F. Dabhoiwala: Die Geschichte der ersten sexuellen Revolution

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Titel
Lust und Freiheit. Die Geschichte der ersten sexuellen Revolution


Autor(en)
Dabhoiwala, Faramerz
Erschienen
Stuttgart 2014: Klett-Cotta
Anzahl Seiten
536 S.
Preis
€ 29,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Andrea Bendlage, Fakultät für Geschichtswissenschaft, Philosophie und Theologie, Universität Bielefeld

Charles Dickens zählt zu den bekanntesten englischen Schriftstellern seiner Zeit und setzte sich als Kritiker sozialer Missstände im viktorianischen Zeitalter für Reformen ein. So vielfältig wie sein schriftstellerisches Schaffen, so turbulent war sein Privatleben. Er war verheiratet, hatte zehn Kinder und lebte – getrennt von seiner Ehefrau – viele Jahre (heimlich) mit der fast 30 Jahre jüngeren Schauspielerin Ellen Ternan zusammen, in einer Zeit, die gemeinhin für ein strenges Sittenregiment steht. Der Weg zur sexuellen Freiheit war, so scheint es, noch weit. Im Buch „Lust und Freiheit“ nimmt der Oxforder Historiker Faramerz Dabhoiwala die Epoche der Aufklärung und das 19. Jahrhundert aus der Perspektive der Sexualität und der gesellschaftlichen Dimensionen des Verhältnisses zwischen Männern und Frauen in den Blick. Positive Merkmale der Sexualkultur des Westens sind heute Individualismus, Freizügigkeit, Permissivität und die Forderung nach Gleichstellung von Frauen und Homosexuellen. Der Weg zur sexuellen Freiheit war jedoch nicht gradlinig, ihre Errungenschaften sind, so der Autor, sowohl Freiheit als auch Bürde. Er vertritt die These, dass die Veränderung der sexuellen Kultur während der Aufklärung noch fundamentaler war als 1968. Überkommene (christliche) Weltbilder von ‚richtig’ und ‚falsch’ hinsichtlich Sittlichkeit und Disziplin wurden von der ‚ersten’ Revolution förmlich auf den Kopf gestellt und der Grundstein der Idee der Gleichheit von Mann und Frau und der Toleranz gegenüber gleichgeschlechtlichen Beziehungen gelegt. Seine in sechs Hauptkapitel gegliederte Untersuchung, die auf der Auswertung von Gerichtsurteilen, Gesetzen, Briefen, Polizeiberichten, journalistischen, philosophischen und literarischen Texten ruht, war unter dem Titel „The origin of sex. A history of the first revolution“ in England ein großer Erfolg, Sie wurde von der internationalen Presse zum Buch des Jahres gekürt und liegt nun auch in deutscher Übersetzung vor.

