C. Norwig: Die erste europäische Generation

Cover
Titel
Die erste europäische Generation. Europakonstruktionen in der Europäischen Jugendkampagne 1951–1958


Autor(en)
Norwig, Christina
Reihe
Göttinger Studien zur Generationsforschung. Veröffentlichungen des DFG-Graduiertenkollegs »Generationengeschichte« 21
Erschienen
Göttingen 2016: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten
360 S., 3 SW-Abb.
Preis
€ 36,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Anne Bruch, Georg-Eckert-Institut – Leibniz-Institut für internationale Schulbuchforschung, Braunschweig

Studien zur europäischen Integrationsgeschichte sind vielfältiger geworden. Sie beschränken sich nicht mehr auf die klassischen Themenfelder der Politik- und Ideengeschichte, sondern greifen oftmals alltags- und kulturhistorische Fragen auf, um die vielschichtigen Prozesse der Europäisierung seit den frühen 1950er-Jahren nachzuzeichnen. In diesem Zusammenhang werden nun auch bislang marginalisierte zivilgesellschaftliche Akteure stärker berücksichtigt, deren Ziel es war, die Herausbildung eines europäischen Bewusstseins zu fördern sowie die Europabildung zu verbessern.1 Eine zentrale Rolle nimmt dabei die „erste europäische Generation“ ein, die in den 1950er-Jahren idealistisch und tatkräftig die föderale Einigung der (west)europäischen Staaten forderte. Die damit verbundenen Europakonstruktionen und politischen Aktivitäten stehen im Mittelpunkt der jetzt als Buch vorliegenden Göttinger Dissertation von Christina Norwig. In ihrer Arbeit setzt sich die Autorin mit der Europäischen Jugendkampagne auseinander, deren umfangreicher Quellenbestand im Historischen Archiv der Europäischen Union (Florenz) archiviert ist. Bei dieser Mobilisierungskampagne handelt es sich um die erste Initiative, die auf transnationaler Ebene von der Europäischen Bewegung in mehr als 15 europäischen Ländern zwischen 1951 und 1958 durchgeführt wurde. Durch Seminare, Diskussionsabende, Studienreisen, Ausstellungen und Jugendparlamente sollten Jugendliche in den Entstehungsprozess eines vereinten Europas einbezogen und von der Idee „Europa“ überzeugt werden. Die Kampagne, die weder parteipolitisch noch konfessionell orientiert war, arbeitete mit ca. 500 Jugendverbänden in Europa zusammen und konnte auf diesem Wege Einfluss auf deren Bildungsarbeit nehmen.

Norwig untersucht, wie umfangreich die Generations- und Europadiskurse in den Anfangsjahren der europäischen Integration miteinander verwoben waren. Die erste Nachkriegsgeneration wurde dabei anfangs sowohl von der Öffentlichkeit als auch von Politikern ambivalent beurteilt. So galt sie in Bezug auf ihr politisches Engagement einerseits als jung, enthusiastisch, revolutionär und visionär, andererseits als lethargisch, desinteressiert, skeptisch und konsumorientiert. Diese Bewertungen waren Ausdruck der symbolischen Implikationen von „Jugend“ und ihrer dynamischen Konstruktion. Die Europa-Aktivisten verknüpften bald die positiv bewerteten Attribute mit der Idee „Europa“ und nutzten sie für das Projekt der europäischen Integration. Die „erste europäische Generation“ stand dadurch für einen „unbelasteten Neuanfang“ (S. 307), da die jüngeren Akteure die alten nationalen Ressentiments und Konflikte – wenn überhaupt – nur als leidtragende Kinder und Jugendliche erlebt hatten. Sie galten laut Norwig „als Opfer des übersteigerten Nationalismus ihrer Elterngeneration“ (S. 306), die nun endlich die Vergangenheit überwinden und sich unvoreingenommen begegnen konnten, um ein vereintes Europa neu zu gestalten. In ihren Ausführungen macht die Autorin aber auch deutlich, dass die Selbstzuschreibung der „ersten europäischen Generation“, die in öffentlichen Reden und Publikationen als politisches Motiv beharrlich betont wurde, durchaus offen in der Definition blieb. Sie umfasste eben nicht nur junge Erwachsene, sondern auch solche Europabefürworter, die bereits in der Zwischenkriegszeit sowie im Widerstand Pläne für ein vereintes Europa entworfen hatten. Entsprechend vertritt Norwig die These, dass diese „Generation“ in der Europäischen Jugendkampagne „als ein Argument“ diente, „um die Ziele der Europäischen Bewegung über alters-, national und politisch bedingte Unterschiede hinweg öffentlichkeitswirksam zu untermauern“ (S. 30).

