A. Pathé u.a. (Hrsg.): La captivité de guerre au XXe siècle

Titel
La captivité de guerre au XXe siècle. Des archives, des histoires, des mémoires


Autor(en)
Pathé, Anne-Marie; Théofilakis, Fabien
Erschienen
Anzahl Seiten
373 S.
Preis
€ 27,89
Rezensiert für den Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung bei H-Soz-Kult von:
Alina Enzensberger, Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin

Der vorliegende Sammelband ist aus einer internationalen Konferenz vom November 2011 an der Pariser École Militaire hervorgegangen, auf der Historiker die Frage diskutierten, wie sich Kriegsgefangenschaft, Kriegserfahrung und die Veränderung von Kriegen im 20. Jahrhundert zusammen denken lassen.1 Eingeladen waren auch mehrere Vertreter französischer Archive sowie des Archivs des Internationalen Komitees des Roten Kreuzes in Genf, um einschlägige und bisher wenig erforschte Bestände zum Thema Kriegsgefangenschaft innerhalb ihrer Sammlungen vorzustellen. Diesen unmittelbaren Austausch zwischen Wissenschaftsbetrieb und Archivwesen haben die Herausgeber auch für den Tagungsband beibehalten und ihre offene Herangehensweise noch ausgebaut. So ist der Beiträgerkreis interdisziplinär um vier weitere Fächer (Staatsrecht, Ethnologie, Soziologie, Medizin) erweitert worden und auch insgesamt erscheint die Publikation in Fragestellung und analytischer Struktur wesentlich breiter und anschlussfähiger.

Thematisch betritt der Band indes kein völlig unberührtes Terrain. Die Schicksale der Millionen von Kriegsgefangenen im 20. Jahrhundert, die noch bis Anfang der 1990er-Jahre geschichtswissenschaftlich nahezu unsichtbar waren, sind mit dem steigenden Interesse an erfahrungs- und kulturgeschichtlichen Aspekten von Kriegen in den letzten beiden Jahrzehnten zunehmend ins Blickfeld der Forschung gerückt. Heute, so betonen die beiden Herausgeber Anne-Marie Pathé und Fabien Théofilakis in ihrer Einleitung, sei daher die Frage der Kriegsgefangenschaft nicht nur endgültig aus ihrem wissenschaftlichen Schattendasein herausgetreten, sondern habe sich sogar als besonders vielversprechendes Forschungsthema etabliert. Es profitiere namentlich von zwei Dynamiken: zum einen von der Krise der rein nationalen Geschichtsschreibung, wodurch transnationale Themen mehr in den Vordergrund gerückt seien und damit auch die Kriegsgefangenschaft mit ihrem genuin transnationalen Wesen; zum anderen vom erstarkten Interesse an der Frage, wann und wie Kriege und bewaffnete Konflikte endeten, was wiederum eng mit der – oft lange verzögerten – Entlassung der Kriegsgefangenen nach Abschluss der Kampfhandlungen verbunden sei.

Die Herausgeber setzen sich ein ehrgeiziges Ziel: Sie wollen sich an der Herausforderung versuchen, eine „histoire totale“ der Kriegsgefangenschaft im 20. Jahrhundert in fünf thematischen Perspektiven zu präsentieren (S. 17). Folglich gliedert sich das Buch in vier gleichgewichtige thematisch orientierte Hauptabschnitte und einen wesentlich kürzeren Abschlussteil, in dem der Bogen zur jüngsten Zeitgeschichte gespannt wird.

