L. Enders u.a. (Hgg.): Brandenburgische Landesgeschichte

Titel
Brandenburgische Landesgeschichte heute.


Herausgeber
Enders, Lieselott; Neitmann, Klaus
Reihe
Brandenburgische Historische Studien 4
Erschienen
Anzahl Seiten
196 S.
Preis
€ 20,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Brigitte Meier, Europa-Universität Viadrina

Der reiche Sammelband vereint 37, die wichtigsten europäischen Länder betreffenden Beiträge eines vom 5. bis zum 7. Juni 1997 in Lyon (Maison Rhône-Alpes des Sciences de l'Homme) abgehaltenen internationalen Kolloquiums zur Titelthematik. Als Veranstalter und Herausgeber firmieren die in Lyon und Grenoble angesiedelte Forschergruppe "LIRE" [=Littérature Idéologies Représentations] des CNRS [= Centre National de Recherche scientifique] sowie das Institut Français de Presse (Paris II).

In einer Grobeinteilung unter die drei Kategorien "Information" - "Pouvoirs" - "Discours" beschäftigen sich die einzelnen Beiträge mit den unterschiedlichen Aspekten der Pressegeschichte Europas des 17. und 18. Jahrhunderts, also v.a. mit der Geschichte der "Gazette de France", des "Mercure de France" und ihrer Pendants ("Gazette d'Amsterdam - de Cologne - des Deux-Ponts - de Leyde - des Pays-Bas - de Rotterdam - d'Utrecht"). Unter "Information" werden Forschungen zu einschlägigen Periodika (Renaudots "Gazette" oder dem "Diario ordinario" in Rom), zu deren Erscheinungsformen, inhaltlichen Quellen, zum Status und zur Arbeitsweise der "Gazetiers" - der frühen Journalisten - und zum "Informationsmarkt" (in Rom, in Venedig) vorgestellt.

Unter "Pouvoirs" sind Beiträge zu finden, die sich einerseits mit Fragen des Zugriffs der Zensur auf die Medien, andererseits aber vor allem mit der Bedeutung der frühneuzeitlichen Medien für die "öffentliche Meinung", insbesondere während der späten Aufklärung und der Zeit der Französischen Revolution, auseinandersetzen; von mehreren Beiträgern wird dabei der in Kleve erscheinende "Courrier du Bas-Rhin" ausgewertet. Unter "Discours" sind Studien zu einzelnen Inhalten der untersuchten Periodika versammelt. Neben einer Untersuchung Hans-Jürgen Lüsebrinks zur Berichterstattung über das die Leibniz'sche Theodizee-Weltordnung erschütternde Erdbeben von Lissabon sowie Analysen zum Umgang mit Anekdoten und Affären-Berichten findet man auch einige Beiträge, die auf inhaltlicher und formaler Ebene die zeitgenössische Darstellung politischer Ereignisse in den Blick nehmen, etwa in bezug auf die Nennungen der Informationsquellen, die Kohärenz der Daten, die Mittel der sprachlichen Inszenierung etc.

Die große Anzahl der Beiträge, die jedem Autor durchschnittlich zehn Seiten zur Verfügung stellt, macht schon deutlich, dass es sich weniger um die Präsentation eines neuen Ansatzes handelt als vielmehr um einen umfassend angelegten Überblick zum aktuellen Stand eines in Deutschland praktisch nur von Dixhuitiémistes (Lüsebrink, Reichardt et al.) beachteten, seit 30 Jahren florierenden Zweiges der französischen und amerikanischen historischen Forschung zur Pressegeschichte des Ancien Régime. In Frankreich hat die v.a. um Duranton, Rétat und Jean Sgard zentrierte, sich der Tradition der "Histoire totale" Braudels verpflichtet fühlende Forschergruppe ihre Ergebnisses nach zehnjähriger EDV-Erfassung von Struktur und Inhalten ausgewählter Jahrgänge der wichtigsten Periodika des 18. Jahrhunderts erstmals in dem (von Rétat und Sgard herausgegebenen) Band "Presse et histoire au 18ème siècle: l'année 1734, Paris 1978" vorgestellt. Gehörten diese Forscher damals zu den Pionieren der Computer- und Datenbank-Benutzung in den historischen Wissenschaften, und äußerte sich dies in einer Vielzahl von Statistiken, Graphiken, Listen, Zählungen, so zeigte sich die angloamerikanische wie auch die italienische Forschung etwas zurückhaltender gegenüber dem Nährwert dieser notwendig von den Inhalten abstrahierenden Datenverarbeitungsergebnisse (vgl. Furio Diaz: Le stanchezze di Clio. In: Rivista storica italiana 84 (1972), S. 683-745 und als Gesamtüberblick sehr gut Brendan Dooley: From Literary Criticism to Systems Theory in Early Modern Journalism History. In: Journal of the History of Ideas 51,3 (1990), S. 461-483).

