F. Barbierato: The Inquisitor in the Hat Shop

Cover
Titel
The Inquisitor in the Hat Shop. Inquisition, Forbidden Books and Unbelief in Early Modern Venice


Autor(en)
Barbierato, Federico
Erschienen
Farnham 2012: Ashgate
Anzahl Seiten
430 S.
Preis
€ 96,97
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Mona Garloff, Historisches Institut, Universität Stuttgart

1709 hatte sich Nicolò Natali auf Anzeige des Inquisitors in Belluno vor dem Sant’Uffizio in Venedig zu verteidigen. Nicht die Tatsache, dass sich der aus Dalmatien stammende Natali als Arzt ausgegeben hatte, sondern seine religiösen Ansichten hatten ihn in Bedrängnis gebracht. So hatte er die menschliche Seele mit dem einem Kochtopf entströmenden Wasserdampf verglichen, der nach dem Kochprozess vergeht. Dieses anschauliche Bild hatte schnell Verbreitung gefunden und war auf dem lokalen Marktplatz und anderenorts diskutiert worden. Vor dem Inquisitionsgericht beteuerte Natali seine Rechtgläubigkeit. Das Infragestellen der römisch-katholischen Lehre hatte keine weiteren Konsequenzen für ihn, und er wurde nach dem Verhör mit einer Verwarnung entlassen.

Dieser Inquisitionsfall und eine Vielzahl weiterer Beispiele, in denen Barbiere, Buchhändler, Handwerker, Nonnen oder Priester ihre religiösen Ansichten vertreten, bilden die reiche Quellenbasis von Federico Barbieratos vorliegender Studie. Das Buch beschäftigt sich mit vielfältigen Formen des Glaubens und Unglaubens und Fragen religiöser Devianz in der Republik Venedig im Zeitraum der 1640er- bis 1740er-Jahre. Der Übersetzung zugrunde liegt Barbieratos 2006 erschienenes Werk „Politici e ateisti. Percorsi della miscredenza a Venezia fra Sei e Settecento“.

Barbierato zeichnet mit profunder Kenntnis der archivalischen Überlieferung ein dichtes Profil der Glaubensansichten in der Stadt Venedig und der Terraferma, wie es für Vergleichsfälle kaum durchführbar sein dürfte. In fünf thematisch gegliederten Kapiteln wird Venedig zunächst als Ort des kulturellen und religiösen Austauschs untersucht. In Kaffeehäusern, botteghe di acquavite, Barbierläden wie auch auf der Piazza San Marco und in häuslichen gesellschaftlichen Kreisen wurden politische und religiöse Ansichten diskutiert. Diese Orte förderten auch die Verbreitung heterodoxer Ideen, da hier Menschen unterschiedlicher sozialer Schichten aufeinandertrafen. Die jeweiligen Positionen wurden von einem Amalgam kursierender religiöser Standpunkte genährt. Barbierato schreibt der öffentlichen Äußerung und Diskussion individueller Glaubensansichten im 17. Jahrhundert eine hohe Bedeutung zu: „The new factor in the period of question was the social role assumed by such elements and manifestations. [...] Fragments of these doctrines were expressed by individuals who now personally identified with an imaginary society of nonconformists rather than with the Church.“ (S. xxv) Solche Positionen wurden nur mittelbar durch den Wissenserwerb aus Büchern geprägt, sondern vielmehr durch mündliche Kommunikation. Es entstand eine Art „patchwork philosophy“ (S. xxiii). Im Titel der englischen Übersetzung werden zu starke Akzente auf die Rolle der schriftlichen Wissensverbreitung gesetzt. Die Bedeutung des Buchhandels in Venedig etwa wird am Beispiel von Giovanni Giacomo Hertz und Stefano Combi nur punktuell betrachtet.

Selbst in Buchläden fand man sich nicht nur zum Kauf von Büchern ein, sondern vor allem, um über sie zu sprechen. Häufig waren solche Diskussion über entsprechende Werke der Ausgangpunkt: heterodoxe Positionen wurden sodann aus dem gelehrten Kontext gelöst, radikalisiert und fanden in weiteren städtischen Kreisen Verbreitung. Themen wie die Unsterblichkeit der Seele waren dabei wiederkehrend, es ging darum, möglichst originelle Argumentationswege zu finden und sich einer bildhaften Sprache zu bedienen, wie das eingangs gewählte Beispiel demonstriert.

Gelungen werden im Buch Zusammenhänge zwischen dem wachsenden Informationsmarkt des 17. Jahrhunderts, dem kommunikativen Prozess über politische Nachrichten und der Ausprägung individueller (a)religiöser Standpunkte aufgezeigt. Eine zentrale Frage der Studie ist, wie Unglaube zu einem sozial übergreifenden Phänomen im 17. Jahrhundert werden konnte und welche Mechanismen des Wissenstransfers hier wirkten. Barbierato greift auf Forschungsdebatten zurück, die im Zusammenhang mit Carlo Ginzburgs Arbeit zum Inquisitionsfall des Müllers Menocchio aus Montereale geführt wurden.1 Wie bildeten sich heterodoxe oder atheistische Glaubensvorstellungen unter Vertretern des ,einfachen Volks‘ aus? Die Ausgangslage im Friaul des 16. Jahrhunderts unterscheidet sich dabei deutlich von der Venedigs im 17. und frühen 18. Jahrhundert: „In a certain sense, in the special urban context of Venice, the problem was not so much the presence of a person like Menocchio but the fact that there where hundreds of similar figures divulging statements, ideas, depictions and visions of the world, which each individual then interpreted for himself.“ (S. 171f.)