Darüber hinaus geht Norwig zum einen der Frage nach, „welche Rolle die Jugend auf einer handlungspraktischen und einer kulturellen Ebene für die Neuerfindung Europas spielte“ (S. 18), und zum anderen, „wie Jugendliche im Rahmen ihrer Möglichkeiten an der europäischen Einigung partizipierten oder im Ost-West-Konflikt Stellung bezogen“ (S. 40). Diese zwei Leitfragen beantwortet sie in fünf inhaltlichen Kapiteln, die sich methodologisch in der Kulturgeschichte verorten lassen. Der Ausgangspunkt ihrer Untersuchung ist die Europäische Jugendkampagne im Kontext der europäischen Integration, die vor dem Hintergrund des Kalten Krieges initiiert wurde und in den beiden ersten Kapiteln behandelt wird. Norwig beschreibt ausführlich den politischen Hintergrund, die Vorgeschichte der Jugendkampagne sowie die Organisationsstrukturen und Ziele. Im Zentrum stehen die verschiedenen Akteure, die sich auf zivilgesellschaftlicher und staatlicher Ebene mit europapolitischen Initiativen beschäftigt haben. Deutlich werden hier die engen Verflechtungen zwischen den diversen Europaverbänden, Interessengruppen und nationalstaatlichen Politikern, die häufig in einer Doppelfunktion als Verbandsmitglieder transnationaler Vereinigungen und Vertreter nationaler Regierungen bzw. Parteien agierten. Ferner zeichnet Norwig die Interessen des American Committee on United Europe (ACUE) nach, das über sieben Jahre hinweg die Arbeit der Europäischen Jugendkampagne maßgeblich finanzierte. Hinter dem ACUE standen nicht nur einflussreiche Privatleute, die sich für eine europäische Einigung einsetzen, sondern auch Vertreter aus Wirtschaft und Politik sowie hochrangige US-amerikanische Diplomaten und Geheimdienstmitarbeiter wie Clare Boothe Luce und Allen W. Dulles. Ziel dieser finanziellen Förderung war es, den Jugendlichen durch eine Vielzahl von „Aktionen, Medien und Maßnahmen Informationen zu europäischen Themen zu vermitteln“ (S. 102). Bildungsangebote zur Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) und zur Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG), die bis August 1954 diskutiert wurde, hatten im Zusammenhang mit dem sich verstärkenden Ost-West-Konflikt oberste Priorität.

Darüber hinaus diskutierten die Verantwortlichen der Kampagne, ob man spektakuläre Aktionen wie den „Studentensturm“ an den deutsch-französischen Grenzübergängen Sankt Germanshof / Wissembourg und Hirschthal im August und November 19502, die sich daran anschließende Protestkundgebung vor dem Europarat sowie das westeuropäische Jugendtreffen auf der Loreley von 1951 wiederholen solle. Nach der nicht erfolgten Ratifizierung des EVG-Vertrags durch die französische Nationalversammlung entschieden sich die Organisatoren der Europäischen Jugendkampagne aber für eine Neuorientierung der Bildungsarbeit, die sich stärker auf gruppenspezifische Veranstaltungen, Fortbildungen und Publikationen konzentrierte. Mit dem Inkrafttreten der Römischen Verträge 1958 war für das ACUE als wichtigstem Geldgeber schließlich ein zentrales Ziel der europäischen Integration erreicht, sodass die Kampagne nicht mehr in der Lage war, ausreichende Gelder einzuwerben, und sukzessive ihre Arbeit einstellte.