Geldheirat, Prostitution, der Aufstieg der öffentlichen Meinung, Urbanisierung, religiöse Toleranz, das Entstehen einer neuen Massenkultur, Medienrevolution, Öffentlichkeit und Philanthropismus sind die zentralen Kategorien und Stichworte, mit denen der Autor ein farbenreiches und nicht immer widerspruchsfreies Bild der Kultur der Aufklärung und ihrer Folgen für die Entstehung der sexuellen Freiheit zeichnet. Die Geschichte der ersten sexuellen Revolution in England – darauf beziehen sich die Ausführungen, ohne dass dies im Titel erwähnt wird – beginnt mit Strafe und Sanktionen durch Staat und Kirche, denn sexuelle Disziplinierung und Lebensstrukturen waren in der Vormoderne eng verflochten und tief in der christlich-mittelalterlichen Ablehnung von Sexualität verwurzelt. Der Autor beschreibt eine stringente Entwicklungsgeschichte; der zuweilen etwas eindimensional geratenen Erzähldynamik kann sich der Leser nur schwer entziehen: Strenge Gesetze zur Verhinderung von außerehelicher Sexualität, Ehebruch und Unmoral, schwere Sanktionen gegen Übertreter und Androhung von Todesstrafen sowie die stetige Zunahme von Strafen wegen Sexualdelikten im Spätmittelalter und in der Frühen Neuzeit waren demnach die zentralen Signaturen einer liebes- und lustfeindlichen Umwelt, die schließlich in spektakulären und verstörenden Bestrafungen der Liebenden öffentlich inszeniert wurden (S. 19). Aber religiöse Entwicklungen zerstörten die Einheit des europäischen Christentums und führten zum allmählichen „Verfall und Untergang“ der Disziplinierungskultur (S. 46). Dabhoiwala zeichnet die Entfaltung der moralischen, religiösen und gesellschaftlichen Diskurse des 17. Jahrhunderts nach (Kapitel 2), die einem geistigen Erdbeben gleichgekommen seien, denn die Glaubensspaltung habe schließlich auch der sexuellen Toleranz den Boden bereitet (S. 94). Hauptkontroversen unter den geistigen Eliten betrafen einerseits die Frage, ob Sexualität Privatsache sei, und andererseits veränderte Vorstellungen über das Gewissen, Strafen und die Reichweite von Moralgesetzen. Als sich zunehmend die Auffassung durchsetzte, dass das menschliche Gewissen sich in religiösen Fragen nicht zwingen lasse, büßte auch die Bestrafung sexueller Vergehen viel von ihrer traditionellen Rechtfertigung ein, ohne dass damit freilich schon ein sichtbarer Rückgang der Strafpraxis zu beobachten war (S. 109). Weibliche Integrität hing jedoch auch im 18. Jahrhundert stark von Sexualität ab, eine uneheliche Schwangerschaft bedrohte das soziale Leben der Frauen fundamental, während männliche Promiskuität zunehmend akzeptiert wurde (S. 146). Zwar galt die Frau (den intellektuellen Eliten) bis weit in die Frühe Neuzeit noch als das lustvollere und schnell verführbare Geschlecht, im 18. Jahrhundert verkehrte sich diese Wahrnehmung aber ins Gegenteil (Kapitel 3). Frauen wurden nunmehr als Opfer hemmungsloser und libidinöser Männer (vornehmlich aus der Oberschicht) dargestellt (S. 180). Die Beschreibung weiblicher Leiden war in Literatur und Theater der Aufklärung und des 19. Jahrhunderts schließlich allgegenwärtig. Mit den neuen weiblichen Rollenbildern änderte sich auch die Einstellung zur Prostitution, auch weil Frauen sich jetzt als Romanautorinnen, Schauspielerinnen und Rezipientinnen in diesen Diskurs einbringen konnten.

Im vierten Teil beschreibt Dabhoiwala neue Geschlechterkonzepte, die Sexualität als Privatsache konzipierten. Anknüpfend an veränderte Vorstellungen von Klasse, Stand, Privileg, Reinheit und Macht stellten sich die Zeitgenossen Fragen nach den Ursachen von Prostitution und nach der Rolle von Umfeld und Herkunft. Was vordergründig als zivilisatorischer Fortschritt daher kam, entpuppte sich jedoch als eine weitere Bürde für das weibliche Geschlecht: die nunmehr konstatierte ‚natürliche’ sittliche Überlegenheit der Frauen sowie Konventionen der Höflichkeit machten sie zum beständigen Gegenstand sexuellen Interesses. Zugleich wurden Frauen für das zügellose Verhalten der Männer (mit)verantwortlich gemacht. Das führte zunächst zu weiteren Einschränkungen weiblichen Verhaltens, weil trotz aller Freiheitsdiskurse das Korsett der ‚naturgegebenen’ weiblichen Keuschheit nicht gelockert wurde (S. 223f.). Der allgemeinen Überzeugung einer engen Beziehung von Keuschheit und Klassenzugehörigkeit folgten Erziehungskonzepte, die die weibliche Sexualität unterdrückten, während die ‚Lüsternheit’ der Männer allenfalls beklagt wurde (S. 241). Die Entsexualisierung der Frau verschärfte soziale und sexuelle Vorurteile, und die seit dem 18. Jahrhundert einsetzende feministische Kritik stärkte zugleich die patriarchalische Macht der Männer. Ihre Nachwirkungen begleiten uns, so der Autor, noch heute (S. 278).

