C. Niemeyer: Die dunklen Seiten der Jugendbewegung

Cover
Titel
Die dunklen Seiten der Jugendbewegung. Vom Wandervogel zur Hitlerjugend


Autor(en)
Niemeyer, Christian
Erschienen
Tübingen 2013: A. Francke Verlag
Anzahl Seiten
272 S.
Preis
€ 29,99
Rezensiert für die Historische Bildungsforschung Online bei H-Soz-Kult von:
Lukas Möller, Institut für Erziehungswissenschaft, Universität Kassel

Im Jahr 2013 feierte die deutsche Jugendbewegung das 100. Jubiläum ihres Ersten Freideutschen Jugendtages – ein faktisch unspektakuläres Treffen von Studierenden, Lebensreformern und Wandervögeln auf dem (seit jenen Tagen so bezeichneten) Hohen Meißner bei Kassel, das im Nachgang zu einem gemeinsamen Referenzereignis der durchaus heterogenen Bewegung konstruiert wurde. Einige Publikationen, darunter die Personengeschichte „Jugendbewegt geprägt“1, initiiert durch Akteure aus dem Umfeld des Archivs der deutschen Jugendbewegung, sowie eine Ausstellung im Germanischen Nationalmuseum Nürnberg haben dieses Jubiläum begleitet. Christian Niemeyer, der als ausgewiesener Kenner der Jugendbewegung dennoch nicht zum genannten Kreis gehört, hat mit „Die dunklen Seiten der Jugendbewegung. Vom Wandervogel zur Hitlerjugend“ im Herbst 2013 nun ebenfalls eine Personengeschichte der deutschen Jugendbewegung vorgelegt. Die Anlage als Personengeschichte ist dabei der Intention seines Vorhabens geschuldet. Niemeyer möchte nämlich mit seiner Darstellung zweierlei belegen: Zum einen seien über biografische Verläufe und Haltungen die Kontinuitätslinien zwischen Jugendbewegung bzw. Bündischer Jugend und Nationalsozialismus zweifelsfrei nachzuweisen, zum anderen bestimmte Personen dafür verantwortlich, dass nach 1945 eine Geschichte der Jugendbewegung geschrieben und tradiert wurde – die bis heute nachwirkt und teils noch immer Gültigkeit beansprucht –, in der systematisch und bewusst das völkische, antisemitische und antidemokratische Erbe der Bewegung verschleiert oder klein geredet wird.

Niemeyer, so machen Einleitung und erstes Kapitel deutlich, übersieht nicht, dass es bereits eine Diskussion über die Frage nach der Verbindung von Jugendbewegung und Nationalsozialismus gibt. Er selbst ist seit Jahren an ihr beteiligt.2 Dennoch beobachtet Niemeyer, dass noch immer seltsam zurückhaltend oder abwiegelnd vom Zusammenhang von Jugendbewegung und Nationalsozialismus gesprochen und geschrieben werde. Er stellt deshalb die Frage, ob dem Darüber-Hinwegsehen trotz umfassenden Wissens über biografische Verläufe und persönliche Verstrickungen nicht ebenfalls persönliche und biografische Motive einiger Akteure der Jugendbewegungsforschung zugrunde liegen – und das bis heute. In diesem Zusammenhang verweist er immer wieder auf Jürgen Reulecke, dem er vorwirft, zu nachsichtig oder einvernehmlich mit den Belasteten und Verschweigern zu sein (zum Beispiel S. 12f., 40, 199, 201). Die weitaus bedeutendere Person in Niemeyers Buch allerdings ist Werner Kindt (zur Person: S. 38–52), der mit der von ihm verantworteten dreibändigen Quellen- und Einführungsreihe „Dokumentation der Jugendbewegung“3 in den 1960er- und 1970er-Jahren die weitere Lesart für das Phänomen Jugendbewegung vorgegeben hat. Kindt und andere Verantwortliche, so hat Niemeyer früher bereits akribisch nachgewiesen (in diesem Buch: Kapitel 2), haben durch Auslassungen und selektive Quellenauswahl der „nachfolgenden Generation ein politisch geschöntes bzw. seinen Vorstellungen entsprechendes Bild der Jugendbewegung hinterlassen wollen“ (S. 63) – weitgehend frei von dunklen Seiten. Dies sei besonders in Abgrenzung zur kritischen Geschichtsschreibung von Walter Laqueur4 und Harry Pross5 geschehen, die beide die dunklen Seiten der Jugendbewegung erkannt hätten, deren Erkenntnis jedoch für die Zukunft relativiert werden sollte. Auch wenn Niemeyers Aussagen zum Teil nicht neu sind: Die Fülle an Belegen und aufgezeigten Verstrickungen, die er nachweisen kann, beeindrucken und bedrücken zugleich, denn der Einfluss der Kindt-Edition auf das allgemeine Verständnis der Jugendbewegung ist bis heute keinesfalls zu unterschätzen. In diesem zweiten, wie in anderen Kapiteln, macht Niemeyer überdies deutlich – und in dieser Massierung ist die Sachlage sicher neu –, dass viele Verantwortungsträger und einflussreiche Personen der Jugendbewegung der Jahre nach 1945 zuvor überzeugte Nationalsozialisten gewesen waren. Niemeyer hat mit seiner Empörung darüber insoweit Recht, als dies, ganz abgesehen von den Manipulationen der Geschichte nach 1945, ein Beweis für eine über die „Verführung“6 hinausgehende Verbindung von bündischer Haltung und NS-Ideologie ist.

