J. Zimmerer (Hrsg.): Kein Platz an der Sonne

Cover
Titel
Kein Platz an der Sonne. Erinnerungsorte der deutschen Kolonialgeschichte


Herausgeber
Zimmerer, Jürgen
Erschienen
Frankfurt am Main 2013: Campus Verlag
Anzahl Seiten
524 S.
Preis
€ 39,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Thomas Morlang, Ruhr Museum Essen

Im Jahr 2001 sorgten die von Étienne François und Hagen Schulze herausgegebenen „Deutschen Erinnerungsorte“ für Aufsehen.1 In drei Bänden präsentierten die beiden Berliner Historiker, inspiriert von Pierre Noras „Lieux de mémoire“, die 121 ihrer Meinung nach wichtigsten Bezugspunkte im kulturellen Gedächtnis der Deutschen.2 Enthalten sind so unterschiedliche Begriffe wie „Die Bundesliga“, „Der Bauernkrieg“, „Kinder, Küche, Kirche“, „Die Pickelhaube“ oder „Beethovens Neunte“. Unverständlicherweise war kein einziger Gedächtnisort aus der kolonialen Vergangenheit Deutschlands vertreten. Diese „koloniale Amnesie“ ärgerte den Historiker Jürgen Zimmerer, Professor für die Geschichte Afrikas an der Universität Hamburg. Denn die Phase, in der das Deutsche Reich auch Kolonien besaß, war mit rund 30 Jahren zwar nur sehr kurz, trotzdem hatten auch Ereignisse, Persönlichkeiten und Begriffe aus dieser Zeit Eingang in das kollektive Gedächtnis der Deutschen gefunden. Um diese Lücke nun endlich zu schließen, bat er 34 Wissenschaftler der verschiedensten Disziplinen – Afrikanisten, Historiker, Filmwissenschaftler, Germanisten, Ethnologen, Soziologen, Philosophen und Politikwissenschaftler – um einen Beitrag über einen kolonialen Erinnerungsort. Daraus entstand das hier vorzustellende Buch.

Der Sammelband beinhaltet insgesamt 32 Aufsätze (drei wurden von Autorenduos verfasst), von denen 30 einen Erinnerungsort vorstellen. Nach dem Vorbild der „Deutschen Erinnerungsorte“ wurde versucht, die Essays Oberbegriffen zuzuordnen. Die erste Rubrik „Vorstellungswelten“ umfasst Beiträge zur Südsee, zum Urwald, zum Kilimandscharo, zu Bernhard Grizmeks Dokumentarfilm „Die Serengeti darf nicht sterben“, zu den deutschen Kinofilmen „Der Tiger von Eschnapur“ und „Das indische Grabmal“ sowie zum Sarotti-Mohr. Unter „Weltpolitik“ werden die Berliner Afrika-Konferenz von 1884/85, die Krügerdepesche, die Hunnenrede, die Hottentotten-Wahlen, die Bagdadbahn sowie Tsingtau abgehandelt. Das dritte Kapitel „Institutionen“ vereint Aufsätze über das Völkerkundemuseum in Berlin, Hagenbecks Tierpark und Völkerschauen, das Hamburgische Kolonialinstitut, Albert Schweitzers Krankenstation Lambarene, die zahlreichen in Übersee wirkenden Missionare sowie über die afrikanischen Söldner in Deutsch-Ostafrika, die Askari. Es folgen die „Akteure“. Zu ihnen zählen Johann Wolfgang von Goethe, Alexander von Humboldt, Emin Pascha, Frieda von Bülow, Paul von Lettow-Vorbeck und Leo Frobenius. Der letzte Oberbegriff heißt „Denkmäler“ und beinhaltet Ausführungen über Kolonialdenkmäler allgemein, die Umbenennung des Gröben- in May-Ayim-Ufer in Berlin, über namibische Schädel in deutschen Museen, den Windhoeker Reiter sowie über das Schlachtfeld am Waterberg. Vorangestellt ist der Beitrag Jürgen Zimmerers, der engagiert und kenntnisreich in das Thema einführt. Den Band beschließt ein Beitrag des aus Kamerun stammenden Politikwissenschaftlers Jacob Emmanuel Mabe mit dem Titel „Afrika als Erinnerungsort und Erinnerungsarbeit: Eine philosophische Perspektive“.