Der erste Abschnitt berührt den juristisch-organisatorischen Aspekt von Kriegsgefangenschaft. Hier geht es um Fragen internationaler Rechtsnormen, humanitärer Hilfe und dem System der Kriegsgefangenenlager in Europa. Heather Jones etwa diskutiert in ihrem Beitrag zum Völkerrecht im Ersten Weltkrieg, welchen Einfluss die Haager Konvention von 1907 bei der Behandlung gefangener Soldaten im Großen Krieg hatte – gerade auch im Gegensatz zur parallel geltenden Genfer Konvention von 1906, die speziell dem Schutz verletzter Kriegsgefangener verpflichtet war. Jones kommt zum Schluss, dass man das Haager Abkommen trotz einiger Vertragsbrüche als relativen Erfolg werten müsse. Die große Mehrzahl der Soldaten habe die Gefangenschaft überlebt, während im Zweiten Weltkrieg Millionen Kriegsgefangener umgekommen seien. Anhand einschlägiger Verwaltungsquellen lasse sich nachvollziehen, dass sich die zuständigen Behörden in internen Schreiben oft explizit auf die Haager Konvention bezogen hätten, um eine völkerrechtlich korrekte Behandlung ihrer Kriegsgefangenen sicherzustellen oder überhaupt zu definieren. Dennoch galt die Haager Konvention laut Jones weder während des Krieges noch in den Jahrzehnten danach als juristische Errungenschaft. In den Augen der Zeitgenossen, die vor allem auf die Brüche des Vertragswerks hinwiesen, war sie gescheitert. Im Unterschied dazu gelangte die Genfer Konvention zu längerfristiger Wirksamkeit. Mit Unterstützung des Internationalen Komitees des Roten Kreuzes, einem der Hauptkritiker des unzureichenden Kriegsgefangenenschutzes im Ersten Weltkrieg, wurde sie später zur Grundlage der neuen Genfer Konvention von 1929 und prägt bis heute das Internationale Völkerrecht.

Der zweite Abschnitt des Sammelbands widmet sich der erfahrungsgeschichtlichen Dimension von Kriegsgefangenschaft. Hier geht es um Fragen von Mentalität und Körperbildern sowie die damit verbundene Neuverhandlung von Geschlechterrollen und sozialen Identitäten im Gefangenenalltag. In mehreren Beiträgen steht das Lagerleben im Vordergrund, das für die Inhaftierten oft nicht nur mit Freiheitsraub, Arbeitszwang und Demütigung verbunden war, sondern zum Teil auch Assoziationen von Heimat und Familie hervorrufen konnte. So beschreibt Iris Rachamimov in ihrem Beitrag, wie Kriegsgefangene über die Praxis regelmäßiger Theateraufführungen versuchten, sich einen Raum „bürgerlicher Normalität“ in einer ansonsten fremden, feindlichen Umgebung zu schaffen. Dabei weist Rachamimov auch auf das Phänomen der Lager-Transvestiten hin – Soldaten, die in den Theaterstücken, aufwendig verkleidet und geschminkt, Frauenrollen übernahmen und für diese Auftritte von ihren Kameraden viel Anerkennung erhielten. Oft hätten sie einen regelrechten Verehrerkreis gehabt und seien noch lange über die eigentliche Aufführung hinaus in ihrer weiblichen Rolle angesprochen worden. Auch Matthias Reiß geht in seinem Beitrag über deutsche Kriegsgefangene in US-amerikanischen Lagern im Zweiten Weltkrieg auf die Bedeutung der Bühnen-Transvestiten im Lager ein. Ebenso wie Rachamimov betont er die kompensatorische und therapeutische Funktion des Theaterspielens im eintönigen und zugleich nervenaufreibenden Lageralltag und hebt die emotionale Bedeutung der Theater-Transvestiten für die Soldaten in einer ansonsten männerdominierten Umgebung hervor.

Der dritte Abschnitt konzentriert sich noch expliziter als die vorausgegangenen auf den Aspekt der Transnationalität. Im Zentrum stehen dabei die vielfältigen Formen des Kontakts zwischen Kriegsgefangenen und Zivilgesellschaft. Auch der Arbeitseinsatz inhaftierter Soldaten in der Kriegswirtschaft wird in mehreren Beiträgen thematisiert, der in vielen Fällen zu einer Annäherung zwischen Gefangenen und ihrem Arbeitgeber oder dessen Familie führen konnte. Fabien Théofilakis argumentiert in seinem Artikel zu deutschen Kriegsgefangenen in Frankreich 1944–1948, dass gerade der Arbeitseinsatz der deutschen Gefangenen zu einer wichtigen Grundlage für die spätere deutsch-französische Freundschaft geworden sei. Leider beschränken sich alle Beiträge dieses Abschnitts auf den Zweiten Weltkrieg in Westeuropa, so dass hier kein epochen- oder regionenübergreifender Vergleich möglich ist.

