S. Diziol: Der Deutsche Flottenverein

Cover
Titel
Deutsche, werdet Mitglieder des Vaterlandes!. Der Deutsche Flottenverein 1898–1934. 2 Bde.


Autor(en)
Diziol, Sebastian
Erschienen
Anzahl Seiten
857 S.
Preis
€ 97,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Heiko Herold, Hamburg

Seit Jahrzehnten konzentriert sich die historische Forschung zur Kaiserlichen Marine auf den Schlachtflottenbau ab Ende der 1890er-Jahre sowie dessen Ursachen und Folgen, während andere Aspekte, wie beispielsweise die Einsätze deutscher Kriegsschiffe in Übersee, trotz oftmals guter Quellenlage, wenig Beachtung finden. Auch die hervorragende Studie von Sebastian Diziol über den Deutschen Flottenverein (DFV) steht in diesem Kontext, denn der DFV war letztlich ein von der Reichsleitung geschaffenes Instrument, um die bürgerlichen Massen für die Kaiserliche Marine und den Bau einer großen deutschen Schlachtflotte zu begeistern. Und das mit Erfolg: Immerhin entwickelte sich der DFV von seiner Gründung im April 1898 bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs im August 1914 zum „mitgliederstärkste[n] nationale[n] Propagandaverein des wilhelminischen Kaiserreichs“ (S. 24).

Diziol ist nicht der erste Historiker, der sich der Geschichte des DFV widmet 1, aber er ist der erste, der sie von den Anfängen bis zur erzwungenen Selbstauflösung des Vereins 1934 und aus einer primär kulturhistorischen Perspektive analysiert. Seine Studie ist als Dissertation an der Historischen Fakultät der Universität Hamburg entstanden. Diziols Betreuer, Rainer Hering, würdigt die Leistung seines Doktoranden in einem Vorwort, in dem er hervorhebt, „dass seine Studie weit über eine reine Organisationsgeschichte hinausgeht, vielmehr die mentalen Rahmenbedingungen der Flottenrüstung klar herausarbeitet“ (S. 12). Wenige Monate vor der Veröffentlichung wurde Diziols Dissertation zudem von der Stiftung zur Förderung von Schifffahrts- und Marinegeschichte als „erste umfassende, quellennahe Analyse des Deutschen Flottenvereins von 1898 bis 1934“ 2 prämiert.

Die Studie ist chronologisch angelegt und vom Verlag in zwei Bänden publiziert worden. Der erste, deutlich umfangreichere Band befasst sich mit der Geschichte des DFV von 1898 bis 1918, der zweite Band widmet sich den Jahren 1919 bis 1934. Anhand eines breiten Quellenstudiums beleuchtet Diziol ausführlich das Wirken wichtiger Akteure auf nationaler und regionaler Ebene, analysiert die Methoden und Wirkung der Vereinspropaganda, und untersucht die Vereins- und Mitgliederstruktur.

Um den außerordentlichen Erfolg des DFV als Propagandaverein in seiner Hochphase vor dem Ersten Weltkrieg zu analysieren, hat Diziol die vorhandenen Quellen unter ideengeschichtlichen Aspekten ausgewertet und ein System aus sieben nationalen Symbolen herausgearbeitet, das der Verein entwickelte um die bürgerlichen Massen für den Schlachtflottenbau zu begeistern: „Flotte“, „Kaiser“, „Weltpolitik“, „blaue Jungs“, „Flagge“, „See“ und „Auslandsdeutsche“. Die Entwicklung dieses Symbolsystems wurde nicht von der Vereinsleitung initiiert und gesteuert, wie Diziol überzeugend nachweisen kann, sondern war das Ergebnis eines evolutionären, diskursiven Prozesses unter den Mitgliedern. Keines dieser Symbole war exklusiv dem DFV vorbehalten, mit Ausnahme von „blaue Jungs“ (S. 265), aber er war der einzige Verein, der diese Symbole im Rahmen seiner Propaganda in einer Weise kombinierte, die dem Zeitgeist des Wilhelminismus’ in besonderem Maße entsprach und klar auf eine vermeintlich bessere Zukunft hin ausgerichtet war. „Der DFV verstand es, die nationalen Symbole, die er rund um die Flottenrüstung schuf, einerseits flexibel genug zu halten,“ konstatiert Diziol, „um ein breites bürgerliches Spektrum mit ansonsten unterschiedlichen politischen Meinungen ansprechen zu können, andererseits aber so zu gestalten, dass ihre Implikationen weit über die eigentliche Flottenrüstung hinausgingen und so gleichsam durch die Hintertür einen Deutungsanspruch auch für allgemeine ,nationale Fragen’ zu entwickeln“ (S. 201). Das war der Schlüssel zum Erfolg des DFV vor 1914.