In den drei folgenden Kapiteln vertieft Norwig ihre kulturhistorische Studie, indem sie sich mit einzelnen Aspekten und Themen der Europakonstruktionen von Jugendlichen, die innerhalb der Europäischen Jugendkampagne aktiv waren, auseinandersetzt. Hierzu greift sie zum einen das Motiv eines grenzenlosen Europas auf. Dabei geht es ihr nicht nur um die real existierenden und behindernden Grenzen in einem vereinten Europa, sondern auch um die kulturellen Grenzziehungen, Stereotypen und Nationenbilder, die durch Reisen, Austausch und Bildung überwunden werden sollten. Zudem beschäftigt sich Norwig mit der Frage, welche kulturellen Zuschreibungen und Argumente die Akteure nutzten, um die kulturelle und geopolitische Einheit Europas zu belegen. Dies wird insbesondere durch die „Ost-West-Abgrenzungen“ (S. 250) deutlich, die sich vor dem Hintergrund des Kalten Krieges abspielten und eine stark antikommunistische Rhetorik aufwiesen. Schließlich zeichnet Norwig die Auseinandersetzung Jugendlicher mit Kriegserfahrungen und Vergangenheitsbewältigung nach, um zu zeigen, dass eine Europäisierung der nationalen Geschichte angestrebt worden sei.

Norwig schildert in ihrer Arbeit, wie der Jugendmythos, der diskursiv in Auseinandersetzung mit älteren Politikern und Europa-Aktivisten konstruiert wurde, in Relation zum Prozess der Europäischen Integration gesetzt wurde. Sowohl die Bildungsarbeit als auch die symbolischen Aktionen, die von Jugendlichen initiiert wurden, trugen dazu bei, Erinnerungsorte zu schaffen, die eine gemeinsame europäische Identität generieren sollten. Norwigs Untersuchung der Europäischen Jugendkampagne und der europabegeisterten Jugendlichen in den 1950er-Jahren stellt einen wichtigen Beitrag zu den Identitätskonstruktionen dar, die zwar teilweise von den politischen Eliten unterstützt wurden, sich aber in wesentlichen Aspekten von den offiziellen Erklärungen der Politiker unterschieden. Es zeigt sich, dass die Jugendlichen nicht nur skeptisch gegenüber politischer Indoktrination und Instrumentalisierung waren, sondern auch eine zügigere und stärker föderal orientierte Integration der westeuropäischen Staaten forderten.

Insgesamt zeichnet Christina Norwig ein nuanciertes Bild vom Beziehungsgefüge zwischen der Europäischen Jugendkampagne, nationalen wie supranationalen Europa-Akteuren und verschiedenen Europakonstruktionen. Als kleiner Kritikpunkt soll aber erwähnt werden, dass die jeweiligen Kapiteleinleitungen und Zwischenresümees zwar der unmittelbaren Leserführung dienen, allerdings zugleich Redundanzen erzeugen, die entbehrlich wären. Eine vertiefte Überarbeitung der Dissertation, auch die Ergänzung durch ein Personenregister, wäre sinnvoll gewesen. Diese eher marginalen Einwände, die sich mehr auf die formalen Aspekte der Arbeit beziehen, beeinträchtigen jedoch in keiner Weise den wissenschaftlichen Gewinn der Untersuchung: Sie stellt einen wichtigen kulturhistorischen Beitrag zur Geschichte der europäischen Integration dar und wirft in der derzeitigen Krisenatmosphäre der EU ein neues Licht auf die Ursprünge der europäischen Identitätsdebatte nach dem Zweiten Weltkrieg.

Anmerkungen:
1 Katja Seidel, The Process of Politics in Europe. The Rise of European Elites and Supranational Institutions, London 2010; Eugen Pfister, Europa im Bild. Imaginationen Europas in Wochenschauen in Deutschland, Frankreich, Großbritannien und Österreich 1948–1959, Göttingen 2016; Gabriele Clemens (Hrsg.), Werben für Europa. Die mediale Konstruktion europäischer Identität durch Europafilme, Paderborn 2016.
2 Siehe den ausführlichen Zeitzeugenbericht von Matthias W.M. Heister, Der Studentensturm auf die Grenzen 1950. Für ein föderales Europa. Fakten – Probleme – Hintergründe – Konsequenzen, Bonn 2015.