Das Buch widmet sich schließlich der Rolle heterodoxer Bücher und entsprechender Zensurmaßnahmen. Besonders in den beiden letzten Kapiteln werden die komplexen Rahmenbedingungen deutlich, die der Handlungsfähigkeit des kirchlichen Inquisitionsgerichts, nicht zuletzt durch die staatliche Jurisdiktion, in der Republik Venedig enge Grenzen setzten. Als Institution trug es jedoch dazu bei, die gespannten Beziehungen zwischen Venedig und Rom zu entlasten.

Am Ende der vielen anschaulichen Beispiele steht die titelgebende, detailreiche Fallstudie zu Bortolo Zorzi: Der Hutmacher Zorzi war 1739 von der Inquisition angeklagt worden, in seinem Geschäft auf dem Campo della Fava regelmäßig Gesprächskreise zu atheistischen und anderen religionskritischen Themen veranstaltet zu haben. Die Teilnehmer, unter denen sich sowohl Adelige als auch einfache Kaufleute befanden, bedienten sich zum Zweck der gemeinsamen Lektüre der reich ausgestatteten Bibliothek im Hause Zorzis. Beim Durchsuchen der Bibliothek stießen die Inquisitoren 1741 auf 71 verbotene Texte. Ihr Verzeichnis bildet den Anhang des Buchs. Es ist sehr aussagekräftig für die Verfügbarkeit dieser Werke in Venedig und das Unvermögen der Zensurbehörden, die Zirkulation solcher Titel (häufig in handgeschriebener Kopie) zu kontrollieren. Es ist bedauerlich, dass in dem Verzeichnis editorisch nicht trennscharf zwischen ergänzten bibliographischen Angaben (bspw. Verlegern) und den transkribierten Informationen unterschieden wird. In einem vier Jahre währenden Prozess hatten sich Zorzi und ein Kollege stellvertretend für den Kreis zu verantworten. Die fünfjährige Freiheitsstrafe war mit Ende des Prozesses 1744 beinahe abgegolten.

Barbierato hat mit seiner Studie neue Zugänge zu frühneuzeitlichen Glaubenspraktiken geschaffen und der generell unterbeleuchteten Phase des 17. und frühen 18. Jahrhunderts einen stärkeren Eigenwert verliehen. Starre Kontinuitätslinien eines Aufklärungsnarrativs werden vermieden. Die untersuchte Phase, die Barbierato dennoch als „age of transition“ (S. xxxi) zwischen Reformation und Aufklärung beschreibt, sieht er durch einen rapiden Anstieg von abweichenden Glaubensvorstellungen, Irreligiösität und Skeptizismus im späteren 17. Jahrhundert geprägt. Solche Formen der Devianz weisen über den Bereich des Religiösen hinaus und werden von Barbierato als „libertine“ Vorstellungen beschrieben. Zwar wird der Forschungsbegriff des frühneuzeitlichen Libertinismus über das Buch hinweg fundiert reflektiert, es wird jedoch eine eigenständige Definition des beobachteten Phänomens vermisst (vgl. punktuell S. 97).2 Es geht in dem Buch weniger darum, eine Sonderrolle Venedigs herauszuarbeiten, als vielmehr Kommunikationspraktiken und Wege des frühneuzeitlichen religiösen Wissenstransfers zu erörtern, die über die gesellschaftlichen Eliten – und damit das ältere Paradigma der „libertinage érudit“ – hinaus verfolgt werden können. Seit ihrer Erstpublikation vor zehn Jahren hat Barbieratos faszinierende Studie der Forschung zu frühneuzeitlicher religiöser Devianz wichtige Impulse gegeben, im deutschsprachigen Bereich hat sie bislang, selbst in ihrer englischen Übersetzung, leider nur vereinzelt angemessene Resonanz erfahren.

Anmerkungen:
1 Ginzburg, Carlo, Il formaggio e i vermi. Il cosmo di un mugnaio del '500, Turin 1976, deutsch: Der Käse und die Würmer. Die Welt eines Müllers um 1600, Frankfurt am Main 1979.
2 Vgl. für eine forschungsgeschichtliche Verortung Andreas Pietsch, Libertinage érudit, Dissimulation, Nikodemismus. Zur Erforschung gelehrter Devianz, in: Herbert Jaumann / Gideon Stiening (Hrsg.), Neue Diskurse der Gelehrtenkultur in der Frühen Neuzeit. Ein Handbuch, Berlin 2016, S. 163–196.

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