J. Schmidt: Arbeiter in der Moderne

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Titel
Arbeiter in der Moderne. Arbeitsbedingungen, Lebenswelten, Organisationen


Autor(en)
Schmidt, Jürgen
Erschienen
Frankfurt 2015: Campus Verlag
Anzahl Seiten
283 S.
Preis
€ 29,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Franziska Rehlinghaus, Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam

Wo ist er geblieben, der Arbeiter in der Geschichte? Einst wirkmächtiger gesellschaftlicher und politischer Akteur, bedeutungsvolles Sinnbild mit teilweise ikonischer Qualität, analytische Kategorie und dementsprechend bevorzugtes Untersuchungssubjekt der Sozialgeschichtsschreibung Bielefelder Prägung, wirkt eine Geschichte des Arbeiters oder der Arbeiterin im 21. Jahrhundert fast wie ein Atavismus, der mit konkreten Erfahrungen im westlichen Europa der Gegenwart kaum noch etwas zu tun zu haben scheint. Dass dieser mittlerweile zum Gemeinplatz gewordene Abgesang mit einem verengten Blick zu tun hat, der nicht nur globalgeschichtliche Entwicklungen ignoriert1, sondern auch den Gestaltwandel des Arbeiters als Sozialtypus nicht ernst genug nimmt, macht Jürgen Schmidt gleich in der Einleitung seiner „Geschichte der Arbeiter in der Moderne“ deutlich. Im Sinne der New Labour History, die sich seit einigen Jahren auch in Deutschland als eine um kulturgeschichtliche Fragestellungen erweiterte Geschichte der Arbeit versteht2, verfolgt Schmidt die Geschichte der Arbeiter in den vergangenen zwei Jahrhunderten als eine Sozialgruppe, die aktiv in die vielfältigen gesellschaftlichen Wandlungsprozesse der Moderne involviert war.

Damit hat Schmidt sich einer großen und schwierigen Aufgabe angenommen. Die Geschichte der Arbeiterschaft in Deutschland über zwei Jahrhunderte, fünf politische Systeme und vier industrielle Revolutionen auf circa 240 Seiten zusammenzufassen, scheint ein schier aussichtsloses Unternehmen. Und so liefert der in der Einleitung als „Einführung“ gekennzeichnete Band so auch keine neuen, quellenbasierten Untersuchungsergebnisse, sondern vielmehr eine luzide Zusammenfassung des gegenwärtigen Forschungsstandes zur Geschichte einer sozialen Gruppe, deren heterogene Lebens-, Arbeits- und Organisationswelten die Frage legitim erscheinen lässt, ob so etwas wie eine genuine Arbeiteridentität überhaupt je existierte. Schmidt bedient sich bei der Abgrenzung seines Untersuchungsobjektes einer Grunddefinition: Er untersucht Bevölkerungsgruppen, „die körperliche, abhängige (Lohn-)Arbeit zum Zweck der Lebenssicherung“ verrichten und „gemeinsame soziokulturelle Merkmale“ teilen (S. 14). Dass sich Schmidt dabei vom durchaus hinterfragbaren Klassenbegriff leiten lässt, der den Fokus auf kollektive innergesellschaftliche Ungleichheitsbedingungen und -erfahrungen, aber auch auf integrierende Beziehungsgeflechte richtet (S. 30), wird in der Studie immer wieder deutlich. Schmidt sucht nach dem, was die Arbeiterschaft zusammenhielt und identifizierbar machte, ohne jedoch Binnendifferenzierungen und multiple Gruppenzugehörigkeiten aus dem Blick zu verlieren.

Er wählt dafür eine Annäherung, die dem Gegenstand aus einer historischen Perspektive durchaus angemessen ist: Schmidt beginnt die Geschichte der Arbeiter in der Moderne bei den materiellen Bedingungen des Seins, um bei den Ausprägungen ihres politisch-ideologischen Bewusstseins zu enden. In vier großen Kapiteln widmet er sich der Lebenswelt, der Arbeitswelt, der Arbeiterkultur und der Organisationsgeschichte der Arbeiterschaft. Dabei nimmt er den Leser mit in verschiedene soziale Kosmen, die ihre Prägung eben nicht allein durch Art und Ort manueller Tätigkeit, sondern auch durch Formen des Wohnens und des Konsums, der Mobilität, der Freizeitgestaltung, der Bildung, der Werte und Religiosität, des Geschlechts, der politischen Überzeugungen, der ideologischen Prägungen und der Selbstorganisation und Mobilisierung erhielten. Auch die Beziehungen zu anderen sozialen Gruppen werden punktuell immer wieder ausgeleuchtet.

Folgen insbesondere die ersten beiden dieser Kapitel noch einem deutlichen sozialhistorischen Narrativ, das die Arbeiterschaft auch mit Hilfe statistischer Daten aus einer Vogelperspektive in den Blick nimmt, begibt sich Schmidt in den folgenden Kapiteln in die Lebenswelten und Deutungshorizonte der historischen Akteure hinein. Raum und Zeit, Körper und Geschlecht, Sprache und Begriffe, Praxis und Ikonographie finden als analytische Perspektiven Eingang in die Untersuchung. Mehr noch als die biographischen Miniaturen, mit denen er einzelne Unterkapitel einleitet, vermitteln die konkreten Analysen der Gemeinsamkeiten und Unterschiede von Arbeiter- und Arbeiterbewegungskultur im dritten Kapitel die Spannungsmomente, denen das individuelle Arbeiterleben ausgesetzt war. Die Dichotomie von gesellschaftlichen Partizipations- und Integrationsbedürfnissen einerseits, und andererseits dem Willen, über eine Gegenkultur auch eine andere Gesellschaft zu erschaffen, setzte sich in der Geschichte der Arbeiterorganisationen fort.

