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Titel
Quellen des Mittelalters. Historische Quellen interpretieren


Autor(en)
Brauer, Michael
Reihe
UTB M (Medium-Format) 3894
Erschienen
Paderborn 2013: Ferdinand Schöningh
Anzahl Seiten
153 S.
Preis
€ 14,99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jan Clauß, Historisches Seminar, Westfälische Wilhelms-Universität Münster

Mit „Quellen des Mittelalters“ ist von Micheal Brauer ein weiterer Band für die UTB Reihe „Historische Quellen interpretieren“ vorgelegt worden. Die sechs Einzelkapitel des Hauptteils wenden sich den typisch mittelalterlichen und zugleich so verschiedenartigen Textgattungen wie Urkunden, Verwaltungsschrifttum, Inquisitionsakten, Offenbarungsliteratur, Geschichtsschreibung und Reiseberichten zu. Ein einleitendes Kapitel, knappe Schlussbemerkungen sowie ein Glossar objekt- und metasprachlicher Begriffe runden das Werk ab.

Gemessen am geringen Seitenumfang von nicht einmal 130 Textseiten leistet Brauers Einführung Erhebliches: „Der vorliegende Band geht von der in Lehre und Forschung erprobten Auffassung aus, dass Theorie und Praxis Hand in Hand gehen. […] Dieser Band soll Studierende und Lehrende dabei unterstützen, die Möglichkeiten neuerer Forschungsansätze kennenzulernen und die Interpretation von Quellen zu einem kreativen Prozess zu machen“ (S. 6). Im Allgemeinen ist dieses Vermittlungsanliegen als gelungen anzusehen. Tatsächlich schließt der Band in der Reihe von Einführungen, Überblicksdarstellungen und propädeutischen Handbüchern mit primär studentischem Adressatenkreis insofern eine Lücke, als dass in „Quellen des Mittelalters“ nicht nur über den Stellenwert zentraler Quellengattungen innerhalb der mittelalterlichen Lebenswelt und Schriftpraxis orientiert wird, sondern dass dabei durchgehend die erkenntnisleitende Relevanz von Theoriebildungen und die damit einhergehende Notwendigkeit kritischer Methodenreflektion verdeutlicht werden. Indem Brauer Quelleninterpretation und geschichtswissenschaftliche Erkenntnisinteressen, die die Auseinandersetzungen mit den jeweiligen Quellentypen geprägt beziehungsweise überhaupt erst motiviert haben, kombiniert behandelt, kann er vor Augen führen, wie unaufhebbar das Arbeiten an der konkreten Quelle und die strukturierende Theorie aufeinander bezogen sind. Dagegen werden in vergleichbarer propädeutischer Literatur Quellenkunde und -interpretation sowie Ausführungen zur Historik aus systematisierenden Gründen häufig separat thematisiert, wodurch Studierenden der Eindruck unverbundener Aufgabenfelder entstehen mag.1

Diesem methodisch-reflektierenden Ziel verdankt sich auch die Zusammenstellung der im Band vorgestellten Quellengattungen. Es werden bewusst Leitquellen der ‚klassischen' Geschichtswissenschaft (Urkunden, Historiographie) sowie der rezenten Forschung (z.B. Inquisitionsakten, Reiseberichte) zusammengestellt, um damit einerseits aktuelle Forschungstrends vorzustellen, andererseits, um zu verdeutlichen, dass sich mittels neuer Frageperspektiven auch an einem locus classicus neue Erkenntnisse gewinnen lassen beziehungsweise alte Gewissheiten fraglich werden. In der Einleitung zeichnet Brauer in breiten Strichen Genese und Entwicklung der modernen (deutschen) Geschichtswissenschaft nach. Dazu werden die Herausbildung eines festen Methodenkanons, die universitäre Verankerung der Disziplin und Schaffung wichtiger Institutionen (Monumenta Germaniae Historica, Regesta Imperii) umrissen, die zur Entstehung einer prädominant rechts- und verfassungsgeschichtlich ausgerichteten Geschichtswissenschaft geführt hätten. Mit dieser verbänden sich typische Interpretationsverfahren, die im weiteren Fortgang des Buches als ‚klassisch' bezeichneten werden. Dieser ‚klassischen' Mediävistik werden dann unter der Überschrift: „Infragestellung und Erweiterung des Kanons durch neue Forschungsansätze“ seit den 1970er-Jahren durch Sozial-, Alltags-, Mentalitätsgeschichte, schließlich durch die unter dem Oberbegriff der Kulturgeschichte firmierenden Ansätze erbrachte Teilrevisionen und methodische Innovationen gegenübergestellt. Brauer entwickelt damit den inhaltlichen Zuschnitt für die Kapitel des Hauptteiles, indem er die sich aus den Neuansätzen resultierenden Verschiebungen in Fragestellungen, Heuristik und einer neuen Einstellung gegenüber den Quellen benennt. Insgesamt wird aber der konstatierte Gegensatz zwischen ‚alter' und ‚neuer' Geschichtswissenschaft im Band wohl aufgrund der komprimierten Darstellung als zu drastisch, zu grundsätzlich geschildert.2