Während des Ersten Weltkriegs sah sich der Verein mit einem zunehmenden Bedeutungsverlust konfrontiert. Propagandistisch verwertbare „Heldentaten“ der Kaiserlichen Marine blieben aus und der DFV widmete sich überwiegend wohltätigen Zwecken. Infolge der Novemberrevolution 1918, ausgelöst durch einen Matrosenaufstand in Kiel, brach das Symbolsystem schließlich zusammen. Auch wenn der Verein bis Ende 1934 weiterbestand, spielte er im gesellschaftlichen und politischen Leben der Weimarer Republik und des frühen Dritten Reiches keine Rolle mehr. Daran konnte auch die Umbenennung in Deutscher Seeverein und die thematische Neuausrichtung der Propaganda auf die Verklärung der Leistungen der Flotte im Ersten Weltkrieg, den Wiederaufbau zunächst der Handelsflotte, später auch der Reichsmarine, die Wiedererlangung der Kolonien und eine Revision des Versailler Vertrags nichts ändern. Er galt als Relikt vergangener Zeiten und litt unter starkem Mitgliederschwund. „Zwar existierte der Flottenverein noch bis 1934“, resümiert der Autor, „sein eigentliches Ende als gesellschaftlich und politisch relevanter Akteur ist aber auf den November 1918 zu datieren“ (S. 523).

Diziol kann überzeugend nachweisen, dass der Verein gemäß seiner Satzung bis Mitte 1933 konsequent überparteilich war, wenngleich er eine gewisse Nähe zur Deutschnationalen Volkspartei (DNVP) pflegte, für die einer seiner „Helden“, Admiral Alfred von Tirpitz, vier Jahre Abgeordneter im Reichstag war (1924–1928). Diziol gelingt auch der Nachweis, dass der Verein zu keiner Zeit strukturell antisemitisch war (S. 393–403, 679–685). Seine grundlegende These hierzu ist, „dass antisemitisches Gedankengut in verschiedenen Abstufungen bei seinen Mitgliedern weit verbreitet war und als selbstverständlich angesehen wurde, der DFV aber nicht die Plattform war, auf der diese Ansichten diskutiert und verbreitet wurden“ (S. 394). Das gilt selbst noch für die Zeit ab Januar 1933, als der Verein mit NS-Institutionen zu kooperieren begann und schließlich auch das „Führerprinzip“ einführte. Zwar konnten Juden nicht in das Amt des „Führers“ gewählt werden, waren sonst aber keinerlei anderen strukturellen Diskriminierungen ausgesetzt (S. 700). Dass der Verein nicht schon 1933 gleichgeschaltet wurde, verdankte er laut Diziol einerseits seiner geringen Bedeutung, andererseits seiner offenen Anbiederung an das NS-Regime (S. 699, 726). Dennoch zwang Hitler ihn im Dezember 1934 zur Selbstauflösung, denn er stand dem Umbau des Deutschen Reiches zum „Führerstaat“ im Wege.

Diziol nimmt für sich in Anspruch, erstmals „brennglasartig die kulturelle Dimension des wilhelminischen Navalismus“ dargestellt zu haben (S. 743). Zweifellos ist das ein wesentliches Verdienst seiner Forschungsleistung. Wenig überzeugend ist hingegen sein Ansatz, den etablierten Begriff Navalismus 3 hinsichtlich „seiner Wirkung auf gesellschaftliche, kulturelle und private Bereiche“ auszuweiten und neu zu definieren „als ein Denkmuster, das die Übertragung von Ordnungssystemen und Wertvorstellungen aus dem Bereich der Kriegsmarine auf Staat, Politik und Gesellschaft bezeichnet“ (S. 35f.). Diesen Ansatz hält der Autor selbst nicht durch, denn in der Schlussbetrachtung seiner Studie schlägt er schließlich vor, zukünftig den Begriff „symbolischer Navalismus“ (S. 748) für das kulturelle und mentale Phänomen der Flotteneuphorie im wilhelminischen Kaiserreich zu verwenden.