Der jetzige Sammelband zeigt schon auf den ersten Blick, dass die Diskussion in diesem Sektor der Pressegeschichte inzwischen deutlich zu einem Rückzug der Statistikgläubigkeit, wie sie Folge der "Histoire sérielle" der zweiten Annales-Schule war, geführt hat: Nur noch wenige Beiträge schmücken sich extensiv mit Graphiken, und wenn doch (wie es etwa in der Darstellung der Informationsursprungsorte von Renaudots "Gazette" 1647-1663 in Stéphane Haffemeyers Beitrag der Fall ist, S. 30f.), dann sind sie plakativ-informativ und nicht verwirrend. Es zeigt sich hier wie andernorts, dass die Benutzung von Datenbanken nicht mehr als Wunderwerkzeug, sondern als zwar unverzichtbares, das Denken aber nicht ersetzendes Hilfsmittel fungiert.

Wenn bei der Fülle der Beiträge hier notwendig selektiv vorgegangen werden muss, so sollen als weiterführend sowohl in methodischer Hinsicht wie in bezug auf den Interessenschwerpunkt hervorgehoben werden die Artikel von Mario Infelise zum Informationsmarkt in Venedig im 17. Jahrhundert (S.117-128), von Brendan Dooley zum römischen Informationsnetz des 17. Jh. (S.129-136), von João Luís Lisboa zum Status des "Gazetiers" in Portugal Anfang des 18.Jhs. (S.77-86) und von Otto S. Lankhorst zur den ersten holländischen "Courants" (S. 213-219): Die genannten Arbeiten tragen zur Abkehr von einer Presseforschung bei, die sich vor allem im deutschen Sprachraum einerseits stets auf das aufklärerische und revolutionäre 18. Jahrhundert und andererseits auf die Erforschung gedruckter Periodika beschränkte. Die Erforschung der per Hand geschriebenen "Gazettes" steckt dagegen nach wie vor, auch aufgrund der unbequemeren Quellenlage, in den Kinderschuhen.

Erst mit der Erforschung dieser speziellen "Zeytungen", "Tijdinge", "nouvelles [à la main]" und "avvisi", deren Austausch und Vertrieb sich in Europa schon lange vor dem 17. und 18. Jahrhundert in Koevolution mit den Poststrecken etabliert hatte, ihrer "Redakteure" und Kopisten sowie der Verbindung zwischen handschriftlicher und gedruckter Produktion wird man der tatsächlichen geschichtlichen Entwicklung gerecht werden können. Nur so wird man sich vor allem endlich vom Faszinosum der Habermas'schen Thesen zur "Öffentlichkeit" der englischen und französischen Kaffeehäuser des 18. Jhs. befreien können, die zwar sehr stimulierend gewirkt haben, deren erkenntnisförderndes Potential aufgrund der ihnen inhärenten Teleologie in Richtung auf die Entwicklung einer Demokratie modernen Zuschnitts gerade für das "Ancien Régime" aber erschöpft sein dürfte, will man nicht weiter die "Noch nicht"- oder "Gerade schon"-Geschichtsschreibung produzieren und sich den Blick auf zeitgenössisch dominantere Phänomene verstellen lassen. - Dies sei am Rande vermerkt angesichts des "Habermas-Comebacks", das aufgrund der erst 1989 erfolgten Übersetzung ins Amerikanische des "Strukturwandels der Öffentlichkeit" (vgl. Jörg Requate: Öffentlichkeit und Medien als Gegenstände historischer Analyse. In: Geschichte und Gesellschaft 25, 1 (1999), S. 5-32), derzeit im Schwange ist. Die französische Geschichtsforschung ist zwar weniger durch die Habermasrezeption geprägt (ein Rekurs auf Habermas erfolgt im besprochenen Sammelband nur in den Beiträgen von Olivier Ferret (S. 152) und Jack R. Censer (S.294)), doch verwehrt die Fixierung auf das 17. und 18. Jahrhundert auch hier den Blick auf lange Entwicklungslinien. Das "Ancien Régime" des vorliegenden Sammelbandes beginnt mit dem 17. Jahrhundert, und hier meist erst unter Louis XIV, 30 Beiträge behandeln ausschließlich das 18. Jh. Verknüpfungen der Pressegeschichte mit der Erforschung der nicht-periodischen Flugschriften des 16. Jahrhunderts - sei es der Flugschriften der Reformationszeit in Deutschland oder sei es der "pamphlets" der "Ligue" in Frankreich - fehlen wie stets.