Die Einzelkapitel folgen einem einheitlichen Aufbau. Zunächst stellt ein Abschnitt zu „Genese und Gebrauch“ die jeweilige Quellengattung in ihrer historischen Entstehung, ihrem mittelalterlichen Verwendungskontext sowie ihrem von der älteren Forschung beigemessenen Aussagewert vor. Diese quellenkundlichen Grundlagen werden im Fortgang der Kapitel erweitert. Dazu schließt sich ein Teilkapitel „Neuere Forschungsansätze“ an, das in übersichtliche Abschnitte gegliedert Stationen der zumeist kulturhistorisch beeinflussten Auseinandersetzung mit einer Quellengruppe beleuchtet. Dabei wird immer auch nachvollziehbar geschildert, welche neuen Horizonte sich durch die Erprobung wechselnder Methoden an altbekannten oder neu entdeckten Textquellen eröffnen. Um diesen Konnex zu konkretisieren, findet sich zum Abschluss jedes Kapitels ein zweisprachiger Quellenauszug, der unter den Gesichtspunkten der im Kapitel vorgestellten Ansätze interpretiert wird. Sich auf drei Titel beschränkende, kommentierte Leseempfehlungen und „Leitfragen für die Interpretation“ runden die Einzelkapitel ab. Letztere sind nach den Überschriften „klassische“ Quellenkritik und „Neue Ansätze“ gruppiert, was die übergreifende Struktur des Werkes widerspiegelt aber zum Teil eine Verkürzung der Erkenntnisinteressen und besonders Erträge der älteren Forschung darstellt. Zudem werden damit die idealtypisch zu trennenden Arbeitsschritte Quellenerschließung, zu der die Quellenkritik gehört und Interpretation implizit in eins gesetzt.

Die Kapitel sind eigenständig gut lesbar. Wer das Buch allerdings in der Art eines Handbuches nur passagenweise konsultiert, den wird das Fehlen einiger Quellentypen irritieren. Zwar ist ein repräsentativer Querschnitt erzählender und dokumentarischer Quellen sowie Wege zu ihrer Erschließung gegeben, hingegen werden kulturgeschichtlich wichtige Gattungen beispielsweise Biographien, Briefe oder Dichtung ebenso wie gegenstandslose Quellen nicht vorgestellt. Besonders fällt aber das Fehlen von Sachquellen ins Gewicht, was durch einen klärenden Titelzusatz hätte angezeigt werden können. Dass den Realien in diesem Band kein Kapitel eingeräumt wird, verwundert angesichts des zunehmenden Interesses an dieser Quellengruppe in der aktuellen Forschung3 und umso mehr, da im Band selbst explizit auf die Ergebnisse der Gebrauchsforschung eingegangen wird. Besonders das Kapitel zur Urkundeninterpretation setzt einen Schwerpunkt auf Materialität und symbolische Kommunikation, bei der wiederum die Dimension sinnlich-ästhetischen also objektbezogenen Erlebens betont wird. Die exemplarische Auswertung von Artefakten unter kulturwissenschaftlichen Gesichtspunkten hätte die Aktualität des Bandes weiter unterstreichen und den Historikern zur Verfügung stehenden Schatz von Quellen und Perspektiven auf das Mittelalter bedeutend erweitern können.

