhaupt die Vielfalt der Perspektiven der inhaltlichen Kohärenz leider entgegensteht. Auch ist die Notwendigkeit, kontrafaktische Geschichten und historische Zukunftsvorstellungen zusammendenken zu müssen, nicht schlüssig belegt worden. Aber heißt das, dass der Mehrwert deswegen nicht nennenswert ist, wie Evans bei solchen Unternehmungen vermutet? – Nein, im Gegenteil! Dieser Band versammelt einige Fundstücke, die großartige Beispiele für eine engagierte, fundierte und reflektierte Auseinandersetzung mit kontrafaktischer Geschichte wie auch mit historischen Zukunftsvorstellungen darstellen. Insbesondere in Bezug auf die vielen kontrafaktischen Szenarien zum Ersten Weltkrieg finden sich darin nicht nur kluge wissenschaftliche Überlegungen, sondern auch bitter nötige Beobachtungen, die ihren Blick souverän über den Tellerrand der Wissenschaft hinaus auf die politischen Implikationen solcher Erzählungen richten.

Anmerkungen:
1 Vgl. die zitierte Literatur in Martina Heßler über Radkau, Joachim, Geschichte der Zukunft. Prognosen, Visionen, Irrungen in Deutschland von 1945 bis heute. München 2017, in: H-Soz-Kult 20.06.2017, http://www.hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuecher-27105 (01.04.2018).
2 Max Weber, Objektive Möglichkeit und adäquate Verursachung in der historischen Kausalbetrachtung (1906), in: ders., Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, hrsg. v. Johannes Winckelmann, Tübingen 1988, S. 266–291; Chris Lorenz, Konstruktion der Vergangenheit. Eine Einführung in die Geschichtstheorie, Köln 1997 (1. niederländ. Aufl. 1987).

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