Natürlich ist eine Auswahl wie diese immer subjektiv. Der Herausgeber betont denn auch, dass die präsentierten Erinnerungsorte nicht die 30 wichtigsten seien, sondern auch eine andere Zusammenstellung denkbar gewesen wäre. Die vorliegende Auswahl erfolgte mit dem Ziel, „auf repräsentative Weise die (post)koloniale Welt der Deutschen in ihrer ganzen Spannbreite“ (S. 33) abzubilden. Zimmerer bedauert zudem, dass angesichts des zur Verfügung stehenden Raumes im Gegensatz zu den „Deutschen Erinnerungsorten“ nur eine vergleichsweise geringe Zahl von Erinnerungsorten präsentiert werden konnte. Dennoch, so zeigt ein Blick ins Inhaltsverzeichnis, ist es ihm gut gelungen, die meisten wichtigen Gedächtnisorte des deutschen Kolonialismus unterzubringen. „Südsee“, „Kilimandscharo“, „Tsingtau“, „Paul von Lettow-Vorbeck“ oder „Hunnenrede“ sind wohl die Begriffe, die viele Deutsche auch heute noch mit Deutschlands kolonialer Vergangenheit verbinden. Der sicherlich bekannteste deutsche Kolonialkrieg, der Herero-Nama-Krieg in Deutsch-Südwestafrika, hat zwar keinen eigenen Eintrag, auf ihn wird aber in gleich drei Aufsätzen („Südwest“, „Der Windhoeker Reiter“, „Der Waterberg“) ausführlich eingegangen. Andere Erinnerungsorte dagegen wie beispielsweise die „Hottentotten-Wahlen“ oder „Frieda von Bülow“, eine Kolonialautorin und zeitweilige Geliebte von Carl Peters, erscheinen dagegen nicht zwingend notwendig zu sein, was die beiden Autoren Frank Becker und Marianne Bechhaus-Gerst in sympathischer Offenheit selbst zugeben. Becker beispielsweise schließt seinen Beitrag mit der Feststellung, dass „die ‚Hottentotten-Wahlen‘ zurzeit eher ein wissenschaftlicher als ein populärer Erinnerungsort“ (S. 188) seien. Bedauerlich ist, dass kein einziger Gedächtnisort Eingang gefunden hat, der mit den westafrikanischen Kolonien Kamerun und Togo in Zusammenhang steht.

Etwas verwundert registriert man, dass der Sammelband auch Aufsätze über „Goethes ‚West-östlicher Divan‘ und der Islam“, „Albert Schweitzers Lambarene“ oder „Der Sarotti-Mohr“ enthält. Suggeriert doch der Buchtitel „Kein Platz an der Sonne“ – eine Abwandlung der weltberühmten Forderung des Reichskanzlers Bernhard von Bülow nach Deutschlands Anspruch auf einen „Platz an der Sonne“ –, der Untertitel „Erinnerungsorte der deutschen Kolonialgeschichte“ sowie das Buchcover mit Briefmarken aus Deutsch-Südwestafrika, Deutsch-Ostafrika, Togo und Kamerun, dass es in dem Buch nur um Erinnerungsorte aus der Zeit geht, als Deutschland tatsächlich Kolonialmacht war. Doch geht Zimmerers Ansatz weit über die eigentliche deutsche Kolonialzeit hinaus, vielmehr wollte er, wie er es in der Einleitung formuliert, „den historischen Ort des Kolonialismus in der deutschen Geschichte erkunden“ (S. 10). Titel und Aufmachung führen da etwa in die Irre.

