J. Kocka: Arbeiterleben und Arbeiterkultur

Cover
Titel
Arbeiterleben und Arbeiterkultur. Die Entstehung einer sozialen Klasse


Autor(en)
Kocka, Jürgen
Reihe
Geschichte der Arbeiter und der Arbeiterbewegung in Deutschland seit dem Ende des 18. Jahrhunderts 3
Erschienen
Anzahl Seiten
509 S.
Preis
€ 68,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Stefan Goch, Fakultät für Sozialwissenschaft, Sektion Politikwissenschaft, Ruhr-Universität Bochum

Seit den 1980er-Jahren erscheinen in der vom inzwischen verstorbenen Gerhard A. Ritter herausgegebenen Reihe „Geschichte der Arbeiter und der Arbeiterbewegung in Deutschland seit dem Ende des 18. Jahrhunderts“ Grundlagenwerke zur Geschichte der Arbeiterbewegung und der Arbeiter(bewegungs)kultur in oft großen zeitlichen Abständen, dabei im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts mit einer langen Pause.1 Hier zeigt sich, dass die Geschichtsarbeit zur Arbeiterschaft und ihrer Bewegungen schon lange keine Konjunktur mehr hat. Insofern es ist ausgesprochen spannend, dass Jürgen Kocka 25 Jahre nach seiner Veröffentlichung des Bandes zwei in der Reihe zu den Grundlagen der Klassenbildung im 19. Jahrhundert2 nun den Folgeband zur Herausbildung einer Arbeiterklasse vorlegt.

In dem neuen Band geht es nun vorrangig für die mittleren Jahrzehnte des 19. Jahrhundert um eine Sozialgeschichte der Arbeiterschaft und ihrer Bewusstwerdung als sozialer Klasse, die sich schließlich in Arbeiterbewegungen auch organisierte. Dabei will Jürgen Kocka gerade nicht zu reduktionistisch und deterministisch aus dem Arbeiterleben die Bildung von Arbeiterkultur und der Arbeiterbewegung ableiten, sondern die vielfältigen Einflussfaktoren auf die Entwicklung von Arbeiterkulturen und Arbeiterbewegungen herausarbeiten. Hier zeigt sich ein differenzierter Blick, der sich in den vergangenen Jahren aus der wissenschaftlichen Beschäftigung mit anderen gesellschaftlichen Formationen wie bürgerlichen Schichten, mit dem Scheitern des Kommunismus, mit den negativen Folgen von Modernisierung und mit kulturalistischen und linguistischen Fragestellungen ergeben hat. Entsprechend beschäftigt sich der Band mit der Entwicklung von Arbeiterleben und Arbeiterkultur und der Herausbildung der Arbeiterbewegungen unter dem Einfluss der Durchsetzung des Industriekapitalismus, den Bedingungen des Aufstiegs einer bürgerlichen Gesellschaft und der deutschen Politikgeschichte. Zu Recht verzichtet Jürgen Kocka nicht auf den Modernisierungsbegriff und hinterfragt die Auswirkungen der damit verbundenen Prozesse auf die Bevölkerung insgesamt und die Arbeiterschaft im Besonderen. Die Arbeiterklasse konstituierte sich durch ihre ökonomische Stellung als Lohnarbeiterschaft, die damit verbundenen Interessen als „Klasse an sich“, gemeinsame Erfahrungen und die Einsicht in Zusammengehörigkeit sowie schließlich die Erkenntnis gemeinsamer Handlungsfähigkeit als „Klasse für sich“ (S. 25). Damit orientiert Jürgen Kocka sich am klassenanalytischen Vorgehen, ohne allerdings dessen Reduktionismus und Determinismus zu folgen, indem er gerade auch soziale und kulturelle Dimensionen und gegenläufige Entwicklungen berücksichtigt.

Seinen Band von 1990 rekapitulierend beschreibt Jürgen Kocka zunächst die sozioökonomischen Umwälzungen, die zur Durchsetzung von Lohnarbeit führten. An die Stelle überlieferter Abhängigkeitsverhältnisse traten neue Konflikte zwischen Arbeitgebern bzw. Unternehmern und Lohnarbeitern unterschiedlicher Kategorien. Es schließt sich eine Darstellung der vielfach von Armut, Not und Schicksalsschlägen gekennzeichneten Lebensbedingungen des Proletariats unter den Bedingungen des sich durchsetzenden Industriekapitalismus an. Allerdings erlebten kontinuierlich beschäftigte Arbeiter und qualifizierte Handwerkerarbeiter aber auch wesentliche Verbesserungen ihrer Lebenssituation, stabile Versorgung und erste Konsummöglichkeiten. Solche Ungleichheiten und die Relativität von Armut werden im Unterschied zu Elendsschilderung zur Frühzeit des Kapitalismus hervorgehoben und eindrucksvoll aus den Quellen dargestellt.

Hier entwickelte sich nun die Abgrenzung des wachsenden Proletariats bzw. der verschiedenen Gruppen des Proletariats von „den Kapitalisten“ und den (bürgerlichen) Führungsschichten sowie von den unterproletarischen Schichten und die Herausbildung eines Zusammengehörigkeitsgefühls, allerdings milieuhaft gespalten zwischen den sich entwickelnden Zweigen der Arbeiterbewegung. Mit Fragestellungen der Geschlechtergeschichte, der Familiengeschichte und der Generationengeschichte wird das Leben der Arbeiter und ihrer Familien aus den Quellen erarbeitet. Hier ergaben sich nun deutliche Abgrenzungen von der sich gleichzeitig entwickelnden bürgerlichen Gesellschaft, deren Vorstellungswelten und Lebensweisen.