Sprache und Darstellungsweise sind klar und dem Vermittlungsanliegen angemessen, auch wenn sich gelegentlich Passagen finden, deren Aussagegehalt wegen der konzentrierten Themendichte vage bleibt oder das Dargestellte zu sehr verkürzt.4 Während für geschulte Mediävisten zwar prägnant die Schlüsselbegriffe eines jeweiligen Themenkomplexes bereitgestellt werden und „Quellen des Mittelalters“ somit als handliche Anlaufstelle etwa zur Seminarvorbereitung dienen kann, steht zu befürchten, dass Studierende, denen Brauers Buch als Erstinformation dient, durch den schnellen Wechsel zwischen Betrachtungsebenen und Gegenständen bisweilen mehr irritiert als informiert werden. Oftmals kann der Band nur als ein erster Impulsgeber konsultiert werden, um die angesprochenen Zusammenhänge, besonders die eingebrachte Terminologie, im weiteren Selbststudium zu vertiefen.

Die im Band enthaltenen für die Quelleninterpretation relevanten quellenkundlichen Ausführungen werden bereits von einer Reihe gut zugänglicher Hilfsmittel bereitgestellt. Ebenso korrespondieren die Skizzierungen aktueller Forschungstendenzen mit Werken wie etwa Hans-Werner Goetz‘ Bestandsaufnahme „Moderne Mediävistik“.5 Trotz einer hohen Informationsdichte muss Brauer dabei eine Auswahl treffen und polyphone Debatten auf Kernpunkte reduzieren. Dazu wählt er treffsicher Hauptströmungen in der Erforschung einzelner Quellgattungen aus, benennt zentrale Akteure und die mit ihnen verknüpften Thesen. Dennoch muss der Informationsumfang der Darstellung immer wieder hinter dem vergleichbarer Werke zurückbleiben. Der Ertrag von „Quellen des Mittelalters“ ist stattdessen in der gelungenen Verdichtung zu sehen. So ist ein kompaktes, gut lesbares Hilfsmittel für die Seminarvorbereitung und -arbeit entstanden, in dem der Autor komplexe Sachverhalte praxisnah herunterbricht und an der exemplarischen Interpretation von Quellenauszügen zeigt, wie methodische-theoretische Ansätze in der eigenen Quellarbeit fruchtbar gemacht werden können.

Anmerkungen:
1 Vgl. beispielsweise Hans-Werner Goetz, Proseminar Geschichte: Mittelalter, 3. überarb. Aufl., Stuttgart 2006 (1. Aufl. 1993). Obgleich Hans-Werner Goetz mit Anmerkungen innerhalb des Werkes um Integration der Teilbereiche bemüht ist, neigt die Struktur dieses für das Proseminar sicherlich verbindlichen Werkes doch zu einer gewissen Zergliederung der einzelnen Abschnitte.
2 Zutreffender Goetz, Proseminar Mittelalter, S. 350.
3 Vgl. zur Beschreibung des aktuellen Standes und Formulierung von Desideraten in Forschung und Lehre: Jan Keupp / Romedio Schmitz-Esser, Mundus in gutta. Plädoyer für eine Realienkunde in kulturhistorischer Perspektive, in: Archiv für Kulturgeschichte 94, 1 (2012), S. 1–20, bes. S. 2–8.
4 Vgl. S. 122: Zur mediävistischen Auseinandersetzung mit dem Eurozentrismus durch transkulturelle Ansätze; S. 126: Die Gegenüberstellung moderner Ethnologie und des Reiseberichts Wilhelm von Rubruks.
5 Hans-Werner Goetz, Moderne Mediävistik. Stand und Perspektiven der Mittelalterforschung, Darmstadt 1999.

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