Überzeugend arbeitet Schmidt im letzten Kapitel heraus, dass der Ursprung der daraus resultierenden Konflikte in der doppelten Orientierung an der sozial-ökonomischen und der politischen Frage nach der Herrschaft im Staat lag, wobei „das jeweilige Mischungsverhältnis“ beider Anliegen stets umstritten blieb (S. 170). Konflikt- oder Konsensorientierung, Fundamentalopposition oder Übernahme von Verantwortung, Revolution oder Reform – diese Fragen stellten die Arbeiter als Teile der Belegschaft, als soziale Bewegung oder politische Partei immer wieder vor Zerreißproben, die teilweise in Spaltungen mündeten, die bis heute andauern.

Die Janusköpfigkeit der ideologischen Orientierungen der Arbeiterschaft skizziert Schmidt zuletzt an den Entwicklungen in den sozialistischen Staaten des ehemaligen Ostblocks. Auch hier entdeckt er die Wurzeln der Individualität negierenden uniformen Gesellschaftsgestaltung, die in Freund-Feind-Schemata gefangen war, in den utopischen Entwürfen der frühen Arbeiterbewegung, die die soziale Teilhabe für alle erst als das letzte Resultat eines dirigierten Klassenkampfes definierte.

Ohne Zweifel erweist sich Schmidt als Kenner der Materie, und das vor allem für das 19. Jahrhundert. Selbstverständlich muss er dabei exemplarisch arbeiten, bleibt häufig auch auf einer deskriptiven Ebene, argumentiert aber klug und differenziert, wenn er markante Entwicklungen thesenartig zuspitzt. Doch dabei setzt er für eine Einführung manchmal zu viel, für einen eigenständigen Forschungsbeitrag hingegen zu wenig Vorwissen voraus. In der Darstellung ist es wohl dem begrenzten Raum geschuldet, dass die Reise durch zwei Jahrhunderte deutscher Arbeitergeschichte zum Teil etwas dicht, schnell und zuweilen auch sprunghaft gerät, so dass sich der Leser immer wieder aufs Neue orientieren muss, in welchem Jahrhundert oder politischem System er sich gerade befindet und welche Bänder es sind, die alles zusammenhalten. Zudem verlässt Schmidt immer wieder den deutschen Untersuchungs- und Ereignishorizont, um auf Entwicklungen in der Arbeitergeschichte der (außer)europäischen Welt zu verweisen. Das zeugt zwar davon, dass er den eurozentrischen Zugriff selbstkritisch reflektiert, bekräftigt die Argumentationsgänge aber nur zum Teil, weil die konkreten Kontextualisierungen fehlen. Das ist in der gesamten Darstellung etwas problematisch: Schmidt skizziert zahlreiche, fast zu viele Entwicklungen und Aspekte seines Gegenstandes, was das etwas unbefriedigende Leseempfinden hinterlässt, überall einmal gewesen, nicht aber zum Kern der Dinge vorgedrungen zu sein.

Instruktiv sind dagegen die Abschnitte, in denen Schmidt sich und dem Leser auch einmal ein längeres Verweilen erlaubt, so, wenn er am Beispiel von Landwirtschaft, Druck-, Textil- und Bekleidungsindustrie unterschiedliche Branchenmilieus und Arbeitskulturen vorstellt und die Bedingungen und Folgen industrieller Wandlungsprozesse etwas detaillierter nachzeichnet (S. 86–93). Hier und an anderen Stellen gelingt es ihm, den bereits totgesagten Arbeiter und die Arbeiterin wieder lebendig werden zu lassen, weil hier offensichtlich wird, was deren Geschichte mit unserer Gegenwart zu tun hat.

Wer sich einen soliden Überblick über die Vielfalt der Forschungsergebnisse zur deutschen Geschichte der Arbeiter verschaffen möchte, ist mit Jürgen Schmidts informierter Erzählung sehr gut bedient. Der Band eignet sich für eine Orientierung in der Thematik, wobei ein Stichwortverzeichnis und eine weiterführende und gruppierte Quellen- und Literaturliste (zum Beispiel für Lehrzwecke) sinnvoll gewesen wären. Wer nach neuen und überraschenden Erkenntnissen sucht oder auf eine systematische und kritische Auseinandersetzung mit aktuellen Fragen der Labour history hofft, der muss von hier aus weiterlesen. Was durch das Buch sehr deutlich wird, ist, dass gerade für die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts noch viel zu erforschen bleibt, gerade dann, wenn man Arbeiter und Arbeiterinnen nicht nur als Getriebene, sondern auch als Träger/innen der fundamentalen Wandlungsprozesse in Wirtschaft, Gesellschaft, Kultur und Politik begreift, die unser Leben auch heute prägen.

Anmerkungen:
1 Siehe hierzu beispielsweise: Marcel van der Linden, Workers of the World. Eine Globalgeschichte der Arbeit, Frankfurt am Main 2016; Andreas Eckert (Hrsg.), Global Histories of Work, Berlin 2016.
2 Siehe dazu exemplarisch den Forschungsbericht von Kim Christian Priemel, Heaps of work. The ways of labour history, in: H-Soz-Kult, http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/forum/2014-01-001 (04.05.2017).

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