J. Zedler (Hrsg.): Gesellschaftlich-staatliche Kohäsionskräfte

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Titel
"Was die Welt im Innersten zusammenhält". Gesellschaftlich-staatliche Kohäsionskräfte im 19. und 20. Jahrhundert


Herausgeber
Zedler, Jörg
Reihe
Spreti-Studien 4
Erschienen
München 2014: Herbert Utz Verlag
Anzahl Seiten
213 S.
Preis
€ 38,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
August H. Leugers-Scherzberg, Fachgruppe Geschichte, Universität Essen

Dieser Sammelband ist aus dem dritten Karl Graf Spreti-Symposion im Juli 2011 hervorgegangen, das von der Katholischen Akademie München und dem Historischen Seminar der Universität München gefördert worden war. Ziel dieses Symposions war es, staatliche und gesellschaftliche Kohäsionskräfte zu analysieren und bewusste Strategien der Kohäsionsbildung erkennbar und benennbar zu machen. Die Beiträge beschränkten sich auf das 19. und 20. Jahrhundert und wiesen, wie der Herausgeber zugesteht, hinsichtlich der Themenauswahl eine gewisse Willkürlichkeit auf.

So beschäftigt sich Michael Walter mit dem Phänomen der Nationaloper. Während eine Nationalhymne als offizielles musikkulturelles Symbol einer Nation gelten kann, dient eine Nationaloper allenfalls als inoffizielles Symbol. „Nationaloper“ wird von Walter hier in Abgrenzung zu einem repräsentativen Opernhaus, das in der Regel als „Nationaloper“ bezeichnet wird, als ein bestimmtes Werk betrachtet, das der nationalen Identifikation dienen soll. Walter hebt hervor, dass in Ländern wie Italien und Frankreich von einer Nationaloper im Sinne eines Zentralwerkes der nationalen Identifikation keine Rede sein kann. Hier sei die Opernkunst von solch zentraler Bedeutung für den nationalen Kulturbetrieb, dass ein einzelnes Werk dies nicht leisten könne. Anders sei dies in Deutschland, wo der Freischütz diese Rolle spiele. Am Beispiel der kroatischen Oper Nikola Šubić Zrnjski von Ivan Zaic und Hugo Baldić demonstriert Walter, dass für den Erfolg einer „Nationaloper“ auch nicht in erster Linie nationale Bezüge (der Titelheld der kroatischen Oper ist Ungar und kämpft für die Habsburger, nicht für die kroatische Emanzipationsbewegung!) ausschlaggebend sind. Stattdessen sei es für die gesellschaftliche Kohäsionswirkung ebenso wichtig, dass die Symbolik über die engen Grenzen einer Nation hinaus verstanden und gewürdigt sowie das Ansehen der Nation im internationalen Kontext gehoben werde. National eng geführte Themen seien dazu nicht in der Lage. Letztlich, so Walter, sei aber nicht die Oper Mittel der Kohäsion, sondern Ausdruck für Kohäsionskräfte, die außerhalb des Opernbetriebs in der jeweiligen Nationalbewegung formuliert worden seien.

Michael Hochgeschwender fragt nach den Kräften, die die US-amerikanische Gesellschaft zusammenhalten. Dabei geht er insbesondere auf das ideell ambivalente Erbe der amerikanischen Revolution mit seinen langfristigen Folgewirkungen ein. Als Strategien zur Formung eines staatlich-gesellschaftlichen Zusammenhalts dienten angesichts dieser Situation im 19. und 20. Jahrhundert die Ableitung der inneren Konflikte nach außen durch militärische Expansion, die Suche nach internen Sündenböcken und die Aktivierung zivilgesellschaftlicher Gestaltungskräfte (Parteien, Kirchen, vor allem aber Schulen). Zivilreligiöse Züge der Präsidentschaftsreden, mythische Vorstellungen über die Gründerväter (vor allem George Washington, Thomas Jefferson und Abraham Lincoln) und die Rolle des Sternenbanners als nationale Identifikationsmarker führten schließlich dazu, dass nicht gemeinsame Geschichte, Volkstum oder Sprache, sondern „Mythen, Symbole und zivilreligiöse Rituale“ (S. 73) zentrale Elemente US-amerikanischer Identitätsbildung wurden; Elemente, die allerdings im Widerstreit der beiden Amerikas, des progressiv-liberalen und des konservativ-religiösen, rezipiert werden und als stärkste Kohäsionskraft der USA, „die Notwendigkeit prozeduraler Konfliktregelung“ (S. 76) unterstreichen.

Ekaterina Makhotina beschreibt das gesellschaftliche Erinnern an das 20. Jahrhundert im heutigen Russland. Die Rezeption der sowjetrussischen Geschichte ist vor allem durch drei Faktoren geprägt: Erstens durch die Geschichtspädagogik der sowjetischen Zeit, zweitens durch die kurze Periode der versuchten Aufarbeitung der Verbrechen der Stalin-Zeit (Ende der 1980er- bis Ende der 1990er-Jahre) und drittens durch die Wiederaufwertung der Sowjetära seit Beginn der Regierungszeit Putins. Angesichts der zentralen Daten der russischen Geschichte (1917, 1941, 1945 und 1991) bleibt die russische Gesellschaft zumeist gespalten. Einzig die Erinnerung an den Sieg über den Faschismus und Nazideutschland (und nicht etwa die Niederschlagung des Putsches von 1991) können mit ihren alljährlichen Feiern national identitätsbildend wirken.