Abgesehen von dieser Kritik leisten sicherlich etwa die Beiträge von Ute van Runset und Matthias Beermann zur preußischen Presse- bzw. "GaAm Ende des ereignisreichen 20. Jahrhunderts thematisierten Lieselott Enders, die Grande Dame der brandenburgischen Archiv- und Geschichtswissenschaften, und Klaus Neitmann, Direktor des Brandenburgischen Landeshauptarchivs, Brandenburgische Landesgeschichte heute.

Veranlaßt durch die späte Gründung der Brandenburgischen Historischen Kommission beschäftigte sich im November 1997 eine wissenschaftliche Konferenz mit den Perspektiven der brandenburgischen Landesgeschichte, deren Ergebnisse sowie die weiterer Konferenzen in diesem hier zu besprechenden Band vereint sind.

In einer Zeit der Globalisierung und Technisierung werden die historischen Wurzeln zwar für die Avantgardisten bedeutungsloser, dies trifft jedoch nicht auf die Mehrzahl der Bewohner einer Landschaft, eines Kulturraumes oder einer Region zu. Bekanntlich hat ja schon Eric Hobsbawm in seiner "Erfindung der Tradition" die Kausalität von "invented tradition" und den mit den Modernisierungsprozessen einhergehenden Verunsicherungen der Menschen betont.

Landeshistorische Forschungen im In- und Ausland haben daher von ihrer Bedeutung noch nichts eingebüßt. (Ernst Hinrichs, Luise Schorn-Schütte, Franz Irsigler, Uwe John, Werner Buchholz) 1 Im Gegenteil, wie im Falle Brandenburgs, sollen sie sich den Anforderungen der Zeit stellen, anregend, beratend und Identität stiftend zugleich sein. In "allererster Linie für die heranwachsende Generation" (S. 5), aber auch für die Einheimischen und Zugewanderten könnten die landesgeschichtlichen Arbeiten die Identitätsbildung befördern. Dies ist ein große Ziel, daß man durch die Zusammenarbeit mit den Universitäten und Fachhochschulen des Landes und durch die Überwindung der traditionellen Schwerpunktsetzungen (Politik-, Wirtschafts- und Sozialgeschichte) zu erreichen gedenkt. Statt dessen will man, "'In Grenzen unbegrenzt' sämtliche Erscheinungen des historischen Lebens in einem eingegrenzten Raum in ihr Blickfeld" (S. 6) einbeziehen.

Dieser methodische Ansatz, der uns an den Anspruch der "histoire totale" der Annales erinnert 2 und uns zur aktuellen internationalen Debatte um die "new cultural history" führt 3, deutet darauf hin, daß sich die Verfasser des Vorwortes (Friedrich Beck, Lieselott Enders und Klaus Neitmann) der zeitgemäßen Anforderungen an die Landesgeschichte heute durchaus bewußt sind. Doch werden die wissenschaftlichen und die finanziellen Ressourcen des Landes Brandenburgs die Umsetzung dieses löblichen Ansatzes, der nur mit umfangreichen empirischen Forschungen und mittels zeitgemäßer Methoden zu realisieren sein wird, in die Forschungsrealität auch erlauben? Der Ministerpräsident des Landes Brandenburg, Manfred Stolpe, betonte zwar in seinem Grußwort zur ersten Konferenz die große Bedeutung des Wissens um Tradition und Erbe für die gegenwärtige Lebensgestaltung der Brandenburger gerade angesichts der Brüche, die ihr Leben im letzten Jahrzehnt erfahren hat, doch bedarf es noch einer zielgerichteten Strategie der Landesregierung, die sich nicht in der Finanzierung einzelner Projekte sowie in Druckkosten- und Tagungskostenzuschüssen erschöpfen sollte.