Die Kapitel 3, 4 und 5 widmen sich den „dunkeln Seiten der Jugendbewegung“ in deren frühen Geschichte. Dies ist durchaus eine Besonderheit7, gilt die erste Phase der Jugendbewegung – die Wandervogelzeit – von etwa 1896 bis 1914 (bzw. 1918) doch recht einhellig als politisch harmlos. Niemeyer stellt diese Lesart nicht auf den Kopf, verweist aber auf Paten des Wandervogels (zum Beispiel Heinrich Sohnrey; S. 70ff.) und kritische Entwicklungen von wichtigen jugendbewegten Akteuren der frühesten Phase (Hermann Hoffmann, Hans Blüher, Karl Fischer, Hans Breuer). Des Weiteren widmet sich Niemeyer den angeblichen und tatsächlichen „Ziehvätern“ der Jugendbewegung Nietzsche, Langbehn und de Lagarde, wobei der Nietzscheforscher Niemeyer (Laqueur folgend) klarzustellen versucht, dass Nietzsche wenig, der Antisemit de Lagarde umso mehr Einfluss auf die Jugendbewegung gehabt habe (S. 86–118).

Das sechste Kapitel widmet sich dann der Frage, warum der faktisch wenig spektakuläre Erste Freideutsche Jugendtag anschließend zu einem kräftigen, bis heute ungebrochenen Mythos ausgebaut wurde (S. 177). Niemeyers Antwort: Die nachträgliche Deutung als politikfreies Fest des Friedens und der unabhängigen Jugend sollte helfen, die Jugendbewegung von den politischen Wirren des Weltkriegs und der Weimarer Jahre zu trennen. Außerdem kann Niemeyer sehr facettenreich darstellen, wie die Meißnerformel8 gerade aus einem breiten nationalistischen und völkischen Lager innerhalb der Jugendbewegung aufgrund ihrer Freiheits- und Unabhängigkeitsbekundung auf verschiedenste Weisen bekämpft und durch alternative Formulierungen abgelöst wurde, nach 1945 aber (auch) aus taktischen Gründen zur Ehrenrettung der Jugendbewegung (zum Beispiel durch Herman Nohl) wiederbelebt worden sei, was (gewollt oder ungewollt) ebenfalls eine Debatte um das dunkle Erbe mitverhindern half (S. 179ff.).

In Kapitel 7 schließlich möchte Niemeyer noch einmal gesondert aufzeigen, dass der Untertitel „Vom Wandervogel zur Hitlerjugend“ seine Berechtigung hat. Niemeyer nennt viele Namen Jugendbewegter, die als Nationalsozialisten aktiv waren oder gegen den Nationalsozialismus gearbeitet haben und konstatiert: „Was sagen uns Namen wie diese? Doch, nüchtern betrachtet, nicht mehr und nicht weniger, als dass es doch Alternativen gab und daraus zumindest zu lernen gewesen wäre, wenigsten nach 1945 zu eigener Schuld und Verantwortung zu stehen und für Aufklärung zu sorgen.“ (S. 205) Viele Jugendbewegte hätten den Nationalsozialismus als „Vollendung ihres Sehnens“ (S. 203) gesehen und bereits vor 1933 im gleichen ideologischen Lager wie die Nazis gestanden. Die bündische Zeit deshalb säuberlich vom Nationalsozialismus zu trennen – das kann Niemeyer verdeutlichen – ist wenig sinnvoll und wirft eher Fragen nach den Motiven der Historiker auf, denen an einer solchen Trennung gelegen ist.

Niemeyers kurzer Epilog (S. 206–208) fasst abschließend noch einmal die zentralen Anliegen des Buches zusammen. Nach Laqueur, Pross und wenigen anderen frühen Werken9 habe es (zu) viele Unternehmungen gegeben, die die hellen Seiten der Jugendbewegung betonten. Seine Arbeit habe nun die dunklen Seiten der Bewegung „dem Licht der neueren Forschung“ (S. 207) aussetzen wollen. Niemeyers hauptsächliche Intention ist dabei nicht, wie er selbst betont, die Jugendbewegung in Misskredit zu bringen. Sie habe, wie materialgesättigt nachgewiesen wird, vor 1945 aus heutiger Perspektive „Schuld“ auf sich geladen, aber eben auch ihre lichten Momente gehabt. Doch diese frühere, erste „Schuld“ allein ist es nicht, die Niemeyer interessiert: „Zu sprechen ist von einer zweiten Schuld, resultierend aus Unbelehrbarkeit und dem fehlenden Mut von Veteranen, die Fehler von damals zu bekennen und ersatzweise an allen nur möglichen Stellen zu beschwichtigen, zu relativieren und abzuleugnen. Einiges aus dem Vorhergehenden spricht gar dafür, einem Teil der heute in der Burg Ludwigstein agierenden Alterskohorte der zwischen 1935 und ca. 1955 geborenen Jugendbewegungshistoriographen infolge falsch verstandener Pietät oder wegen zu großer Nähe zum Gegenstand eine, so betrachtet, dritte Schuld aufzuladen.“ (S. 206)