Im fünften Kapitel widmet sich der Autor der Einrichtung der sogenannten Magdalenenheime (Magdalen Houses), Besserungsanstalten für ‚gefallene’ Frauen und Prostituierte. Das erste dieser Häuser wurde 1750 in Dublin gegründet und steht für eine weitere Ausdrucksform der neuen Pluralität der Einstellungen zur (vorehelichen) Sexualität, Moral und Prostitution. Die Häuser waren Ausdruck eines allgemein gewordenen Philanthropismus gehobener Gesellschaftsschichten und der Überzeugung geschuldet, dass das Strafrecht kein geeignetes Mittel zur Beseitigung der Unmoral sei (S. 291). Der Alltag in diesen Häusern war geprägt von religiösen Unterweisungen und (harter) Arbeit, denn fehlende Erwerbsarbeit und Armut wurden als wichtigste Ursache für das Abgleiten in einen sündhaften Lebenswandel identifiziert. Einzelne Erfolgsbiographien konnten über die Erfolglosigkeit des Fürsorgekonzeptes nicht hinwegtäuschen, aber die Rettung gefährdeter Frauen wurde zur Obsession und zur nationalen Aufgabe stilisiert, deren Grundprinzipien noch heute als Leitmotiv von Gesellschaft und Staat anerkannt sind (S. 336).

Wie eng die Entwicklung der sexuellen Freiheit mit der Ausweitung der Medien im 18. Jahrhundert im Zusammenhang steht, zeigt Kapitel 6. Zwar kursierten bereits ein Jahrhundert zuvor Bilder, Texte und Druckgraphiken mit anzüglichen und pornographischen Inhalten, ihr Gebrauchsradius war jedoch begrenzt. Mit der Ausweitung des Druck- und Pressewesens konnten Medienerzeugnisse einem immer breiteren Publikum zugänglich gemacht werden (S. 355). Kurtisanen der gehobenen Gesellschaftsschicht wurden die Celebrities ihrer Zeit und sorgten, wie etwa die berühmte Kurtisane Sally Salisbury, mit ihrer durch Journale und Zeitungsberichte gesteigerten Publizität dafür, dass ihr Lebenswandel zunehmend bekannt und auch akzeptiert wurde. Die bis heute große Faszination von Sex und Prominenz in den Medien wurde, so der Autor, im 18. Jahrhundert begründet (S. 374). Es entstand ein großer Markt für Erotika, fiktive Briefe und biographische Beschreibungen über bekannte Schauspielerinnen und Prostituierte, nicht selten von Männern gefälscht, um zu unterhalten, aber auch als politische Waffe gegen prominente Zeitgenossen eingesetzt (S. 401). Es verwundert daher nicht, dass Charles Dickens große Anstrengungen unternahm, um sein Verhältnis vor den ersten Auswüchsen des Sensationsjournalismus zu verheimlichen. Die neue Offenheit hatte jedoch weiterhin Grenzen: Unverheiratete Mütter und Homosexualität blieben auch nach der ‚ersten sexuellen Revolution’ lange Zeit noch geächtet, und es war primär die Lust heterosexueller weißer und vermögender Männer, die gefeiert wurde. Sie konnten unverheiratet, wie etwa Sir Francis Dashwood, ihre Beziehungen in speziellen Männerclubs ausleben (S. 409), während Homosexualität als Persönlichkeitsstörung eingestuft und verfolgt wurde (S. 426).

Die kenntnisreiche Schilderung der vielfältigen Einflüsse auf den gesellschaftlichen Wandel macht die Lektüre zu einem interessanten ‚Spaziergang’ durch das Jahrhundert der Aufklärung. In der Vielfalt liegt jedoch auch eine Schwäche des Buches, denn sie wirkt zuweilen beliebig, wenn es darum geht, die Gründe für die ‚Revolution’ des sexuellen Verhaltens seit der Aufklärung plausibel zu machen. Überdies wird das Fachpublikum eine systematische Darlegung der Untersuchungsmethode und des Quellenmaterials sowie einen aussagekräftigen wissenschaftlichen Apparat vermissen. Diese Einschränkungen schmälern den Lektüregewinn jedoch nur wenig, denn gerade in den Bezügen zur Gegenwart entfalten die Befunde ihre besondere Wirkung: Die Grundlagen der Repression sind in anderen Teilen der Welt heute ähnliche wie die vor der europäischen Aufklärung: Die theokratische Autorität heiliger Texte und heiliger Männer, die Herabsetzung der Frau qua Geschlecht und die Intoleranz gegenüber religiösem und gesellschaftlichem Pluralismus sowie Furcht vor sexueller Freiheit, gegründet auf der Überzeugung vom alleinigen Recht der Männer auf Herrschaft.

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