Bereits unmittelbar nach der Wende analysierten die Berliner Historiker Gerd Heinrich 4 und Wolfgang Neugebauer 5 den Forschungsstand zur brandenburgischen Landesgeschichte, wobei sie dies jeweils aus einem erweiterten Blickwinkel (Berlin-Brandenburg-Preußen) heraus taten. Abgesehen von der politischen Geschichte, der Wirtschafts- und Sozialgeschichte des Landes müssen weite Bereiche der Kultur-, Stadt-, Militär- und Adelsgeschichte noch erforscht werden. Trotz der unübersehbaren Bemühungen, diese Desiderata zu schließen, weist die Bilanz nach fast einem Jahrzehnt noch immer jene Forschungslücken auf. Konzeptionelle Überlegungen, die den Rahmen eines Lehrstuhls oder Forschungsschwerpunktes überschritten und inhaltliche Innovationen anstrebten, die das vorhandene interdisziplinäre Forschungspotential fokussieren, harren noch ihrer Entwicklung.

So ist es wohl nur legitim, wenn in diesem Konferenzband versucht wird, sich dem Thema Landesgeschichte begrifflich, methodisch und regional vergleichend erneut zu nähern, um so weitere Forschungen anzuregen. Der Band will nicht in erster Linie bilanzieren, obwohl er dies in den Bereichen Namenskunde, ländliche Gesellschaft, Stadtgeschichte, Wirtschaftsgeschichte und mittelalterliche Geschichte der Neumark durchaus leistet, sondern er exemplifiziert verschiedene methodische Herangehens- und Arbeitsweisen an konkret historischen Beispielen. Wobei der kulturhistorisch-anthropologische Ansatz Jan Peters und der der "histoire totale" von Lieselott Enders neben denen der traditionellen und im Brandenburger Raum dominierenden Politik-, Struktur- und Gesellschaftsgeschichte sowie dem der Sprachwissenschaft steht. Ein Diskurs zwischen den Vertretern der verschiedenen Strömungen über mögliche Verzahnungen steht noch aus. Ohne diesen Diskurs wird sich der Anspruch der Interdisziplinarität der Landesgeschichte nur schwer einlösen lassen.

Doch gerade diesen interdisziplinären Charakter landesgeschichtlicher Forschung hebt Franz Irsigler (Trier) in seinem einführenden Beitrag hervor. Er definiert Landesgeschichte als "eine heute sehr angesehene, hoch produktive und auch breitenwirksame Disziplin der historischen Wissenschaft." (S. 9) Trotz unterschiedlicher Auffassungen innerhalb der Zunft betont Irsigler völlig zu Recht, daß sich der zeitliche Rahmen von landesgeschichtlichen Forschungen von der Ur- und Frühgeschichte bis zur Gegenwart erstreckt und den bekannten Epochengrenzen weit weniger erliegt als andere Disziplinen. Zu den Aufgaben und Verpflichtungen landesgeschichtlicher Forschung zählt traditionell bedingt die Interdisziplinarität. Aber gerade hier setzt die Ausbildungs- und Berufungspraxis der Universitäten mit ihrem Spezialisierungsgebaren den Möglichkeiten interdisziplinärer Vorhaben enge Grenzen. Werke, wie die Uckermark von Lieselott Enders, die dem Anspruch der "histoire totale" sehr nahe kommen, werden wohl Seltenheitswert behalten. Dennoch zeugen klassische Landesgeschichten (Handbuch der bayerischen Geschichte), Regionalstudien (Der Raum Westfalen) oder Altaswerke von den Möglichkeiten interdisziplinären Forschens. (S. 20) Ganz in der Hobsbowmschen Tradition sieht Irsigler die Zukunft der Landesgeschichte "auch als identitätsstiftende und -bewahrende historische Wissenschaft" (S. 22), weil die "weit verbreitete Europa-Angst, das Bedürfnis nach sicherer Selbstverortung in vertraute, historisch gewachsenen Raumeinheiten mittlerer Größe" (S. 22) befördert.

Nachdem der erste Beitrag den Begriff und den Inhalt von Landesgeschichte diskutierte, werden in den folgenden Beiträgen verschiedene theoretischen Ansätze vorgestellt und an Beispielen illustriert und bilanziert.