Katharina Weigand und Jörg Zedler richten ihren Blick auf die italienischen und deutschen Nationalheroen Guiseppe Garibaldi und Otto von Bismarck. Bei beiden Persönlichkeiten ist bemerkenswert, dass sie schon zu Lebzeiten als mythische Gestalten der Nationenbildung dienten. Nach ihrem Tod stieg ihre Bedeutung zeitweilig an, Bismarck etwa erlebte im Vorfeld des Ersten Weltkriegs den Höhepunkt seiner Popularität, als auch Sozialdemokraten und Katholiken ihn als Einiger des Deutschen Reiches akzeptierten. Von italienischen Faschisten und deutschen Nationalsozialisten als ideelle Vorläufer missbraucht, büßten beide Nationalheroen nach dem Zweiten Weltkrieg ihre überragende Stellung ein und können heute keineswegs mehr als Kohäsionssymbole dienen.

Michael Kißener zeigt, wie in Frankreich nach 1871 und in Deutschland nach 1918 der Hass auf die jeweils andere (Sieger-)Nation als innergesellschaftliches Bindemittel diente. Am Beispiel von Germersheim zeichnet er dabei nach, wie der Versuch der großen Politik, Versöhnung zu schaffen (Locarno), vor Ort durch den alltäglichen Hass auf die Besatzer konterkariert wurde. Dies war die Atmosphäre, die die NSDAP für ihre Zwecke ausnutzen konnte. Hass, so Kißener, könne zeitweilig nach innen einigen, aber nicht konstruktiv und zukunftsfähig wirken.

Michael Wolffsohn stellt die Frage, ob Kohäsion durch Katastrophen möglich sei, und nimmt dabei Israel und Deutschland, Shoah und Vergangenheitsbewältigung in den Blick. Dabei macht er von vornherein kein Hehl daraus: „Die Schoa hält Israels Gesellschaft so wenig zusammen wie die Vergangenheitsbewältigung die Deutschen.“ (S. 165) Das würde lediglich von der „vox populi“ behauptet. Wolffsohn geht es darum zu zeigen, dass der Umgang mit Shoah und Vergangenheitsbewältigung in Israel und Deutschland politisch instrumentalisiert werde und so gesellschaftlich polarisierend und spaltend wirke.

Friedrich Kießling beschäftigt sich mit der Frage, ob Wohlstand, Soziale Marktwirtschaft und Konsum in der alten Bundesrepublik die entscheidenden Kohäsionskräfte gewesen seien. Dass die bundesdeutsche Gesellschaft durch das Wirtschaftswunder zu seiner Identität gefunden habe, sei eine grobe Vereinfachung komplexer Zusammenhänge. Für die Herausbildung der Nachkriegsdemokratie habe es seit dem 19. Jahrhunderts zivilgesellschaftliche Potenziale gegeben. Dennoch: Das Modell der Sozialen Marktwirtschaft mit seiner Stabilitätsorientierung sei in der Lage gewesen, den westdeutschen Staat der Nachkriegszeit nachhaltig zu fundieren, indem es als politisch-gesellschaftliches sowie als ökonomisches Ideal gedient habe.

Hans-Michael Körner untersucht schließlich, welche Kohäsionskräfte die bayerische Geschichte im 19. und 20. Jahrhundert beherrschten. Dabei weist er zunächst auf die kuriose Tatsache hin, dass im Jahr 2006 in Bayern das 200. Jubiläum des Königreichs Bayern gefeiert wurde, ohne dass man sich allzu sehr daran gestört habe, dass die Monarchie bereits seit 1918 nicht mehr existierte. Das Revolutionsgedenken spiele wiederum kaum eine Rolle. Körner zeichnet nach, wie die bayerischen Herrscher bereits im 19. Jahrhundert versuchten, durch aktive Kulturpolitik ein bayerisches Nationalbewusstsein zu schaffen. So sieht Körner schließlich bis heute in der „bayerischen Kulturstaatlichkeit“ den Ansatzpunkt, um „Solidarisierungseffekte freisetzen, Loyalitäten stiften und stabilisieren, eben Kohäsion bewirken“ (S. 213) zu können.

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass wir im vorliegenden Sammelband gute Einzelbeiträge mit interessanten Ergebnissen vorfinden, denen es hier und da gelingt, Kohäsionskräfte für den staatlichen und gesellschaftlichen Zusammenhalt in unterschiedlichen nationalen Kontexten des 19. und 20. Jahrhunderts zu benennen oder ihre angebliche Wirkung zu relativieren. Der Mangel des Buches besteht vor allem darin, dass es der Herausgeber unterlassen hat, in der Einleitung die Ergebnisse des Symposions und der ihm zu Grunde liegenden kulturgeschichtlichen Fragestellung unter systematischen Gesichtspunkten zusammenzufassen. Letztlich bleibt es dem Leser selbst überlassen, aus den recht unterschiedlichen, aber äußerst interessanten Beiträgen die Quintessenz der gesamten Tagung zu ziehen.

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