Einer globaleren Perspektive nähert sich der vierte und letzte Hauptabschnitt an. Hier geht es um die koloniale Dimension von Kriegsgefangenschaft anhand des Fallbeispiels Frankreich. Sylvie Thénault und Raphaëlle Branche konzentrieren sich in ihren Analysen auf den Algerienkrieg und machen jeweils deutlich, wie eng die Tatsache, dass Frankreich die algerischen Inhaftierten nicht als offizielle Kriegsgefangene anerkannte, mit der generellen Nicht-Anerkennung des Konflikts als Krieg zusammenhing. Laut Branche versuchte die algerische Unabhängigkeitsbewegung FLN, sich diesen Mechanismus später in umgekehrter Richtung zunutze zu machen: Indem sie die Genfer Konvention offiziell anerkannte und die von ihr gefangenen französischen Soldaten als Kriegsgefangene bezeichnete, postulierte sie zugleich die Definition des Konflikts als Krieg und die Legitimität Algeriens als eigenständigem Staat.

„Dis-moi comment tu traites tes prisonniers et je te dirai quelle guerre tu fais“2 (S. 321), so fasst Henry Rousso den Tenor der Beiträge in seinem Fazit im fünften Teil des Buchs zusammen. In seinem hervorragenden Überblick arbeitet Rousso die Hauptlinien zwischen den Artikeln heraus und schlägt eine gedankliche Brücke zum 21. Jahrhundert: So wie die definitorische Grenze zwischen Kriegsgefangenen und Zivilinternierten nach 1945 verschwommen sei, könne man in der Gegenwart zwischen Krieg, Konflikt und Verbrechen nicht mehr ohne Weiteres unterscheiden. Eindeutig sei heute jedoch der Wert des einzelnen Kriegsgefangenen gestiegen, dessen Überleben – zumindest westliche Staaten – mit allen Mitteln sichern wollten, während umgekehrt Kriege und Kriegsführung als Konfliktlösungsstrategie immer weniger akzeptiert würden.

Insgesamt handelt es sich beim vorliegenden Sammelband um eine lesenswerte und vielseitige Behandlung des Themas Kriegsgefangenschaft im 20. Jahrhundert. Eine „histoire totale“, wie die Herausgeber sie angekündigt haben, ist dabei freilich nicht herausgekommen, schon allein aufgrund der Tatsache, dass sich fast alle Beiträge ausschließlich auf Europa und die USA konzentrieren. Eine inspirierende und anspruchsvolle Zusammenstellung von Texten und Fragestellungen ist aber ohne Zweifel gelungen. Mit einer thematisch sortierten Bibliographie, englischen Abstracts aller Beiträge und vier Registern (Akteure, Orte, Institutionen/Organisationen, Themen) wird der Band sinnvoll abgerundet.

Anmerkungen:
1 Vgl. den Konferenzbericht von Kelly Jakes, Captivité de guerre au XXème siècle: des archives, des histoires, des mémoires / Captivity in 20th Century Warfare: Archives, History, Memory. 17.11.2011–18.11.2011, Paris, in: H-Soz-u-Kult, 18.01.2012, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=4006> (16.04.2014).
2 „Sag mir, wie du deine Kriegsgefangenen behandelst und ich sage dir, welchen Krieg du führst“, Übersetzung A.E.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit dem Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung. (Redaktionelle Betreuung: Jan Hansen, Alexander Korb und Christoph Laucht) http://www.akhf.de/
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