Zur Klassenbildung trugen auch die oft übersehene erhebliche Mobilität der Arbeiter im Sinne unterschiedlicher lebensgeschichtlicher Stationen und sozialer Auf- und auch Abstiege sowie von Bewegungen im Raum und die Beeinflussungen durch die internationale Geschichte der Arbeiterschaft und ihrer Bewegungen bei. Hier wuchs eine soziale Formation heran, die gegenüber anderen Gruppen der aufziehenden Industriegesellschaft abgegrenzt war.

Vor diesen Hintergründen entstanden spezifische Arbeiterkulturen, in denen die Erfahrungen des Arbeiterlebens gedeutet und verarbeitet wurden und in denen sich Mentalitäten und Verhaltensweisen sinnhaft verdichteten. Jürgen Kocka knüpft dabei an die von ihm selbst wesentlich mitgestaltete Diskussion um Arbeiterkultur und Alltagsgeschichte an. Er fragt nach gruppenspezifischen Wahrnehmungsweisen, Deutungsmuster, Verhaltensformen, Mentalitäten, Kommunikationsformen, Selbstverständnissen und Selbstabgrenzungen. Überzeugend werden miteinander vernetzte Gruppenkulturen identifiziert, in denen eine Arbeiterklasse sichtbar wird, die sich abgrenzt von einer älteren Volkskultur und Gruppenkulturen der entstehenden bürgerlichen und der herrschenden Gesellschaft. Die Analysen berücksichtigen überlieferte Lebensberichte aus den Arbeiterfamilien zu Kindheiten, Bildung, Religion, Freizeit, Arbeit und Beruf.

Die Klassenbildung ging aber nicht allein aus den Strukturen der Lohnarbeit hervor, sondern war vielfältig verwoben mit Prozessen wie der Industrialisierung, der Urbanisierung, mit konflikthaften Auseinandersetzungen wie den Arbeitskämpfen, mit den Beziehungen zu anderen Gruppen und Schichten sowie der öffentlichen Diskussion. Und schließlich war die Klassenbildung in ihrer besonderen deutschen Ausprägung auch ein Produkt der deutschen Politikgeschichte. Dafür untersucht Jürgen Kocka die Wahrnehmung der Arbeiterschaft durch die anderen sozialen Gruppen der Gesellschaft, die Aktivität und Auseinandersetzung der Arbeiterschaft in der bürgerlichen Gesellschaft und schließlich die Auseinandersetzungen der Arbeiterschaft mit der Obrigkeit. Dabei zeigt sich der Beitrag der anderen Akteure der Industriegesellschaft zur Herausbildung eines spezifischen Selbstverständnisses der Arbeiter und zu ihrer Klassenbildung. Der Druck auf die Arbeiterschaft und die gesellschaftlichen Konflikte schufen bei den verschiedenen Gruppenkulturen der Arbeiter eine übergreifende Klassenidentität. Diese Klassenidentität führte nach Anfängen in der 1848er Revolution in den 1860er-Jahren zur selbständigen Organisierung in einer vor allem politischen sozialdemokratischen Bewegung und sekundär gewerkschaftlichen Arbeiterbewegung. Andere Gruppenkulturen der Arbeiterschaft erlangten in konfessionellen oder auch im Umfeld der Liberalen nur relative Eigenständigkeit. Mit dem Auftreten und raschen Aufstieg einer sozialdemokratischen Arbeiterbewegung und deren Bekämpfung durch die gesellschaftlichen Führungsschichten spitzte sich dann der Klassengegensatz zu.

Die Vielfältigkeit der Fragestellungen, mit denen das Arbeiterleben analysiert wird, und die gezeigte Differenziertheit der Klassenkultur der Arbeiterschaft erklären letztlich auch, dass die entstandene Arbeiterklasse und ihre Bewegung nicht nur als bloße Interessenvertretung der Arbeiterschaft wirken konnte, sondern in ihrem Kern auch allgemeine Interessen und Gemeinwohlvorstellungen vertrat.

Jürgen Kocka ist eine Geschichte der Arbeiter, des Arbeiterlebens, der Arbeiterkultur und der Bewegungen der Arbeiter auf der Höhe der Zeit gelungen, die deutlich macht, welche enorme Erklärungskraft der Arbeitergeschichte innewohnt. Ohne Berücksichtigung der Arbeitergeschichte und der Auseinandersetzung mit den Realitäten des Lebens und den Erfahrungen der abhängig Beschäftigten bleibt Geschichtsarbeit unvollständig und in ihrer Erklärungskraft begrenzt. Es ist an der Zeit, nach den diversen Wendungen der Geschichtswissenschaft auch wieder verstärkt die arbeitenden Menschen in den Blick zu nehmen.

Anmerkungen:
1 Leider fehlen gerade die Bände zu den organisierten Arbeiterbewegungen, deren Politik und den Spannungen im Kaiserreich sowie zum Ersten Weltkrieg. Gerhard A. Ritter, Zum Gesamtwerk, in: Jürgen Kocka, Weder Stand noch Klasse. Unterschichten um 1800, (Geschichte der Arbeiter und der Arbeiterbewegung in Deutschland seit dem Ende des 18. Jahrhunderts 1), Bonn 1990, S. 11–21.
2 Jürgen Kocka, Arbeitsverhältnisse und Arbeiterexistenzen. Grundlagen der Klassenbildung im 19. Jahrhundert (Geschichte der Arbeiter und der Arbeiterbewegung in Deutschland seit dem Ende des 18. Jahrhunderts 2), Bonn 1990.