Wie immer bei solchen Aufsatzbänden sind die Beiträge von unterschiedlicher Qualität, manche sind lesenswerter als andere. Obwohl es strenge formale Vorgaben seitens des Herausgebers nicht gegeben zu haben scheint, folgen viele Aufsätze dennoch einem ähnlichen Muster: Nach einer kurzen Einleitung erfolgt ein mehr oder weniger ausführlicher Abriss der Realgeschichte des Erinnerungsortes sowie eine eingehende Beschreibung, wie der jeweilige Ort, die jeweilige Person usw. zu einem Fixpunkt des kulturellen Gedächtnisses der Deutschen wurde. Am Schluss eines jeden Aufsatzes findet sich eine Liste der verwendeten sowie für das Thema relevanten Literatur. Nicht alle Beiträge berücksichtigen den neuesten Forschungsstand. Ein Beispiel hierfür sind die Ausführungen von Reinhard Wendt über den Krieg gegen die Sokehs auf der Karolineninsel Ponape 1910/11 in seinem Aufsatz über die „Südsee“. So verbreitet er weiterhin die von der kaiserlichen Marine selbst in die Welt gesetzte Legende, dass sie es gewesen sei, die die Rebellion niedergeschlagen habe, obwohl mittlerweile bekannt ist, dass tatsächlich die melanesischen Polizeisoldaten sowie die ponapesische Hilfstruppen den weitaus größeren Anteil daran hatten.3 Zudem offenbart seine Beschreibung des Konflikts eine eurozentrische Sichtweise, die man in diesem kolonialkritischen Sammelband nicht erwartet hätte. Denn Wendt erwähnt mit keinem Wort, dass neben den vier deutschen Beamten auch fünf für die Kolonialmacht arbeitende Mikronesier von den Sokehs umgebracht wurden.

Bei jedem Buch lassen sich Fehler finden, wenn man nur lange genug danach sucht. Da macht dieser Band keine Ausnahme. Neben einigen Tippfehlern − statt „Wilhelmshafen“ müsste es beispielsweise „Wilhelmshaven“ heißen (S. 379) – gibt es kleinere sachliche Fehler. So wurde das deutsche Ostasiengeschwader nicht am 6., sondern erst am 8. Dezember 1914 vor den Falklandinseln vernichtet (S. 223). In die Irre führt auch der immerhin dreimal vorkommende Verweis auf den Buchbeitrag von Jens Ruppenthal über das Hamburgische Kolonialinstitut, wenn von dem Kolonialoffizier Hermann von Wissmann die Rede ist (S. 300, S. 383 u. S. 410). Tatsächlich sind in dem besagten Artikel bis auf die Lebensdaten überhaupt keine Informationen über Wissmann zu finden. Zu kritisieren ist darüber hinaus die manchmal für ein Sachbuch unangemessene Wortwahl. Es ist durchaus legitim, die Kriegsführung der deutschen Auslandskreuzer während des Ersten Weltkriegs kritisch zu sehen. In diesem Zusammenhang aber von „plündern“ der Handelsrouten und von einem „Raubzug“ (S. 223) zu schreiben, ist sicher unpassend.

Trotz der geäußerten Kritik kann das Buch allen an deutscher Kolonialgeschichte Interessierten uneingeschränkt empfohlen werden. Es bietet einen neuen Blick auf den Kolonialismus in der deutschen Geschichte, vermittelt viele Informationen auf engstem Raum und regt mit seinen Bezügen zur Gegenwart den Leser zum Nachdenken an. Trotz seines wissenschaftlichen Anspruchs sind die meisten Beiträge verständlich geschrieben, teilweise bieten sie sogar eine kurzweilige Lektüre. Es ist zu hoffen, dass Jürgen Zimmerers Wunsch, es möge bald für jede deutsche Kolonie einen eigenen Band mit den jeweiligen Erinnerungsorten geben, in Erfüllung geht.

Anmerkungen:
1 Étienne François/Hagen Schulze (Hrsg.), Deutsche Erinnerungsorte, 3 Bde., München 2001.
2 Pierre Nora (Hrsg.), Les lieux de mémoire, 7 Bde., Paris 1984–1992.
3 Siehe hierzu beispielsweise Alexander Krug, „Der Hauptzweck ist die Tötung von Kanaken“. Die deutschen Strafexpeditionen in den Kolonien der Südsee 1872–1914, Tönning 2005, S. 346f.

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