Bei seinen Forschungen zur Geschichte des Flottenvereins stand Diziol vor einer großen Herausforderung: die Aktenbestände der Berliner Vereinsleitung sind verschollen (S. 43). Doch es ist ihm gelungen, diese Geschichte auf Grundlage eines breiten Quellenstudiums im Bundesarchiv und in zahlreichen Regionalarchiven umfassend zu rekonstruieren. Allerdings fällt auf, dass er wichtige Aktenbestände nicht eingesehen hat, beispielsweise den Nachlass des langjährigen Vorsitzenden des DFV, Admiral Hans von Koester. Auch den fragmentiert überlieferten Nachlass des Prinzen Heinrich, der dem DFV als Prorektor vorstand, hat er nur teilweise ausgewertet. In beiden Fällen hätte sich eine Auswertung sicher gelohnt, und vielleicht dazu beigetragen, offene Fragen zu klären, etwa wie viele Informationen Prinz Heinrich über den DFV vorlagen, als er im Juni 1898 dessen Protektorat übernahm (S. 404). Auch andere Aktenbestände sind nicht berücksichtigt worden, etwa die Überlieferung zum DFV in den Niedersächsischen Landesarchiven und den Staatlichen Archiven Bayerns. Weshalb diese und einige andere Bestände bei der Erstellung der Studie nicht berücksichtigt wurden, wird vom Autor nicht hinreichend begründet (siehe S. 43ff.). Die Geschichte des DFV, vor allem auf regionaler Ebene, ist somit noch längst nicht ausgeforscht.

Gleichwohl ist es Diziol gelungen, ein Standardwerk zur Geschichte des DFV zu verfassen, das mit seinem kulturhistorischen Ansatz auch Maßstäbe für zukünftige Studien über die verschiedenen Propagandavereine des wilhelminischen Kaiserreichs setzt. In seinen Schlussbetrachtungen weist der Autor darauf hin, dass hier noch viel Forschungsarbeit zu leisten ist (S. 763). Es wäre wünschenswert, wenn Diziols Studie dazu beiträgt, die Forschung auf diesem Gebiet zu stimulieren.

Anmerkungen:
1 Grundlegend waren bisher die Studien von Geoff Eley und Konrad Schilling. Vgl. Geoff Eley, The German Navy League in German Politics 1898–1914, Diss., Sussex 1974; Konrad Schilling, Beiträge zu einer Geschichte des radikalen Nationalismus in der Wilhelminischen Ära 1890–1909. Die Entstehung des radikalen Nationalismus, seine Einflussnahme auf die innere und äußere Politik des Deutschen Reiches und die Stellung von Regierung und Reichstag zu seiner politischen und publizistischen Aktivität, Diss., Köln 1968, S. 179–367.
2 Stiftung zur Förderung von Schifffahrts- und Marinegeschichte, Preisverleihung 2014, online abrufbar unter: http://www.stiftung-zur-foerderung-von-schifffahrts-und-marine-geschichte.de/index.php/preisverleihung.html (27.04.2017).
3 Der norwegische Historiker Rolf Hobson hat Navalismus prägnant definiert als „eine Politik der maritimen Aufrüstung, die als ein Mittel zur Mehrung nationaler Macht und Größe dienen sollte und die die Erfordernisse der nationalen Verteidigung im Kontext eines angeblichen Expansionsbedürfnisses beurteilte“. Vgl. Rolf Hobson, Die Besonderheiten des wilhelminischen Navalismus, in: Werner Rahn (Hrsg.), Deutsche Marinen im Wandel. Vom Symbol nationaler Einheit zum Instrument internationaler Sicherheit, München 2005, S. 161–193, hier S. 161. Siehe auch die etwas umfassendere Definition von Walther Hubatsch in: Walther Hubatsch, Navalismus und Technik im 19. und 20. Jahrhundert, in: Walther Hubatsch (Hrsg.), Navalismus. Wechselwirkungen von Seeinteressen, Politik und Technik im 19. und 20. Jahrhundert, Koblenz 1983, S. 8–12, hier S. 9.