Mit der selbständigen Teildisziplin der Sprachwissenschaft, der Namensforschung, beschäftigt sich der Beitrag von Reinhard E. Fischer, der hinsichtlich der Namensforschung für Brandenburg in den Grenzen von 1900 durchaus eine positive Bilanz ziehen kann.. Dennoch bedarf es auch hier weiterer Forschungen. Insbesondere böte die Erforschung der Flurnamen der Siedlungsgeschichte neue Erkenntnismöglichkeiten.

Ein gelungenes Beispiel der Synthese von methodischem Diskurs und empirischen Forschungsergebnissen stellt der Beitrag von Jan Peters dar. Dank der produktiven Umsetzung historisch-anthropologischer Methoden für verschiedene Mikrokosmen gelang es ihm und seinen Mitarbeitern/Innen, die vielfältigen Interaktionen zwischen Individuum und Gesellschaft transparent zu machen und so zu neuen Erkenntnissen hinsichtlich der Lebens- und Verhaltensweisen der ländlichen Bewohner zu kommen.

Empirische kulturhistorische Forschungen für den Mikrokosmos Stadt stellen eine unabdingbare Voraussetzung für regional vergleichende Untersuchungen dar, die erst Aussagen über das Allgemeine und Besondere der brandenburgischen Städte gestatten würden. Bei dem jetzigen Forschungsstand, den Lieselott Enders für die brandenburgischen Städte im Allgemeinen und Evamaria Engel für die Kleinstädte im Besonderen sehr sachkundig referieren, kam es ähnlich wie für die ländliche Gesellschaft zu Ver- und Überzeichnungen bestimmter Bilder vom fortschrittsfeindlichen Stadtbürger oder von der vertikalen Durchstaatlichung. Viele Lebensbereiche der städtischen und insbesondere der kleinstädtischen Gesellschaft blieben gänzlich unerforscht. Hier bedarf es zukünftig noch intensiver Grundlagenforschung. Es wäre wünschenswert, wenn diese auch gleich mit einem Paradigmenwechsel verbunden würde.

Eine etwas positivere Bilanz kann Ingo Materna für die wirtschaftshistorischen Forschungen des 19. und 20. Jahrhunderts ziehen. Wobei die von Otto Büsch bereits 1971 geforderte interdisziplinäre Zusammenarbeit ganz im Sinne der Vorstellungen Simmels u.a. um 1900 noch immer auf die Umsetzung in die Forschungspraxis wartet.

Neben der interdisziplinären Kooperation gestaltete sich auch die interstaatliche Kooperation nicht immer zur vollen Zufriedenheit aller Beteiligten. Der polnische Historiker, Jercy Strzelczyk, bilanziert eine Vielzahl polnischer Arbeiten zur mittelalterlichen Geschichte der Neumark, die leider von den deutschen Historikern kaum zur Kenntnis genommen wurden.

Die drei letzten Beiträge des Bandes widmen sich der regionalen Interaktionen zwischen der Mark Brandenburg und einigen seiner Nachbarn. An konkret historischen Beispielen, wie dem brandenburgisch-mecklenburgischen Erbvertrag von 1442 (Gerhard Heitz), den Beziehungen zwischen Sachsen und Preußen vom Hubertusburger Frieden 1763 bis zum Teschener Frieden 1779 (Reiner Groß) und dem historischen Verhältnis der Mark zu Brandenburg-Preußen (Wolfgang Neugebauer) wird das vielfältige und ambivalente Verhalten zwischen den Nachbarn auf staatlicher Ebene veranschaulicht. Wie sich die nachbarschaftlichen Beziehungen auf der Ebene der "Landeskinder" gestalteten oder wahrgenommen wurden, bleibt noch zu untersuchen.

Dieser Konferenzband vermittelt insgesamt ein sehr vielschichtiges Bild von den Leistungen und Aufgaben einer modernen Landesgeschichte, das durchaus geeignet ist, weitere landesgeschichtliche Forschungen anzuregen. Dennoch wird in diesem Band eine wichtige Chance, fachübergreifende Forschungsstrategien zu diskutieren, verschenkt. Wenn man in "Grenzen unbegrenzt" die Geschichte des Landes Brandenburg erforschen will, sollte man dann nicht auf die innovativen, interdisziplinären Forschungen beispielsweise des Kunsthistorikers Ulrich Reinisch 6 und seiner Schüler oder auf die soziologischen Regionalstudien und Feldforschungen von Astrid Segert und Irene Zierke,7 Anna Schwarz und Gabriele Valerius 8 oder die Forschungen der Wirtschafts- und Sozialgeographie verweisen? Diese Beispiele verschiedener disziplinärer Forschungen, die sich mit dem Land Brandenburg beschäftigen, ließen sich noch wesentlich erweitern. Brandenburgische Landesgeschichte, wie immer sie sich auch definiert, wird zukünftig, ohne den Anspruch der Interdisziplinarität wirklich einzulösen und sich der modernen Medien zu bedienen, wohl kaum jüngere Generationen nachhaltig ansprechen.