Christian Niemeyers Buch ist teils überfüllt mit Namen und Ereignissen, sodass der interessierte Leser oder die interessierte Leserin bisweilen die Übersicht verlieren könnte, ganz sicher wird es Einigen in der Wortwahl zu polemisch und in der Aufmachung zu reißerisch sein, andere werden eine Abrechnung hinter seiner Personengeschichte vermuten. Dennoch: Niemeyer verschleiert von Beginn an nicht, dass er als ein Aufklärer (S. 17) mit persönlichem Eifer (S. 5) am Werk ist. Wer diese Form der kritischen Forschung nicht grundsätzlich ablehnt, wird der argumentativen Wucht, die sein Buch entwickelt, einiges abgewinnen können – zumal sie auf einer ausgezeichneten Kenntnis der Sach- und Quellenlage beruht. Was den Wert des Buches für die Wissenschaft als eine von und aus der Kritik lebende Zunft angeht, gilt: Niemeyers Publikation wird nicht nur in Erinnerung bleiben, weil die dunklen Seiten der Jugendbewegung überaus gründlich dargelegt werden, sondern weil er mit seinem Buch die bisher mehrheitlich vollzogene Art der Geschichtsschreibung der Jugendbewegung grundsätzlich in Frage stellt. Es ist auch deshalb die bemerkenswerteste Publikation zur Jugendbewegung des Jubiläumsjahres 2013.

Anmerkungen:
1 Barbara Stambolis (Hrsg.), Jugendbewegt geprägt. Essays zu autobiographischen Texten von Werner Heisenberg, Robert Jungk und vielen anderen, Göttingen 2013.
2 Beispielsweise: Christian Niemeyer, Jugendbewegung und Nationalsozialismus, in: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte, Nr. 57, Leiden 2005, S. 337–365; ders., Werner Kindt in seiner Eigenschaft als Chronist der Jugendbewegung, in: Gisela Hauss / Susanne Maurer (Hrsg.), Migration, Flucht und Exil im Spiegel der Sozialen Arbeit, Bern 2010, S. 227–248. Zu diesem Thema siehe auch: Ann-Katrin Thomm, Alte Jugendbewegung, neue Demokratie. Der Freideutsche Kreis Hamburg in der frühen Bundesrepublik Deutschland, Bad Schwalbach 2010; Alexander Schmidt, „Gegner von Gestern“? Jugendbewegung und Hitlerjugend, in: Germanisches Nationalmuseum Nürnberg (Hrsg.), Aufbruch der Jugend. Deutsche Jugendbewegung zwischen Selbstbestimmung und Verführung, Nürnberg 2013, S. 128–136.
3 Werner Kindt (Hrsg.), Grundschriften der deutschen Jugendbewegung, Düsseldorf 1963; ders. (Hrsg.), Die Wandervogelzeit – Quellenschriften zur deutschen Jugendbewegung 1896–1919, Düsseldorf 1968; ders. (Hrsg.), Die deutsche Jugendbewegung 1920 bis 1933. Die bündische Zeit. Quellenschriften, Düsseldorf 1974.
4 Walter Z. Laqueur, Die deutsche Jugendbewegung. Eine historische Studie, Köln 1962.
5Unter anderem: Harry Pross, Nationale und soziale Prinzipien in der Bündischen Jugend, Heidelberg 1949.
6 Der mit Einführungen versehene Ausstellungskatalog zur Ausstellung „Aufbruch der Jugend“ in Nürnberg führt den Untertitel „Deutsche Jugendbewegung zwischen Selbstbestimmung und Verführung“ (Nürnberg 2013).
7 Ebenfalls thematisiert in: Winfried Mogge, „Ihr Wandervögel in der Luft…“ Fundstücke zur Wanderung eines romantischen Bildes und zur Selbstinszenierung einer Jugendbewegung, Würzburg 2009.
8 „Die Freideutsche Jugend will aus eigener Bestimmung, vor eigener Verantwortung, mit innerer Wahrhaftigkeit ihr Leben gestalten. Für diese innere Freiheit tritt sie unter allen Umständen geschlossen ein.“
9 Beispielsweise: Arno Klönne, Hitlerjugend. Die Jugend und ihre Organisation im Dritten Reich, Hannover 1955.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit der Historischen Bildungsforschung Online. (Redaktionelle Betreuung: Philipp Eigenmann, Michael Geiss und Elija Horn). https://bildungsgeschichte.de/
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