Dieser Einwand, der in erster Linie die Diskussion des Gegenstandes "Landesgeschichte" beleben sollte, bezieht sich weniger auf den Band selbst, der für alle Landeshistoriker und landesgeschichtlich Interessierte unverzichtbar ist.

Anmerkungen
1 Siehe u.a. Carl-Hans Hauptmeyer (Hrsg.), Landesgeschichte heute, Göttingen 1987.
2 Emanuel Le Roy Ladurie, Les Paysans de Languedoc, 2 Bde, Paris 1966, hier Bd. 1, S. 11. Zu den Annales siehe: Jan Peter, Das Angebot der "Annales" und das Beispiel Le Roy Ladurie. Nachdenkenswertes über französische Sozialgeschichtsforschung , in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 1, 1989, S. 139-159.
3 Siehe das Internet-Symposium "Kultur und Geschichte" in H-Soz-u-Kult. (http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensio/symposiu/symposiu.htm)
4 Gerd Heinrich, Landesgeschichtliche Arbeiten und Aufgaben in Berlin-Brandenburg. Rückblicke und Ausblicke, in: Jahrbuch für die Geschichte Mittel- und Ostdeutschlands, Bd. 39, 1990, S. 1-42.
5 Wolfgang Neugebauer, Brandenburg-Preußische Geschichte nach der deutschen Einheit. Voraussetzungen und Aufgaben, in: Jahrbuch für brandenburgische Landesgeschichte, 43, 1992, S. 154-181.
6 Ulrich Reinisch, Der Wiederaufbau Neuruppins nach dem Standbrand 1787.
7 Siehe u.a. Astrid Segert und Irene Zierke, Sozialstruktur und Milieuerfahrungen. Aspekte des alltagskulturellen Wandels in Ostdeutschland, Opladen 1997; dies., "...daß wir die Zukunft mitbedenken" - Akteure nachhaltiger Entwicklung in einer ostdeutschen Region, in: Hofmann, Michael; Maase, Kaspar; Warnecken, Peter (Hg.), Ökostile. Zur kulturellen Vielfalt umweltbewußten Handelns. Marburg 1998..
8 Anna Schwarz, Die neuen Selbständigen - Promotoren marktwirtschaftlicher Modernisierung in Ostdeutschland, in: Rolf Reißig (Hrsg.), Rückweg in die Zukunft, Frankfurt am Main New York 1993, S. 127-157; dies., Chancenstrukturen und Handlungsmuster von Ingenieuren und Unternehmensgründern im ostdeutschen Transformationsprozeß, in: Forum Zukunft Brandenburg 2, Potsdam 1998; Gabriele Valerius, Zu sozialen und regionalen Besonderheiten der neuen Selbständigen in Ostberlin und im Land Brandenburg, in: Jürgen Schmude (Hrsg.), Neue Unternehmen. Interdisziplinäre Beiträge zur Gründungsforschung, Heidelberg 1994, S. 206-217.zette-Politik" interessante Einblicke, ähnlich wie auch fast alle Beiträge der dritten Sektion "Discours" wichtige Beobachtungen zu den Verfahren sprachlicher und struktureller Diskursivierung des Zeitgeschehens als Wahrheit (Anne-Marie Mercier-Faivre) bzw. im Spannungsfeld zwischen faktualer und fiktionaler Narration (Yannik Séité, Chantal Thomas, René Nohr, Denis Reynaud) mitteilen. Im übrigen bietet der relativ erschwingliche, recht sorgfältig, leider aber ohne Register redigierte Sammelband mit seiner Fülle von Beiträgen und Themen einen sehr guten Überblick über den status quo der wichtigsten Forschungsschwerpunkte der amerikanischen und europäischen Pressegeschichtsforschung zum 17. und 18. Jahrhundert.

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